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Yennego
Diago Vela · Im Jahr des Herrn 1199
, Sommer
Sieben Jahre vergehen schnell, wenn die ersten Gesichter, die ein Mann morgens beim Aufwachen erblickt, seinem Sohn und seiner lächelnden Frau gehören.
Und so waren die sieben glücklichsten Jahre vergangen, an die ich mich erinnern kann.
Hätte ich die stumme Warnung des Südwinds – des fürchterlichen hegoaizea
, des Windes der Verrückten – beachten sollen, als er uns an jenem unheilvollen Morgen weckte, indem er die Fensterläden aufriss?
Alix zog sich zum Schutz vor der plötzlichen Helligkeit die Decke über den Kopf. Ich liebte es, ihre Mähne zu kämmen, wenn sie beim Betreten unseres Hauses die Haube mit den vier Spitzen abnahm, die ich ebenso furchtbar fand wie sie.
»Und Yennego?«, fragte sie verschlafen.
»Sein Onkel Nagorno hat ihn bei Morgengrauen abgeholt, um mit ihm auszureiten.« Verstohlen sah ich zum offenen Fenster. »Sicher sind sie schon zurück.«
Wir kleideten uns an und gingen zum Portal del Norte. Nagorno stieg gerade von Altai, und Yennego hielt die Zügel eines hübschen jungen Fohlens.
»Vater!«, rief er, als er mich sah, und stürmte trotz seines Hinkens zu mir. »Schau, was Onkel Nagorno mir geschenkt hat! Ein riesiges Pferd, nur für mich!«
Yennego hatte bereits sechs Sommer erlebt und zwischen uns
Brüdern für ein wenig Tauwetter gesorgt. Nagorno liebte seinen Neffen über alles und überhäufte ihn mit Geschenken. Außerdem lehrte er ihn zu reiten und Schmuck anzufertigen, als wäre er sein eigenes Kind.
Ich umarmte meinen Sohn. Er hatte mein schwarzes Haar geerbt, doch er roch wie seine Mutter nach Gebäck. Yennego war ohne Makel zur Welt gekommen und hatte sogleich kräftig geschrien, aber als er zwei Winter alt gewesen war, hatte das Unglück in der Rúa de la Astería Einzug gehalten: Eines seiner Beine war lange Zeit nicht weitergewachsen.
Er hatte trotzdem Laufen gelernt. Den Spott über sein Hinken ignorierte er, aber er musste sich so manches Mal mit Steinwürfen verteidigen. Deshalb verbrachte er den Tag lieber auf dem Rücken eines Pferdes, wo niemand ihm etwas anhaben konnte. Als er sich aus meiner Umarmung löste, huschte ein schmerzvoller Ausdruck über sein Gesicht, der mir nicht entging.
»Ist es der Zahn, mein Kleiner?«
»Er wackelt und tut richtig weh, Vater. Großmutter Lucía hat mir eine Kette mit einem Igelzahn geschenkt, aber es tut immer noch weh.« Und er zeigte mir ein rotes Bändchen von der gleichen Machart wie die, welche sie Alix und mir noch vor unserer Heirat geflochten hatte. Sie waren die einzigen Kleidungsstücke, die wir niemals abnahmen, weder zwischen den Laken noch wenn wir uns an Winterabenden in unserer Wanne unterhielten.
»Vielleicht solltest du dreimal um die Kirche Sant Michel herumlaufen«, sagte jemand hinter uns. »Es heißt, dann vergeht der Schmerz.«
Onneca kam mit ernster Miene zu uns. Die vielen Jahre in Erwartung eines Erben, der nicht kam, hatten sie traurig gemacht. Ihr Bruder galt als tot, seit er auf dem Rückweg von den Kreuzzügen in einen Hinterhalt geraten war, und nun lastete auf ihr die Bürde, das Geschlecht derer De Maestu nicht aussterben zu lassen. Zu ihrem Neffen war sie nicht gerade überschwänglich, und
ich erwartete es auch nicht von ihr. Ich selbst beschränkte mich auf die Höflichkeiten, zu denen wir gezwungen waren, wenn wir einander auf der Straße begegneten. Nicht viel mehr.
Die stets optimistische Alix hingegen gab sich weiterhin Mühe.
»Tu das lieber nicht, mein Sohn«, warf meine Frau ein, während sie zu Onneca ging und liebevoll ihren Arm nahm. »Es heißt, in Respaldiza sei ein junges Mädchen dreimal um die Kapelle herumgegangen, und daraufhin habe sie der Teufel geholt. Man hat sie nie wiedergesehen.«
»Erschrecke doch Yennego nicht, Frau. Heute ist ein Tag für Freude, so, wie ich es sehe«, sagte Nagorno, den Ausritte immer in hervorragende Stimmung versetzten.
»Ich kenne ja den Grund für diese Freude nicht, aber ich sehe, dass du dem Jungen ein großzügiges Geschenk gemacht hast: Olbias Fohlen«, entgegnete Onneca.
»Alix, willst du es schon bekanntgeben, liebe Schwägerin?«, fragte Nagorno, trat zu ihr und strich ihr über den Bauch. »Es kommt zum Ende des Herbstes, nicht wahr?«
»Mein Bruder hat ein sehr gutes Auge, wenn es darum geht, ein Leben zu entdecken, das sich seinen Weg bahnt. Wir haben es noch nicht bekanntgegeben, Yennego allerdings weiß, dass er vor Ablauf des Jahres jemanden zum Spielen haben wird«, sagte ich, wich jedoch Onnecas Blick aus. Denn der war so traurig, dass er die Erinnerung an einen alten Schmerz heraufbeschwor, den ich nicht mehr spüren wollte.
In diesem Augenblick ritten die Pferde durchs Portal del Norte. König Sancho von Navarra, der siebte dieses Namens, den man den Starken nannte, weil er doppelt so groß wie seine Untertanen war, hatte im vergangenen Sommer einen neuen Statthalter ernannt. Denn Petro Remírez war alt geworden, und Sancho, der Starke, festigte angesichts der besorgniserregenden Neuigkeiten aus Toledo wichtige Stellungen in seinem Königreich.
In ganz Navarra wurde über seine Reise in den Süden, ins Land der Sarazenen gesprochen, wo er eine Allianz mit dem neuen Kalifen, dem Miramamolín, einging. Man tadelte ihn dafür, dass er Verbündete bei den Ungläubigen suchte, und der Papst drohte ihm mit dem Kirchenbann. Viele bei uns in der Stadt standen dem Vormarsch des Königs von Kastilien, Alfonso VIII
., wohlwollend gegenüber. Am Portal Oscuro behaupteten die Mendozas und die Isunzas, der kastilische König werde sie mehr begünstigen, als es König Sancho, der Weise, getan hatte, der die niederen Adeligen mit den übrigen Bürgern gleichgestellt und alle innerhalb der Stadtmauern zu Freien erklärt hatte.
An diesem Morgen erwarteten wir den neuen Statthalter Martín Chipia und die Abteilung Soldaten, die er von seinem Besuch am Hof von Tudela mitbrachte. Der Statthalter hatte infolge irgendeiner Tavernenschlägerei eine eingesunkene Nase, schulterlanges Haar und sehr kurze Beine, die in auffallendem Gegensatz zu seinen allzu breiten Schultern standen.
»Hier, meine neuen Männer.« Er sprang entschlossen von seinem Pferd, und sein Kopf reichte mir nur bis zur Brust. »Sie werden keine Schwierigkeiten in die Stadt bringen. Die Berater von König Sancho, dem Starken, haben mir Besorgniserregendes berichtet. Wie es scheint, hat König Alfonso einen Vorstoß begonnen, und wir müssen auf alles vorbereitet sein. Morgen sprechen wir über die Vorräte. Möge Gott uns die Zeit geben, die Ernte einzuholen, unterwegs sah ich, dass die Felder noch grün sind. Sind die Kornkammern gefüllt?«
»Noch nicht«, erwiderte Alix. »So, wie das Wetter im Januar war, wird es ein gutes Jahr.«
»Nun, die Sonne darf jetzt ruhig warm werden. Dann könnte man befehlen, die Mahd vorzuziehen«, beschied er. »Der König traut seinem kastilischen Vetter nicht und hat mir keinen anderen Befehl gegeben, als dass Vitoria sich nicht ergeben darf.«
»So weit wird es nicht kommen, hoffe ich«, warf Nagorno ein.
Es war schon dunkel, als unser Albtraum begann.
Alix und ich hatten gerade Großmutter Lucía zu Bett gebracht, die in letzter Zeit keinen Appetit mehr hatte und deren Stimme immer kraftloser wurde.
Yennego hatten wir mit den Kindern der Villa de Suso zwischen den Marktständen herumtollen lassen. Donnerstags kam der Fisch aus den Häfen des Nordens, und es war geboten, sich mit ein paar Sardinen oder ein wenig Kabeljau einzudecken, um die Enthaltsamkeit zu überstehen, die die römische Kirche uns freitags auferlegte.
Abends, wenn die Fischhändler ihre Körbe zusammenpackten, waren die Grabplatten auf dem Friedhof von Santa María übersät mit Fischinnereien und klebrigen Schuppen und stanken nach dem Fisch, der in der heißen, sauberen Sonne gelitten hatte.
Als ich nach unten ging, um meinen Sohn zu holen, sah ich ihn nicht unter den Kindern, die noch dort waren. Man hatte bereits zum Torschluss geblasen, und die drei Stadttore waren geschlossen. Zwischen den kleinen Schatten, die über den Friedhof tobten, konnte ich keinen hinkenden Jungen entdecken.
»Wisst ihr, wo Yennego ist?«
»Ich weiß nicht, Senior«, antwortete mir der Sohn von Sabat, dem Seiler, ein für seine neun Jahre sehr großer Junge.
»Er wollte dreimal um die Kirche Sant Michel laufen«, sagte ein Mädchen, die Älteste eines von Lyras Hüttenmeistern. »Er hat gesagt, er will den Zahn gesund machen.«
»Wie lange ist das her?«, wollte ich wissen.
»Da war es noch hell«, antworteten sie mir.
Es waren nicht mehr viele Nachbarn auf den Straßen, als ich die Rúa de las Tenderías überquerte. Ich bat den neuen Wachmann, einen der Soldaten, die mit Martín Chipia gekommen waren, mir das Portal del Sur zu öffnen, und lief um die Kirche herum, wobei ich laut nach meinem Sohn rief.
Stunden später, als bereits sämtliche Bewohner der Stadt nach
Yennego suchten, erfuhr ich, was geschehen war: Das rote Bändchen mit dem Igelzahn, das Großmutter Lucía ihm geflochten hatte, wurde zerrissen auf einer alten Grabplatte auf dem Friedhof von Sant Michel gefunden. Diese Grabplatte war schon vor den Stadtmauern da gewesen und verlief genau darunter; nur die eine Hälfte der Platte lag außerhalb der Stadtmauern.
Meinen Sohn hatte nicht der Teufel geholt.
Ihn hatte ein Ungeheuer geholt.