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HELGOLAND, JULI 1987

Ein kräftiger, warmer Wind fegte über das Hochplateau der Insel, bestimmt mit Stärke sieben oder acht. Die Luft roch nach Kräutern und Meersalz.

Max scherte aus der Linie des Trampelpfads aus und lief über die Wiese. Er rannte auf ein Schaf mit dichtem, langem Fell zu, das hilflos auf dem Rücken lag. Maria sah Jonas an, als wüsste er, was in Max gefahren war. Beine und Kopf des Tieres waren unter Wollbergen vergraben. Max hockte sich davor. Er legte beide Hände an die Flanken und drückte es sanft nach vorn. Der massige Körper kippte zur Seite, die kurzen Beine strampelten und suchten Halt auf dem moosigen Boden. Das Tier fasste Tritt, richtete sich auf und lief zur Herde zurück, die nur ein paar Meter weiter graste. Max stemmte sich hoch, er sah dem Schaf noch einen Augenblick nach, bevor er zurückkam.

»Schafe schubsen«, sagte er. »Eine sehr beliebte Sportart hier auf der Insel.«

Maria lachte. »Du Verrückter. Was sollte das denn jetzt?«

Max rieb sich Grasreste von den Knien. »Die Tiere sind überzüchtet. Ihre Wolle wächst zu schnell. Werden sie nicht rechtzeitig geschoren, können sie sich kaum mehr bewegen. Irgendwann fallen sie dann um und kommen nicht mehr hoch. Und wenn sie so liegen bleiben, bilden sich Koliken aus. Die Viecher können daran krepieren. Deshalb muss man sie ein bisschen schubsen, damit sie wieder auf die Beine kommen. Gut, oder?« Max stemmte seine Hände in die Hüften, hob das Kinn und grinste. »Ich könnte glatt Tierarzt werden.«

»Du bist ein Held.« Jonas klopfte Max auf die Schulter. Er verlor nie die Freude am Leben, selbst dann nicht, wenn es – wie heute – seinem Vater schlecht ging. »Ich hab das übrigens heute Morgen beim Frühstück ernst gemeint. Wenn du zu deinem Vater ins Krankenhaus möchtest, sag Bescheid, ich komme mit. Wir könnten die Fähre nachher um sechs nehmen, in drei Stunden.«

Max schüttelte den Kopf. »Der war schon so oft im Krankenhaus, dieses eine Mal wird er auch noch überleben. Und außerdem …«

»Außerdem?«, fragte Jonas. Wenn sein Vater heute ins Krankenhaus gekommen wäre, hätte es Jonas keine Minute mehr hier gehalten. Väter konnten Fluch und Segen zugleich sein. Bei Max war er ausnahmslos Fluch.

»Und außerdem wäre es ihm scheißegal, ob ich ihn besuche oder nicht. Also kann ich’s auch lassen.«

Jonas nickte. Der Wind fegte über das grüne Hochplateau. Max’ Alter gab tatsächlich nichts darauf, seinen Sohn zu sehen. Jonas hatte ihn nur zweimal gesehen, als er Max auf den Hof seiner verstorbenen Großmutter Clara begleitete, um ein paar Sachen aus seinem Zimmer zu holen – Kassetten, Jeans, Turnschuhe. Max hatte ihn gebeten mitzukommen und ihn im selben Atemzug davor gewarnt. Sein Alter sei unberechenbar, hatte Max gesagt. Und das, was Jonas in der Küche an der Eckbank zu sehen bekommen hatte, war mehr als nur ein heruntergekommener Kerl gewesen. Es war das Elend pur. Im Raum hatte es nach Fäkalien gestunken. Max’ Vater hatte geraucht und Schlager im Radio gehört. Jonas war nach draußen an die frische Luft gerannt, sonst hätte er sich übergeben.

Max sah raus aufs Meer. Er hatte die Hände hinter seinem Kopf verschränkt und lächelte.

»Kommt«, sagte Maria. »Da vorn ist eine Bank.«

Sie gingen den Pfad entlang. Die Sonne ließ die Nordsee wie glühendes Metall schimmern. Draußen auf See, ganz hinten am Horizont, waren Tanker und Containerschiffe unterwegs. Sie bewegten sich nicht und wirkten wie angepinnt. Einmal auf einem solchen Kahn mitfahren, das wär’s. Von Hamburg nach Shanghai und zurück. Tagelang auf See und kein Land in Sicht. Kein Internat, keine Klausuren, kein beschissener Rektor Grammel. Vater war zur See gefahren, er hatte sich für vier Jahre bei der Marine verpflichtet, bevor er sein Jurastudium begonnen hatte. Wenn er davon erzählte, leuchteten seine Augen.

Marias Haare wehten im Meereswind. Sie sprang mehr, als dass sie ging. Max stapfte ein paar Meter hinter ihr, und dann folgte Jonas. Jeder war mit sich beschäftigt, und doch waren sie in den vergangenen vier Tagen eine eingeschworene Gemeinschaft geworden. Beim Frühstück tuschelten die anderen Gäste schon über sie. Wahrscheinlich fragten sie sich, was die Frau Anfang vierzig mit den beiden Teenagern anstellte. Allein die Vorstellung, dass sie so denken konnten, beflügelte Maria, und sie legte abends in der kleinen Hotelbar die Arme auf Max’ und Jonas’ Schultern und verteilte abwechselnd Küsse auf ihren Wangen. Es war herrlich, mit anzusehen, wie sich manche Gäste an den Bartischen zur Seite drehten. Jonas’ Eltern hätten sich genauso verhalten, vor allem sein Vater. Zum Glück war er in Hamburg und damit weit weg. Der tadellose Marineoffizier a. D.

Jura. Richter oder Staatsanwalt werden. Alle würden sagen, der Sohn eifert seinem Alten nach. Aber darum ging es Jonas nicht. Er wollte es wirklich. Jura war Mathematik, war Logik. Das Gesetz zu kennen verschaffte einem in Diskussionen stets einen argumentativen Vorteil, das hatte Jonas oft genug bei seinem Vater erlebt. Das Internat hatte den Besuch von Vorlesungen an der Uni in Hamburg organisiert. Erst vor ein paar Wochen hatte Jonas eine Strafrechtsvorlesung im Erstsemester gehört. Professor Reben, ein kleiner Herr mittleren Alters mit Fliege und Haarkranz, hatte mit den Worten eröffnet, dies sei die Veranstaltung, in der Blut aus dem Overheadprojektor fließe. Der ganze Saal hatte gelacht, und der Funke war sofort auf Jonas übergesprungen. Schon der erste Fall, den der Professor geschildert hatte, war faszinierend gewesen: Ein Täter hatte nachts seinem Nebenbuhler aufgelauert und ihn erschossen. Allerdings stellte sich heraus, dass es gar nicht der Nebenbuhler war, sondern ein wildfremder Mann, den der Täter nur für den Nebenbuhler gehalten hatte. Den hatte er natürlich nicht umbringen wollen. War er trotzdem ein Mörder? Jonas hatte sich den Namen dieses realen Falls gemerkt: Es war der Rose-Rosahl-Fall, so hieß auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs dazu. Es ging um einen error in personam, also einen Irrtum über die wahre Identität des Opfers. Dieser Irrtum war strafrechtlich unbeachtlich, es kam allein darauf an, dass der Täter überhaupt einen Menschen hatte töten wollen. Das genügte für seinen Vorsatz. Die Frage, wen er hatte umbringen wollen, war unwichtig. Jonas war fasziniert gewesen, wie differenziert dabei argumentiert wurde, wie präzise Gesetze und Rechtsprechung auf die Feinheiten eines Falles achteten. Mochten andere doch denken, er tue dem Vater einen Gefallen, wenn er Jura studierte. Er wusste, dass dieser Wunsch aus seinem tiefsten Selbst kam. Und wenn er dadurch – gewissermaßen als Nebeneffekt – noch ein wenig Vaters Stolz hervorrufen konnte, war das auch nicht schlecht.

Maria ging ein paar Meter voraus. Sie machte an einer Bank halt, die zum Meer ausgerichtet war. Sie stand auf einem kleinen Vorsprung direkt am tief abfallenden Steilufer, das mit dicken Glasscheiben zwischen einer Reihe Stahlpfosten gesichert war. Der salzige Wind hatte das Glas über die Zeit milchig werden lassen. Rechts daneben, in vielleicht achtzig Metern Entfernung, ragte die Lange Anna aus der Nordsee empor, das rotfelsige Wahrzeichen Helgolands.

Maria nahm ihren Rucksack ab und holte drei Flaschen Bier heraus. Max und Jonas setzten sich zu ihr und tranken.

Max fummelte mit dem Daumennagel am Silberpapier des Flaschenhalses herum. »Ist alles okay mit Agnes?«, fragte er Maria.

»Was meinst du?« Maria hatte ihre Stirn in Falten gelegt. »Was soll nicht okay sein mit ihr?« Sie stellte die Flasche neben sich ab und band ihren vom Wind zerzausten Zopf neu.

»Sie ist nur ein einziges Mal mit uns draußen gewesen. Am ersten Abend, seitdem hockt sie in ihrem Hotelzimmer rum und liest oder macht sonst was.«

Ein paar Basstölpel schwebten durch die Luft. Sie bewegten ihre Flügel kaum. Man konnte glauben, sie hingen an unsichtbaren Schnüren.

»Kennst sie doch.« Maria zuckte mit den Schultern. »Sie macht ihr eigenes Ding. Das nennt man wohl Pubertät. Mein Mädchen. Am ersten Abend war sie noch ganz gut drauf, fand ich. Sie hat sogar ein paarmal richtig gelacht, als wir da hinten gesessen haben.« Sie zeigte zu der Stelle, wo sie sich zu viert den Sonnenuntergang angesehen hatten. »Ich bin schon froh, dass sie überhaupt mitgekommen ist. Manchmal glaube ich wirklich, sie hasst mich.«

Jonas kannte Agnes nicht gut genug, um beurteilen zu können, was in ihr vorging. Aber es war offensichtlich, dass Mutter und Tochter zurzeit auf unterschiedlichen Frequenzen funkten. Maria war keine Polizeibeamtin, wie Jonas sie sich immer vorgestellt hatte. Dafür war sie viel zu verrückt und ausgelassen. Sie tanzte in ihrer Küche zu AC/DC und leerte dabei nicht selten eine Flasche Wein, während Agnes in ihrem Zimmer saß und sich auf ihren nächsten Einsatz als Messdienerin im Gottesdienst vorbereitete. Max hatte oft davon erzählt. Maria trug Lederhosen und enge Oberteile, Agnes dagegen weite Strickpullis, und ihre langen schwarzen Haare steckte sie zu einem Dutt zusammen.

»Nicht dich, Maria«, sagte Max in den Wind hinein. »Mich. Mich hasst sie.«

Maria drehte sich zu ihm. »Dich? Red keinen Quatsch. Du bist der große Bruder. Sie bewundert dich.«

Max zupfte ein Stück Silberpapier vom Flaschenhals und schnippte es in die Luft. »Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Vielleicht wollte sie mal, dass es so wird. Aber ich bin ein Eindringling für sie. Ich habe ihr die Mutter streitig gemacht.«

»Unsinn«, sagte Maria etwas lauter. »Sie hat doch alle Möglichkeiten. Sie kann tun und lassen, was sie will. Ich hindere sie nicht daran. Und du auch nicht. Sie muss nur mal aufhören, ständig in ihrer komischen Bibel zu lesen. Das ist doch nicht normal.«

Auch davon hatte Max Jonas erzählt. Agnes hatte sich einen Holztisch in ihr Zimmer gestellt und ein großes Kruzifix darübergehängt. Es sah aus wie ein kleiner Kirchenaltar, hatte Max gesagt. Jonas hatte ihn gefragt, warum Agnes das getan hätte, aber Max hatte keine Antwort darauf gewusst. Anscheinend hatte sie ein paar Freundinnen in der Kirchengemeinde gefunden, die genauso tickten. Die Mädchen würden sich ständig treffen, und wenn sie zusammensäßen, würden sie sich aus der Bibel vorlesen. Jonas kam das reichlich beknackt vor, aber letztlich musste jeder tun, was er für richtig hielt.

Max stand auf und stellte sich an den Zaun. Er wischte flüchtig über die Glasscheibe, seine Hand hinterließ eine Spur in der matten Salzschicht. Die Wolken zogen schnell, manchmal schoben sie sich vor die Sonne und ließen Licht und Schatten miteinander spielen.

Er drehte sich zu Jonas und Maria um. »Wisst ihr was? Ich habe eine Idee. Die Menschen müssen da abgeholt werden, wo sie stehen, richtig? Deshalb gehen wir jetzt ins Hotel und schlagen Agnes vor, dass wir uns alle eine Geschichte aus der Bibel aussuchen. Die trägt dann jeder vor, und wir reden darüber. Jones, für dich wüsste ich schon eine: Jonas und der Wal.« Er lachte und nippte an seiner Flasche.

Maria schippte mit der Fußspitze ein paar Moosbüschel aus der Rasenfläche. »Sie wird uns für verrückt erklären.«

Da mochte Maria recht haben. Es war dennoch eine gute Idee. Hol die Menschen da ab, wo sie stehen – Jonas wusste wieder, warum er Max so mochte. Der Kerl war anständig. Und er kannte die Menschen.

»Einen Versuch ist es wert«, sagte er, auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er Geschichten in der Bibel finden sollte. Doch das machte nichts. Max wusste es. Er kannte sich aus mit der Heiligen Schrift. Er hielt zwar keine großen Stücke darauf, wie er oft sagte, aber er war mit ihrem Inhalt vertraut. Vielleicht war das wirklich eine Möglichkeit, um Agnes mehr einzubinden in das, was ihre Mutter, Max und Jonas waren: eine unausgesprochene, eine selbstlaufende Einheit.

»Meinetwegen.« Maria stand auf.

»Ja«, rief Max aus und streckte die Arme zum Himmel. »Lasst uns quatschen miteinander. Lasst uns Geschichten erzählen, von mir aus auch aus der Bibel. Und dann wird gefeiert. Wir trinken einen zusammen und tanzen und machen Party. Das Scheißleben ist zu kurz für Trübsal und Rumheulerei.« Er hüpfte auf der Wiese umher und lachte.

Wie ausgelassen er mit einem Mal war, so kannte Jonas ihn. Doch mit einem Mal hielt Max inne. Er bückte sich und hob einen alten Tennisball auf. Vermutlich hatte ein Hund ihn beim Spielen vergessen. Max betrachtete den Ball von allen Seiten. Er sah Jonas an und grinste. Er holte aus, hielt einen Moment in der Bewegung inne und warf den Ball in seine Richtung. Jonas duckte sich, und der Ball flog an ihm vorbei. Er traf Maria am Hinterkopf.

»Autsch«, rief sie und drehte sich um. »Sag mal …«

»Oh, nein, entschuldige. Das war ein Versehen, das wollte ich nicht. Ich wollte Jonas treffen. Tut mir leid.«

Maria fasste sich an die Stelle, an der der Ball sie erwischt hatte, und schüttelte den Kopf. »Du Esel«, sagte sie. »Übermut tut selten gut.«

Jonas hob seinen rechten Zeigefinger, er musste das jetzt raushauen. »Das war vorsätzliche Körperverletzung.«

Max lachte. »Ich wollte dich treffen, du Blödmann.«

»Das macht nichts«, sagte Jonas. »Das ist ein error in personam.« Okay, der Rose-Rosahl-Fall passte nicht völlig, aber es klang schlau.

»Hä?« Max kam auf Jonas zu. »Error … was? Hast du das von deinem Alten, du angehender Staranwalt?«

»Nicht Staranwalt. Staatsanwalt.« Jonas trank sein Bier aus. Natürlich musste Max sofort Jonas’ Alten ins Spiel bringen. Aber es wäre müßig gewesen, hier und jetzt, auf dieser Insel, an dieser Küste mit ihrem Sommerwind und dem Kräuterduft in der Luft, eine Diskussion darüber anzufangen. »Los, ab ins Hotel«, sagte er nur, legte Max einen Arm über die Schulter und zog ihn mit sich.

Auf dem Oberland war der Duty-free-Shop noch geöffnet. Max schob Jonas mit hinein, Maria wartete draußen und rauchte. Der kleine Laden war vollgestopft mit unzähligen Artikeln, vor allem Parfum und Alkohol. Die Sachen waren nicht wirklich günstiger als auf dem Festland, aber die Touristen in kurzen Kakihosen und Sandalen kauften, als gebe es kein Morgen.

Max steuerte auf das riesige Regal mit Spirituosen zu. »Hier« sagte er und zog eine Whiskeyflasche heraus. Jura stand darauf. »Alter, die nehmen wir. Passt doch super zu dir.«

Da hatte Max recht, nur würde die Frau an der Kasse nicht mitspielen. Sie guckte schon mürrisch zu ihnen herüber.

»Na, ’n büschen jung, wa? Das wird nix, Jungs.«

Max winkte Maria zu. Sie sah durch die Fensterscheibe, trat ihre Kippe aus und kam herein. »Gibt’s ein Problem?«

»Sind Sie die Mutter von den beiden?«, fragte die Kassiererin.

Maria sah erst Max, dann Jonas an. Ernst und mit trockener Stimme sagte sie: »Haben sie was ausgefressen?«

»Nee«, machte die Kassiererin und klang dabei wie das Schaf, dem Max vorhin auf die Beine geholfen hatte. Die dicke Frau hinter der Kasse sah auch so aus, als bräuchte sie dann und wann einen Schubs, um sich fortbewegen zu können.

»Die wollen Whiskey kaufen. Sind Sie nu die Mutter oder nich?«

»Klar, wer sollte ich sonst sein? Mein Name ist Linz, Maria Linz. Und das sind meine beiden Söhne Max und Jonas. Jungs, sagt guten Tag zu der Frau.«

»Guten Tag«, sagten die beiden wie aus einem Mund. Max musste sich zusammenreißen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen, Jonas konnte es am unterdrückten Lachen und den zuckenden Lippen erkennen.

»Was kostet der?«, fragte Maria und zeigte auf die Flasche, die auf dem Laufband stand.

»Vierundzwanzig neunzig«, sagte die Kassiererin.

Maria zog ihr Portemonnaie hervor, zahlte, nahm die Flasche und bedankte sich. Draußen vor der Ladentür ging sie ein paar Schritte um die Hausecke herum.

»Sagt mal, habt ihr sie noch alle? Ihr seid sechzehn. Das ist fünfundvierzigprozentiger Fusel.« Sie hielt Max und Jonas die Flasche entgegen.

»Das ist kein Fusel«, sagte Max empört. »Das ist ein zwölf Jahre alter Single Malt. Und er ist extra für Jonas gemacht.« Jetzt schoss es aus Max heraus – das Lachen, das er zurückgehalten hatte. Es war ansteckend. Maria war angesäuert, aber es half nichts, Jonas musste mitlachen.

»Ihr seid zwei Vögel«, sagte sie und ging Richtung Treppe, die zum Unterland führte.

Nach etwa dreißig Stufen kam ein Absatz, von dem aus die Hausdächer im unteren Teil der Insel zu sehen waren. Hier kamen kaum Menschen vorbei, die meisten nahmen den Aufzug, ihnen war die Treppe mit ihren hundertvierundachtzig Stufen vermutlich zu lang.

Maria stoppte. Sie grinste. »Na dann mal los, ihr Helden!« Sie öffnete die Flasche, trank einen Schluck und reichte sie Max. Der sah Jonas verblüfft an.

»Was ist?«, fragte Jonas. »Du wolltest die Pulle doch unbedingt kaufen. Also, worauf wartest du?« Er nahm Max die Flasche aus der Hand und setzte an. Der Alkohol war scharf und brannte im Hals.

Schnell entriss Max ihm die Flasche und trank ebenfalls. »Boa«, machte er und kniff die Augen zusammen. »Du bist Polizistin, Maria. Du darfst uns so was nicht geben.« Er trank gleich noch einmal.

Was machte es schon? Hier auf dieser Insel waren sie unter sich. Keiner, der ihnen Vorschriften machte, und Maria spielte sich nicht wie eine Erziehungsberechtigte auf. Auch sie setzte die Flasche noch einmal an.

»Jura«, sagte sie und lachte. »Toller Name für einen Whiskey.«

Von unten kamen ein paar Leute die Treppe herauf. Ihre Oberkörper wippten bei jedem Schritt, mit dem sie Stufe um Stufe nahmen. »Moin«, sagte einer von ihnen völlig außer Atem.

»Moin, Moin«, grüßte Maria zurück und ließ die Flasche hinter ihren Rücken gleiten.

Die Sonne war verschwunden. Ein dickes Wolkenband hatte sich vor sie geschoben, doch noch immer war der Wind warm und roch nach Salz. Draußen auf dem Meer kreuzten ein paar Segler. Von hier oben waren sie nur stecknadelgroß.

Der Alkohol wärmte, er breitete sich im Kopf aus, Jonas spürte einen Schwindel aufsteigen.

Max zeigte auf die Segler. »Jones, weißt du was? Lass uns segeln. Segeln ist cool. Ich will segeln. Mit dir.«

Die winzig kleinen Schiffe hüpften über die Wellen. Das musste ein gutes Gefühl sein. Frei und klar und auf sich allein gestellt.

»Ja«, antwortete Jonas. »Lass uns segeln. Bin dabei.«

»Lasst uns mal weiter. Agnes köpft mich sonst.« Maria verstaute den Whiskey in ihrem Rucksack, legte ihre Arme auf Jonas’ und Max’ Schultern, und gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter.

Rickmers Hotel lag direkt am Hafen, ein nicht sonderlich schöner dreigeschossiger Bau aus den Siebzigerjahren. Weiße Fassade, dunkelbraune Holzfenster mit allerlei Schiffsmodellen darin. Eine Drehtür führte ins gut zwanzig Quadratmeter große Foyer. Der nasse Sand unter den Sohlen schmirgelte beim Gehen auf den schwarz-weiß gesprenkelten Bodenfliesen. Durch die Glastür zur Linken war der Blick frei auf die kleine, menschenleere Bar mit ihren dunkelgrünen Wänden und dem Mahagonitresen, an dem Maria, Max und Jonas gestern bis Mitternacht gesessen hatten, während Agnes gleich nach dem Abendessen aufs Zimmer gegangen war. Sicher würden sie auch heute wieder dort sitzen, aber vielleicht gab es ja tatsächlich eine Möglichkeit, Agnes mehr mit einzubinden. Immer wenn Jonas miterlebte, dass sie sich herauszog aus gemeinsamen Ausflügen, bekam er ein schlechtes Gewissen. Agnes tat ihm auf unerklärliche Weise leid, und er selbst fühlte sich unwohl, wenn sie ging und die Gruppe verließ. Warum das so war, wusste er nicht, aber die Spannungen, die zwischen ihr und Max herrschten, waren nicht zu übersehen. Sie ignorierte ihn, wo es ging, sie schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Wenn er beim Frühstück etwas erzählte, schmierte sie sich ihr Brötchen, biss hinein und sah zum Fenster hinaus. Wenn er sie fragte, ob sie nicht Lust habe, mit ins Oberland zu kommen, antwortete sie mit einem knappen »Nö«. Alles, was Max tat, ließ sie an sich abprallen. Dabei war er wirklich bemüht, freundlich und rücksichtsvoll mit ihr umzugehen. Sie sollte ihn nicht für einen schlechten Kerl halten, das hatte er nicht verdient. Er hatte nichts Schlimmes getan. Max war bei ihr und Maria eingezogen, weil Max’ Vater ein Säufer war. Das Jugendamt hatte die Idee gehabt. Das hatte nicht Max sich ausgedacht.

Die Frau hinterm Tresen stand auf, als Maria, Max und Jonas auf die Rezeption zugingen. »Frau Linz, gut, dass Sie da sind.« Sie sah Max und Jonas an, beugte sich etwas über den Tresen zu Maria und sagte leiser: »Das Krankenhaus in Kiel hat noch einmal angerufen. Sie möchten bitte dringend zurückrufen. Hier ist die Nummer, Sie können mein Telefon benutzen.« Rasch stellte sie den Apparat auf den Tresen der Rezeption und verschwand in Richtung Bar.

Max lachte nicht mehr. Der Anruf konnte nur mit seinem Vater zu tun haben.

Maria nahm den Hörer auf und wählte.

»Linz hier«, sagte sie. »Herrn Dr. Paul, bitte. Er bat um Rückruf.«

Max ließ sich auf das Ledersofa am Fenster fallen. Jonas setzte sich neben ihn. Max sah an Jonas vorbei, hinaus zum Hafen. Es hatte zu regnen begonnen, Touristen liefen mit ihren aufgespannten Schirmen am Fenster vorbei. Schwarze Wolken türmten sich am Horizont auf und schoben sich über die Insel.

Maria sprach etwas in den Telefonhörer, das Jonas nicht verstand. Mit der anderen Hand strich sie sich durchs Haar. Irgendwann legte sie auf und kam an den Tisch. Sie setzte sich auf die Sofalehne neben Max und legte ihm einen Arm auf die Schultern. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest.

»Er ist tot, richtig?«, fragte Max.

Maria richtete sich auf. »Ja. Akuter Herzinfarkt, hat der Arzt gesagt. Max, es tut mir so leid.« Sie nahm seinen Kopf und zog ihn an ihren Brustkorb. Max ließ es geschehen, sein Oberkörper kippte zu Marias Seite.

Es war nicht klar, was in ihm vorging. Das Verhältnis zu seinem Vater hatte Max immer als »beschissen« bezeichnet, doch wenn er von seiner Kindheit erzählt hatte, vom Hof und den Kühen und der Großmutter, dann hatte er manchmal fast wehmütig gesagt, wie schön es gewesen wäre, wenn sein Vater für ihn da gewesen wäre, für ihn und den Hof. Dann wäre alles gut geworden. Hasste er seinen Vater? Man konnte doch eigentlich keinen Menschen hassen, den man vermisste.

Maria sagte leise zu Max: »So wie ich dich liebe – das kann sich keiner vorstellen.«

Sie meinte es sicher so, wie sie es sagte, und sie sagte es ohne Angst. Es war genau das, womit Agnes ein Problem hatte, es war ein Defizit für sie, eine Unnatürlichkeit, die es nicht geben durfte. Die Gefühle der eigenen Mutter: Sie waren für einen nicht leiblichen Jungen stärker als für die eigene Tochter. Max löste sich aus Marias Umarmung und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er zog ihren Rucksack auf, den sie neben dem Tisch abgestellt hatte, holte den Jura heraus und ließ den Korken herausploppen. »Das Zeug hat ihn umgebracht«, sagte er, hielt die Flasche kurz vor sich in die Luft und trank.

Maria nahm ihm die Flasche aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. »Max, dein Vater ist tot. Mein Bruder. Ich muss tausend Sachen regeln, wir müssen zurück nach Kiel.«

Max setzte noch einmal die Flasche an. Diesmal nahm Jonas sie ihm weg.

»Was soll denn das?«, fragte Max. »Ich denke, wir feiern heute? Wir feiern das Leben? Scheiße, ja, mein Alter ist tot. Na und? Wen interessiert das schon? Seid doch mal ehrlich. Interessiert es dich, Jones? Oder dich, Maria? Ja, er war dein Bruder. Und was hat er für dich getan?« Max’ Stimme wurde lauter. »Einen Scheißdreck. Er hat sich um nichts gekümmert. Um dich nicht, um mich nicht, nicht um den Hof oder sonst was. Nur um sich. Und dass er immer schön seinen Pegel hält.« Max riss Jonas die Flasche aus der Hand und trank. »Um nichts …«, sagte er leise. »Um nichts und niemanden. Hat seinem Sohn Kartoffelschalen zu Weihnachten geschenkt, als der geglaubt hat, er schleppt eine elektrische Eisenbahn durchs Dorf … Schreien, das konnte er. Kommandieren und durch alle Etagen brüllen. Und seine Ohrfeigen – die saßen, auf die war Verlass. Wenn du dir so ’n Ding erst mal eingefangen hast, stellste keine Fragen mehr. Und dann heulste auch nicht mehr. Dann siehste nur noch zu, daste wegkommst. Am liebsten bis zum Mond. Oder zurück ins Mittelalter. Setzt dich einfach in deine Zeitmaschine, stellst die Wunschzeit ein und fliegst los.« Max stellte die Flasche auf den Tisch.

Jonas’ Vater war ein gänzlich anderer Mensch als Max’ Vater. Er war Akademiker, gebildet, bekleidete als Richter am Oberlandesgericht – ein hoch angesehenes Amt. Er war Jonas gegenüber nie laut geworden, hatte nie die Beherrschung verloren, und Jonas hatte ihn auch noch nie betrunken erlebt. Aber in einem schienen die beiden alten Herren sich ähnlich zu sein: in der Unfähigkeit, einen Sohn zu lieben.

Jonas nahm die Flasche und trank ebenfalls. Eine Möwe knallte draußen an die Fensterscheibe, die drei zuckten zusammen. Die Möwe hüpfte ein Stück auf dem Rasen entlang und erhob sich wieder in den regengrauen Himmel.

Maria stopfte den Korken in die Flasche und steckte sie zurück in ihren Rucksack. Ihre Bewegungen waren flach und langsam, gerade so, als führten Arme und Hände etwas aus, was der Kopf nicht wollte. »Wir fahren morgen zurück«, sagte sie. »Tut mir leid, Max, aber es muss sein. Bist du so weit okay?«

Max drehte sich wieder zum Fenster. Er zeichnete in der Luft die Konturen nach, die die Möwe an der Scheibe hinterlassen hatte. Es goss in Strömen, am Horizont war kein helles Wolkenband zu erkennen.

»Bei mir sterben immer alle«, sagte er.