Klarheit: Wie Grenzen uns inneren Frieden schenken

Die Erfahrungen aus meiner Arbeit mit Paaren und auch die Forschung zeigen, dass wir unbedingt Grenzen für unsere emotionale Sicherheit brauchen – und dass wir ein neues Bild von Grenzen brauchen. Grenzen sind ein fruchtbarer Boden für Vertrauen, Verbindung und Nähe. Fehlende Grenzen führen zu tiefen emotionalen Wunden. Und wenn wir Grenzen als Kontaktfläche sehen, kann Heilung entstehen.

Valentin und Gabriel sind eines der Paare, bei dem sich die meisten Menschen wundern würden, warum sie überhaupt in die Paartherapie gehen. Sie wirken von der ersten Sekunde an innig und vertraut. Ihre Art hat so etwas Liebevolles und Achtsames. Valentin gibt einem sofort das Gefühl von Wärme und Akzeptanz. Valentin spürt selbst die feinsten Dinge und seine Fürsorge gibt mir sofort das Gefühl von Wärme.

Doch diese so schönen Eigenschaften haben auch ihren Preis. Manchmal ist Valentin mehr darauf bedacht, dass es anderen gut geht als sich selbst. Als hätte er einen fein abgestuften Radar, der sich nie ausschaltet und ständig auf Empfang ist. In seinen Gedanken überprüft er oft, was der andere wohl gerade denkt, ob den anderen etwas verletzt hat, ob ihn etwas gestört hat oder ob er sich wohlfühlt. Overthinking ist der Versuch, die Gedanken einer anderen Person zu kennen, ohne sie zu fragen. Wenn es in der Vergangenheit keinen Raum für ehrliche Gespräche gab, versuchen wir, die Kommunikation alleine zu lösen. Doch all das tut Valentin nicht nur, weil er es kann. Er hat dieses Gedankenlesen auch lernen müssen, um emotional zu überleben: Nur wenn es anderen gut geht, kann er durchatmen. Valentin weiß selbst, wie anstrengend das ist, und lernt gerade erst, mehr für sich einzutreten. Ein Wunsch, der ihn in die Paartherapie bringt: Er würde gerne wieder alleine leben und aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen.

Gabriel hat dafür unendlich viel Verständnis und möchte Valentin in diesem Wunsch unterstützen. Auch er hat etwas sehr Zugewandtes und ist der richtige Typ Mensch, um über Stunden tiefe Gespräche zu führen. Gabriel gibt Valentin durch seine Worte und seine körperliche Präsenz emotionale Sicherheit.

So groß Gabriels Wunsch auch ist, Valentin zu unterstützen, so sehr triggert der Wunsch auszuziehen auch seine Verlustangst. Selbst wenn er kognitiv weiß, dass es sinnvoll ist, dass Valentin mehr Raum für sich alleine hat, meldet sich eine tief sitzende Unruhe. Angst trumpft Kopf. In Momenten fehlender Verbindung beginnt er zu klammern, zu verhandeln und Raum einzufordern. So halten beide sich, ohne dass sie das natürlich wollen, in ihren alten Mustern fest.

Denn wenn Valentin beginnt, mehr für sich zu sein, wird Gabriel unruhig. Valentin wiederum fällt es schwer, Gabriels Stimmung nicht zu spüren, und fühlt sich seinerseits schuldig, unsicher und überwältigt. Also nimmt er wieder mehr auf seinen Partner Rücksicht. Zunächst schiebt er die Wut zur Seite. Dann richtet er die Wut gegen sich selbst und schließlich implodiert er. Valentin nutzt seine Empathie als Schutzmechanismus. Er hat gelernt, dass Grenzen ihn in Gefahr bringen.

Ich setze Valentin auf einen Stuhl und Gabriel ihm gegenüber. Meine Idee ist, den beiden eine Erfahrung zu ermöglichen, in der Grenzen nicht mehr als Trennung, sondern als Kontaktfläche wahrgenommen werden. Zunächst sitzen die beiden auf zwei Stühlen, direkter Blickkontakt. Ein wenig wie bei dieser Übung, bei der sich zwei Menschen unendlich lange in die Augen schauen und man in die Seele einer Person blickt und eine enge Verbindung herstellt: Soul Gazing. Doch auf Valentin wirkt Gabriels freundlicher, aber direkter Blick konfrontativ.

Ich reiche Valentin einen simplen Holzstab. Er soll symbolisch eine Grenze darstellen. Valentin darf diese Grenze erst einmal selbst spüren. Er rollt das Holz auf seinen Oberschenkeln, tastet mit seinen Fingern die Oberfläche ab. Er hat eine Grenze. Sein Körper hat eine Grenze.

Dann schmunzelt Valentin. Es sei nur ein Holzstab, aber er selbst merkt, wie sein ganzer Körper plötzlich aufrechter ist und mehr Spannung hat. Auch Gabriels Blick ist ihm nicht mehr zu nah. Er lädt Gabriel ein, mit seinem Stuhl näher zu rücken. Nun berühren sich ihre Knie. Wie spannend, dass wir durch klare Grenzen auch wieder Nähe zulassen können. Ich frage Valentin, was passieren würde, wenn Gabriel seine Grenze berührt? Valentin lässt sich darauf ein.

Zunächst möchte Gabriel den Stab komplett umfassen, seine Finger reichen über das Holz hinaus. Mit einem selbstbewussten Ton weist Valentin ihn liebevoll zurück. Nicht über meine Grenze.

Anders als wie so viele Male zuvor, in denen Gabriel sich zurückgewiesen fühlte, entsteht nun etwas anderes. Da ist kein Groll, keine Scham, kein Keil zwischen den beiden. Gabriels Hände ziehen sich zurück, es entsteht ein Spiel zwischen ihnen. Die Grenze wird zum Ort, an dem Spannung, Selbstbewusstsein und Anziehung entsteht. Wir können Grenzen also nicht nur aus einem Fluchtmodus heraus setzen, sondern sie auch nutzen, um mehr in die Kommunikation zu kommen.

Diese symbolische Grenze lässt Valentin und Gabriel erfahren, wie Grenzen auch sein können: Wenn es Grenzen gibt, kann Valentin mehr bei sich sein und sich selbst spüren.

Auch Gabriel ist angetan und überrascht von dieser Grenzerfahrung. Grenzen bedeuteten für ihn Distanz und Verlust. Doch durch diese symbolische Grenze spürt er Valentin nicht nur mehr und ist wie elektrisiert von seinem Partner – auch er selbst spürt sich mehr. Wenn Gabriel nicht nur eine Grenze spürt, sondern auch Valentins Präsenz, dann kann er selbst ruhig und mehr bei sich bleiben. Aber wenn Valentin sich in sich zurückzieht, spürt er eine angsteinflößende Leere.

Es ist aber noch mehr als das: Gabriel ist fast dankbar für Valentins so sichtbare und klar kommunizierte Grenze. Valentin weiß, dass er selbst manchmal Grenzen überschreitet und es zu spät merkt. Für diese Übergriffigkeit schämt er sich, denn es passt nicht zu seinem Bild von sich als empathisch und freundlich. Die Grenze, die nun zwischen den beiden entsteht, gibt auch ihm Sicherheit. Oder wie es Brené Brown, die amerikanische Professorin und Bestsellerautorin, in Atlas of the Heart sagt:

»Grenzen sind eine Voraussetzung für Mitgefühl und Empathie. Wir können nur dann eine Verbindung zu jemandem aufbauen, wenn wir uns darüber im Klaren sind, wo wir aufhören und wo sie anfangen. Wenn es keine Autonomie zwischen Menschen gibt, dann gibt es kein Mitgefühl oder keine Empathie, sondern nur Verschmelzung.«

Denn wenn wir es genau nehmen, ist der Zweck von Grenzen eigentlich nicht, andere auszuschließen, sondern emotionale Sicherheit. Egal, ob es um finanzielle, körperliche, psychische, mentale, moralische Grenzen geht. Egal, ob es darum geht, nicht alles persönlich zu nehmen oder uns nicht für das Wohlbefinden einer anderen Person verantwortlich zu fühlen. Egal, ob es darum geht, wie Menschen mit uns reden dürfen und wie viel Zeit wir anderen Menschen und Dingen schenken möchten.