Regeln, die wir mit Beziehungen verbinden

Vergebung beginnt mit Offenheit und Mitgefühl. Ein Ich erzählt von seinem Schmerz und macht sich damit verletzlich. Ein Du hört offen zu, ohne sich verteidigen oder rechtfertigen zu müssen. »Vergebung ist das Gefühl von Frieden, das sich einstellt, wenn man eine Verletzung weniger persönlich nimmt, die Verantwortung dafür übernimmt, wie man sich fühlt, und in der Geschichte, die man erzählt, zum Helden und nicht zum Opfer wird.« So definiert Fred Luskin, Professor für Psychologie und Leiter des Stanford Forgiveness Projects, in seinem Buch Forgive for Good Vergebung. Doch Vergebung braucht auch Verständnis, das heißt, beide Seiten müssen verstehen, welche Regeln, Verträge oder Versprechen verletzt wurden. Fred Luskin spricht aber nicht nur von irgendwelchen Regeln. Es geht um »unenforceable rules«, Regeln, die wir nicht durchsetzen können.

Wir alle haben Regeln, die wir mit Liebe verbinden: etwa dass man sich ruhig zuhört, anstatt direkt anzugreifen; dass man in guten wie in schlechten Zeiten zusammenbleibt; dass man sich füreinander zurücknimmt; dass man empathisch miteinander ist; dass man respektvoll miteinander spricht; dass man keine Geheimnisse voreinander hat. Wahrscheinlich könnte ich diese Liste an Regeln unendlich weiterführen. Wahrscheinlich sind viele dieser Regeln gut und sinnvoll.

Doch die Realität ist, dass wir all diese theoretisch guten Regeln trotzdem nicht immer durchsetzen können. Erstens haben wir nicht die Garantie, dass die andere Person die gleichen Entscheidungen fällen würde, wie wir es von uns selbst glauben. Zweitens zeigen manchmal erst Verletzungen, welche Grenzen und Bedürfnisse wir tief in uns haben. Drittens können wir die Vergangenheit nicht verändern. Selbst wenn wir also eine Regel haben, kann die andere Person nicht ändern, was sie in der Vergangenheit getan hat. Wir müssen uns also mit einer Realität auseinandersetzen, in der jemand den Fehler bereits begangen hat. Doch wenn wir auf die Einhaltung dieser Regeln pochen, halten wir uns selbst und andere gefangen. Nicht vergeben zu können, bedeutet, einen ständigen Kampf mit der Realität zu führen.

Im Beispiel von Angela und Johannes war Angela in ständiger Wachsamkeit. Angela hatte beispielsweise die Regel, dass Johannes ihr sicherer Hafen sein sollte. Gerade in einer Situation, in der sie sich verletzlich und schwach gefühlt hatte, hatte sie von ihm Mitgefühl und Rücksichtnahme erwartet. Dies war ihre implizite Regel.

Doch weil er diesem Bild nicht gerecht wurde, schwieg Angela und entzog sich jeder Intimität. Dies wiederum belastete Johannes. Doch je mehr er gekränkt war, desto dünnhäutiger wurde er. Aus seiner Irritation und Einsamkeit entstanden Ungeduld und Frustration. Denn natürlich hatte auch Johannes Regeln, die aus seiner Warte gebrochen wurden. Zu seinen unausgesprochenen Regeln gehörte, dass Angela darüber sprach, dass sie verletzt war, anstatt sich zurückzuziehen. Und auch, dass sie Lust auf ihn hatte und ihm nah sein wollte. Dass sie empathisch mit ihm war und ihn nicht auf eine Situation reduzierte, in der auch er überfordert war. Vater zu werden, war sein Herzenswunsch. Doch zugleich hatte ihn gerade die Anfangszeit mit Kind damit konfrontiert, wie wenig er tatsächlich in der Hand hatte. Sein Leben schien ihm zwischen all den neuen Aufgaben in der jungen Familie zu zerfließen. Wenn noch nicht einmal die Küche ordentlich sei, wie solle er dann seinem Leben, geschweige denn einem Leben mit Frau und Kind gerecht werden? Angelas Rückzug war ein Zeichen für sein Scheitern. Obwohl er alles gegeben hatte.

In diesem Augenblick wurde Angela weicher. Denn sie sah, wie viel er für die Familie tat und wie sehr er sich darum bemühte, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Sie sah seine Makel nicht als Scheitern. Dass Johannes von seinen Regeln sprach, anstatt sie zu attackieren, fühlte sich für Angela um einiges sicherer an. Sie konnte ihn besser verstehen. Und aus diesem Verständnis entstand auch bei Angela Verantwortung. Sie nahm seine Hand in ihre und schaute ihn an. Nur wo echtes Verständnis ist, kann auch Veränderung sein – und wir brauchen Veränderung, um neue Geschichten schreiben zu können.

Wir Menschen leben in Geschichten. Geschichten helfen uns, Sinn in dieser komplexen Welt zu finden und mit Herausforderungen besser umzugehen. Beziehungen bestehen aus vielen kleinen, ausgesprochenen und unausgesprochenen Versprechungen. Doch wenn diese impliziten Regeln verletzt werden, schreiben wir bisweilen Geschichten von mangelnder Liebe. Und das ist eine Tragödie. Zu vergeben bedeutet, diese alten Geschichten zu revidieren und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Gemeinsam.