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Lau Teilatu
Unai · September 2019
Wir hatten Deba in ihr warmes Bettchen gelegt. Draußen vor unserer kleinen Wohnung war es beinahe winterlich kalt, und wegen des Temperaturunterschieds beschlugen die Fensterscheiben.
»Wie konnte er …?«, dachte ich unwillkürlich laut.
Ich hatte mich im Wohnzimmer auf den Holzboden gesetzt und mit dem Rücken an die Wand gelehnt, neben die Fenster des weißen Erkers. Alba hatte mir gegenüber das Gleiche getan. In dieser einander spiegelnden Haltung führten wir Gespräche, die manchmal in ausgedehntes Schweigen ausarteten. Teils nach innen gerichtet, teils wachend über die Außenwelt und das, was zu unseren Füßen, im Zentrum der Stadt, geschah.
Alba hatte einen Rahmen für das Familienselfie gekauft, das wir am Tag der Buchpräsentation im Palacio de Villa Suso gemacht hatten, und schnitt das Foto gerade so zu, dass unsere lächelnden Gesichter in diesen Rahmen passten.
Aber in Gedanken war sie anderswo. Ich wusste, dass sie sich um ihre Mutter sorgte. Die letzten Jahre hatten die beiden so eng zusammengeschweißt, dass auch ein Erdbeben sie nicht trennen konnte. Die Operation war erfolgreich verlaufen, und Nieves musste sich bloß noch erholen, ehe sie nach Laguardia zurückkehren konnte.
An diesem Donnerstagabend liefen ein paar Grüppchen über die Plaza de la Virgen Blanca in Richtung Altstadt, auf der Suche
nach ein bisschen Spaß, um sich diese Woche zu verkürzen, die meinetwegen auch gleich am Montag hätte enden können. Eine schlechte Nachricht nach der anderen.
Oihana Nájera, die kleine Schwester, hatte überlebt. Die Ärzte hatten sie retten können, aber sie hatten uns vorgewarnt, dass sie erst in frühestens einer Woche die Kraft haben würde, mit uns zu sprechen.
Im Moment hatten wir also nur einen weiteren Tatort zu untersuchen. Nach den ersten Eindrücken von Muguruza, dem Leiter der Kriminaltechnik, war die Wohnung gefegt und feucht gewischt worden. Es gab keine Fußabdrücke, und die Wand war mit Handschuhen, die wir nicht gefunden hatten, zugemauert worden. Die Spurensicherung hatte nicht ein einziges Fädchen sichergestellt, an dem man hätte zupfen können.
Die Schwestern waren in Plastiksäcken dorthin gebracht worden, wie sie bei Bauarbeiten Verwendung fanden – man hatte darin Haare der beiden Mädchen gefunden. Mehr war in dem Drecksloch, in dem zwei Heranwachsende auf sechs Quadratmetern ohne Wasser, Luft oder Essen zwei Wochen lang eingesperrt gewesen waren, nicht zu finden gewesen. Zeitverzögertes Töten. Töten, indem man sein Opfer verdursten und verhungern ließ.
Man musste schon sehr herzlos sein, um zwei Mädchen das anzutun.
Über all das dachte ich nach, während ich mit einer dreidimensionalen Keramiknachbildung der Almendra Medieval spielte. Es war eines dieser typischen Souvenirs für Touristen, ein Relief der Häuser, Kirchen, Straßen und Gassen der Altstadt, des mittelalterlichen Kerns von Vitoria.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was ein unbedeutender Gott, der diesen Fall aus seiner luftigen Perspektive betrachtete, darüber denken mochte.
»Wie konntest du Unhold zwei Mädchen aus ihrer eigenen Wohnung entführen, sie in ein anderes Haus bringen und dort
einmauern, ohne dass irgendjemandem etwas auffällt?«, flüsterte ich, ganz auf dieses Rätsel konzentriert.
Alba warf mir einen befremdeten Blick zu.
Für sie war dieser Tag doppelt belastend gewesen. Zu der Sorge um Nieves war bei ihr noch die Aufgabe hinzugekommen, dem Ehepaar Nájera die Nachricht zu überbringen. Das konnte sie gut. Ihr sicheres Auftreten half ihr dabei, weil es den Eltern die Hoffnung gab, dass man den Täter finden würde. Die Mutter hatte sie umarmt. Der Vater hatte gegen eine Tür geboxt und sich einen Holzsplitter zwischen die Knöchel gerammt. Alba hatte mir erzählt, er hätte alles vollgeblutet.
Bei meiner Rückkehr nach Hause hatte ihr weißer Mantel zum Trocknen an einem Haken in der Dusche gehangen. Die Blutflecken sahen aus wie der schwungvolle Pinselstrich eines sadistischen Expressionisten. Alba hatte zwar versucht, die Flecken zu entfernen, aber sie waren nicht rausgegangen. Es war ihr Lieblingsmantel.
Von diesem Tag würde eine Spur zurückbleiben. Vielleicht wäre es besser, sich von dem weißen Mantel und dem, woran er erinnerte, zu trennen.
Lass nicht zu, dass es euch zu nahe geht. Lass nicht zu, dass ihr diese Arschlöcher mit nach Hause nehmt, befahl ich mir zum x-ten Mal. Das war meine Maxime: Wir durften nicht zulassen, dass unsere Arbeit uns zu nahe ging.
Wir hatten bereits in der Vergangenheit einen so hohen Tribut entrichtet, dass es für mehr als ein Leben reichte. Und wir bemühten uns, nach Feierabend möglichst wenig über die Arbeit zu sprechen. Aber hatten wir jemals wirklich Feierabend, oder waren die Grenzen zwischen Arbeit und Leben so lange fließend, bis wir dem Haftrichter die Beweise und den Verdächtigen vorführen konnten?
Während ich noch mit der Miniaturausgabe des mittelalterlichen Vitoria spielte, die Dächer und die vier markanten
Kirchtürme betastete, ertönten die Klänge des Liedes »Lau teilatu«: Alba bekam einen Anruf.
Wie fern war jenes erste »Lau teilatu« schon, das wir gemeinsam angehört hatten, nur wenige Meter über unseren Köpfen, während der ersten Fiestas de la Blanca, die wir als Frischverliebte erlebt hatten!
Seither waren wir nur noch wenige Male dort oben auf dem Dach gewesen und seit Debas Geburt gar nicht mehr. Schließlich konnten wir schlecht aufs Dach klettern und sie unten in der Wohnung allein lassen. Wir hatten einfach wenig Zeit für uns, selbst wenn Großvater, Nieves oder Germán uns halfen und sich um unsere Tochter kümmerten.
Mit einem Mal kam mir die Erleuchtung: »Lau teilatu«. Vier Dächer.
Die Nájeras wohnten in der Calle Pintorería, die Mädchen waren in der Calle Cuchillería gefunden worden. Die beiden Wohnungen teilten sich die Dächer.
Viele Häuser in der Altstadt hatten kleine Oberlichter in den Innenhöfen zu den Nachbarhäusern hin, durch die zusätzliches Licht hereinfiel, denn an Licht mangelte es in den engen Altstadtgassen.
Ich nahm mein Telefon zur Hand, weil ich mir eine Luftansicht suchen wollte, die etwas aktueller war als das Keramikmodell der mittelalterlichen Stadt. Bei Google Earth wurde ich fündig.
Alba kam zurück, und in ihrer Miene spiegelte sich ihre Erleichterung.
»Das war Milán aus dem Hospital de Santiago. Sie hatte darauf bestanden, bei ihr zu bleiben, damit ich mich ausruhen kann, und ich habe sie gebeten, mich anzurufen. Meine Mutter schläft und steht unter Schmerzmitteln. Besser, ich gehe jetzt ins Bett und fahre morgen ganz früh hin. Wenn du möchtest, geh du um sechs laufen, und wenn du zurückkommst, fahre ich vor der Arbeit ins Krankenhaus.«
Ich atmete auf. Albas Mutter war eine starke Frau, die schon viel durchgemacht hatte. Ein Treppensturz konnte ihr so schnell nichts anhaben. Andererseits war sie nicht mehr die Jüngste, und es würde eine Weile dauern, bis sie sich davon erholt hatte.
Alba setzte sich wieder mir gegenüber, den Rücken an die Wand gelehnt, immer noch ein bisschen nachdenklich. Sie sah mich an und entdeckte das Funkeln in meinen Augen.
»Was ist, Unai?«
»Ich weiß jetzt, wie der Entführer in die Wohnung kam. ›Lau teilatu‹, Alba. Vier Dächer. Er ist durch das Oberlicht eingestiegen und hat sie da rausgeholt. Es war Ende August, viele Nachbarn waren verreist. Niemand hat ihn gesehen, weil er sie über die Dächer in die andere Wohnung gebracht hat. Das andere Gebäude hat auch so ein Oberlicht. Das Haus ist eine Baustelle, wahrscheinlich hatte er die Wand vorher fast fertig gemacht bis auf das Loch, durch das er sie reingeschoben hat. Dann hat er das auch zugemauert. Die vermeintliche Dominikanernonne ist auch über die Dächer von San Miguel entkommen und war sehr flink. Und wenn er nun die Dächer von Vitoria beherrscht? Durch seinen Beruf oder irgendeinen Umstand, der ihm einen Vorteil verschafft?«
»Deine Theorie hat diverse Schwachpunkte. Es ist immer noch das Verbrechen in einem geschlossenen Raum. Vergiss nicht, dass die Wohnung von innen abgeschlossen war. Und die Fenster auch. Nach all den Jahren, die ich das jetzt schon mache, will mir nicht in den Kopf, wie jemand zwei Mädchen so etwas antun kann.«
»Nein, nicht zwei Mädchen, zwei Müllsäcken«, präzisierte ich.
»Beschönige es nicht. Den ersten Eindrücken der Rechtsmedizinerin nach haben beide noch gelebt, als er sie entführt hat.«
»Das stimmt. Aber ich bleibe dabei, dass diese Müllsäcke eine besondere Bedeutung haben, denn darin zeigt sich eine gewisse Menschlichkeit; er will nicht daran denken, dass er zwei
Mädchen tötet. Er hat sie in Säcke gesteckt, weil er sie sich lieber als zwei Gepäckstücke vorstellen wollte.«
»Und was sagt uns das?«
»Dass er kein Psychopath ist, dass er über Empathie verfügt. Aber der Grund, weswegen er sie töten wollte, wiegt schwerer – es gibt eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Er hat es nicht genossen, sie zu töten, es war lediglich ein Teilschritt in seinem Plan.«
Sie sah mich besorgt an. »Und ist das jetzt gut oder schlecht?«
»Es ist schlecht. Sehr schlecht sogar. Da ist ein Plan im Gang.«
Alba nahm meine Worte nicht gut auf. Allerdings hätte die Aussicht auf weitere eigenartige Morde mit einem mittelalterlich anmutenden Modus Operandi wie Kantharidin oder Einmauerung wohl jeden beunruhigt.
Aber da war noch mehr. Alba war in Gedanken nicht bei mir, sondern ganz weit weg.
»Was ist, Alba? Irgendwann wirst du es mir sagen müssen. Du bist in letzter Zeit sehr zerstreut. Es fühlt sich fast so an, als lebte ich wieder allein.«
Sie verschränkte die Arme und sah hinaus auf das Denkmal für die Schlacht bei Vitoria.
»Ich überlege, ob ich nach Laguardia zurückziehe, um meiner Mutter unter die Arme zu greifen.«
»Wenn sie aus dem Krankenhaus kommt?«
»Ja. Sie wird sich nicht um das Hotel kümmern können, und die Familien ihrer fünf Angestellten sind darauf angewiesen, dass der Betrieb weiterläuft. Bald kommt sie in das Alter, in dem sie sich zur Ruhe setzen müsste, aber sie hat niemanden, der die Geschäfte übernehmen kann, außer mir. Ich bin damit aufgewachsen, mich um die Reservierungen und den ganzen Papierkram zu kümmern. Ich könnte das Hotel übernehmen, wenn sie in den Ruhestand geht.«
»Warte mal … jetzt reden wir nicht mehr nur davon, dass du
für ein paar Tage nach Laguardia gehst, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt, oder? Was versuchst du mir da zu sagen?«
Alba seufzte. Tapfer sah sie mir in die Augen und gestand: »Ich weiß nicht, ob ich weiter in diesem Beruf arbeiten will, Unai. Ich weiß nicht, ob ich weiter Subcomisaria sein will. Ich will nicht mehr täglich mit so vielen Tragödien zu tun haben, mit den Abgründen im Menschen. Seit Deba geboren wurde, hat sich mein Blick aufs Leben verändert. Ich habe nur ein Leben, und Deba hat nur ein Leben, einen Vater, eine Mutter. Du bist ständig in Gefahr, in Vitoria kennt dich jeder. Deba ist die Tochter des Kraken – oder Schlimmeres.« Sie verstummte.
»Oder Schlimmeres?«, fragte ich verständnislos. »Was meinst du damit? Ich kann dir nur schwer folgen. Redest du von einer Sinnkrise oder von Debas Zukunft? Wovon genau redest du? Willst du dich wieder ins Kommissariat Laguardia versetzen lassen? Dort könntest du nicht als Subcomisaria arbeiten. Und nur du allein weißt, was es dich gekostet hat, diese verfluchte gläserne Decke zu durchbrechen. Du bist eine Legende bei der Truppe, alle respektieren dich. Oder möchtest du dich beurlauben lassen, um das Hotel deiner Mutter zu führen?«
»Genau. Wieder mit Blick auf die Sierra leben, in einem wesentlich ruhigeren Lebensrhythmus. Mich abends ohne Blutspritzer an den Tisch setzen und die Augen schließen können, ohne die verweste Leiche einer Jugendlichen vor mir zu sehen. Meine Mutter ist allein und braucht mich immer mehr. Ich möchte diese Jahre mit ihr verbringen, jetzt, wo wir uns so nahestehen. Und ich möchte, dass Deba mit ihr und mit ihrem Urgroßvater aufwächst. Wenn wir in Laguardia leben, sind wir näher an Villaverde. Du weißt doch, wie sehr Deba und Großvater aneinander hängen. Das würde beiden guttun.«
»Und ihr Vater? Willst du nicht, dass Deba bei ihrem Vater aufwächst? Wo bleibe ich in diesem Szenario?«
Alba, die noch auf dem Boden saß, sah zu mir auf: Ich war
irgendwann aufgestanden. Und offenbar war ich irgendwann auch lauter als nötig geworden, denn jetzt erschien Deba in ihrem mit Mäuschen bedruckten Schlafanzug und weit aufgerissenen Augen.
»Kann ich bei euch schlafen?«, fragte sie mit ihrem leichten Lispeln.
»Na klar, Kleine. Papá wollte gerade ins Bett gehen. Dann gehe ich morgen um sechs laufen, Alba. Schlaf gut«, sagte ich, gab ihr einen Kuss auf den Mund, den sie sanft erwiderte, nahm meine Tochter auf den Arm und ging mit ihr ins Schlafzimmer, als wäre sie ein kleines Geschenk.
Wenn ein Tag ein solches Desaster war wie heute, tröstete ich mich damit, ihr beim Schlafen zuzusehen. Das erinnerte mich daran, dass ich in einem anderen Leben gut genug gewesen sein muss, um ein solches Wunder in den Armen halten zu dürfen, ein winziges Herz, das mir die Wärme gab, die ich brauchte.
Doch heute konnte auch meine Tochter nicht schlafen.
»Papá, ist zweiundzwanzig viel?«, flüsterte sie.
»Das kommt darauf an, zweiundzwanzig wovon? Zweiundzwanzig Umarmungen sind wenig, ich umarme dich morgens viel öfter. Zweiundzwanzig geröstete Kastanien für dich allein sind viele. Weißt du noch, wie es dir ging, als du die ganze Tüte aufgegessen hast?«
»Zweiundzwanzig Tote«, sagte sie.
Diese Worte aus dem Munde meiner Tochter verstörten mich derart, dass mir das Bett mit einem Mal eisig erschien.
»Wieso zweiundzwanzig Tote, mein Schatz?«
»Ich hab im Kindergarten eine Erwachsenenstimme reden gehört, als ich Pipi machen war. Die hat gesagt, dass bei meinem Papá zweiundzwanzig Tote auf den Schultern lasten. Kann ich die sehen?«
Verdammt. Das hatte Alba gemeint. Deshalb also. Für manche war Deba Krakens Tochter, für andere die Tochter eines Mannes, der zweiundzwanzig Menschen auf dem Gewissen hatte.
»Sie haben mich erwischt! Wie haben sie das bloß herausgefunden?«, gab ich in spielerischem Ton zurück.
»Was denn, Papá?«
»Mein Halloweenkostüm. Ich gehe als Zombiejäger, ich werde mir einen Sack mit zweiundzwanzig Zombiepuppen umhängen … Aber das war mein Geheimnis. Wie haben sie das bloß herausgefunden?«
»Die vom Kostümgeschäft, Papá.«
»Stimmt. Die werden es gewesen sein. Da gehen wir nicht mehr hin, Deba«, sagte ich und strich ihr über das blonde Haar. Normalerweise beruhigte sie das, und nach wenigen Minuten schlief sie denn auch ein.
»Da gehen wir nicht mehr hin … Papá«, murmelte sie noch und ihre Atmung verlangsamte sich.
Schon seit einer geraumen Weile lehnte Alba mit verschränkten Armen am Türrahmen und lauschte.
Wir mussten nichts sagen.