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HAMBURG, FEBRUAR 2021

Altenpflege war erstaunlich schnelllebig. Maria war seit zwei Wochen tot, und schon wurde ihr Zimmer neu belegt. Zum Ende des Monats lief der Mietvertrag aus, und es wäre längst geräumt gewesen, hätte der Kollege Körber es nicht gleich zu Beginn der Ermittlungen unter Erteilung eines Betretungsverbotes versiegeln lassen.

Jonas stellte seine Aktentasche auf den Boden, trommelte mit den Fingerkuppen auf dem Empfangstresen herum und wartete darauf, dass die Schwester zurückkam, die im Büro der Heimleitung verschwunden war.

Unzählige Kunstdrucke hingen an den gelb gestrichenen Flurwänden, Blumenmuster zumeist, in allen Farben, die wahrscheinlich Romantik und häusliche Geborgenheit vermitteln sollten. Doch genauer betrachtet taten sie das Gegenteil – ihr Zweck war allzu durchschaubar und stand im Widerspruch zu dem, was ein Altersheim war: die letzte Station.

Ein Pfleger schob einen Tablettwagen vorbei, es war 11:30 Uhr – Zeit fürs Mittagessen. Die beigen Warmhaltedeckel über den Tellern klapperten beim Fahren. Im unteren Teil des Wagens stand eine Kiste Staatlich Fachingen, das Heilwasser für alle über siebzig. Durch seinen hohen Natriumgehalt schmeckte es besonders mineralisch. Vater schwor darauf. Jonas mochte es nicht.

»Dr. van Loon?« Die Schwester winkte vor der hintersten Tür im Gang.

Jonas nahm seine Tasche auf. Der Pfleger brachte ein Tablett in ein Zimmer. Jonas’ Blick fiel für einen Moment durch die offene Tür. Ein Mann lag in seinem Bett und stöhnte. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, er hatte den Kopf zur Seite gedreht und schaute aus dem Fenster. Der Geruch hölzernen Rasierwassers hing in der Luft. Jonas zwang sich, nicht weiter in das Zimmer zu schauen, und ging schnellen Schrittes den Flur entlang.

»Herr van Loon, wie schön«, begrüßte ihn Heimleiterin Anke Paulini, als er ihr Büro betrat. Sie erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und gab Jonas die Hand.

Schon vor anderthalb Jahren, als Jonas sie zuletzt gesehen hatte, hatte sie eine kräftige Figur. Sie war nur eine Spur kleiner als Jonas, dafür doppelt so breit, und es kam ihm so vor, als seien seitdem noch einmal ein paar Pfunde dazugekommen.

Sie bot ihm Kaffee an, Jonas nahm ihn schwarz wie immer.

Draußen hing Nebel über der Elbe, ein paar Vögel kreisten in Dreiecksformation. Zwei Schuten hatten Kohlen geladen und fuhren flussaufwärts Richtung Hafen. Männer lehnten an der Reling und rauchten. Die Szenerie wirkte, als stamme sie aus einem alten Schwarz-Weiß-Film, farblos und blass.

»Danke, Frau Paulini, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Es wird nicht lange dauern. Ich würde mir nur gern ein eigenes Bild verschaffen.«

Vielleicht kannte sie den Ablauf eines Ermittlungsverfahrens aus Fernsehkrimis. Die Polizei ermittelte, und der Staatsanwalt trat frühestens im Gerichtssaal auf. Vielleicht fragte sie sich, warum Jonas – ein Oberstaatsanwalt – persönlich vor ihr stand. Doch die Gefahr, dass sie unredliche Absichten bei ihm vermutete, war nicht wirklich gegeben, vor allem deshalb nicht, weil sie wusste, dass Jonas ein enger Freund der Familie war.

»Wenn Sie mögen, gehen wir gleich rüber in Frau Linz’ Zimmer. Ihre Möbel und ein paar persönliche Gegenstände sind noch da, das Zimmer wird erst morgen geräumt.«

Persönliche Gegenstände? Am Abend nach der Beerdigung hatte Agnes erzählt, sie habe alles an sich genommen oder entsorgt.

»Gern«, sagte Jonas.

Das Zimmer lag in einem Seitenflügel des Trakts, die Tür war verschlossen und mit polizeilichem Siegelband gesichert. Jonas holte sein kleines Taschenmesser aus der Aktentasche und ritzte das Band auf. Paulini sah ihm dabei zu.

»Keine Sorge«, sagte Jonas. »Ich darf das.«

In dem gut zwanzig Quadratmeter großen Zimmer hing muffige Luft, es roch nach alter Kleidung, zu süßem Parfum und etwas säuerlich nach Ammoniak. Das Bett mit elektrisch verstellbarem Kopfteil stand links an der Wand, rechts daneben ein Kleiderschrank mit Buchenfurnier und daneben – vor dem Fenster zum Park – ein grauer Lehnsessel mit einer Fußbank und einem kleinen Tisch davor.

Das Bett war nicht gemacht, Decke und Kissen lagen zerwühlt auf der Matratze. Es schien, als sei gerade jemand daraus aufgestanden. Auf dem kleinen Nachtschrank lag ein Bild in einem Messingrahmen, Format 13x18. Jonas nahm es auf. Maria, wie sie in die Kamera lacht. Ihre Haare wehen im Wind. Im Hintergrund die Steilklippen Helgolands, die in der Abendsonne rot zu brennen scheinen.

»Sagten Sie nicht am Telefon, Frau Linz’ Tochter sei hier gewesen?«

Paulini nickte. »Es sind noch andere Sachen da, die sie nicht mitgenommen hat. Hier, schauen Sie mal.« Sie öffnete die Nachttischschublade und nahm eine kleine Holzschachtel heraus. »Ihr ganzer Schmuck. Die Tochter wollte ihn nicht haben.«

Jonas öffnete den Deckel. Eine Halskette lag darin, ein Armreif mit Perlmuttbesatz, silberne und goldene Ringe, eine Armbanduhr. Er nahm die Uhr heraus. Wie genau er sich noch an sie erinnern konnte. Das Edelstahlarmband, das graue, wellenförmig eingefasste Ziffernblatt mit Datumsanzeige. Die Uhr war stehen geblieben. Jonas löste das Rädchen an der Seite und zog die Uhr auf. Die Zeiger setzten sich in Bewegung.

Es war Max’ Idee gewesen. Zu dritt hatten sie Marias Geburtstag gefeiert. Auf der Fähre Richtung Helgoland hatten Max und Jonas so getan, als hätten sie die Uhr im Duty-free-Shop an Bord gekauft. Tatsächlich hatte Max sie zuvor in Hamburg besorgt. Eine Omega Ladymatic. Max hatte gesagt, er habe sie günstig bekommen, und Jonas hatte ihm zweihundert Euro dazugegeben. Sie hatten an Deck gesessen, zwischen den ganzen Tagestouristen, die auf die Insel wollten. Jonas hatte einen Sektkorken knallen lassen, nacheinander hatten sie im warmen Fahrtwind der Julisonne aus der Flasche getrunken. Es war die einzige Armbanduhr, die Maria je besessen hatte. Erst Jahre später hatte Max gestanden, dass sie über fünftausend Euro gekostet hatte.

»Wir können die Sachen erst einmal in der Asservatenkammer lagern, da sind sie sicher. Ich veranlasse das. Was ist mit ihrer Kleidung?« Jonas legte die Uhr zurück in die Schachtel und verschloss den Deckel.

»Auch noch alles da.« Paulini öffnete den Schrank.

Oben rechts befand sich ein kleiner Safe, seine Tür stand offen, er war mit weinrotem Samt ausgeschlagen und leer.

Die Schrankfächer darunter und die Querstange in der Mitte waren vollgestopft mit Jacken, Mänteln, Pullovern und Blusen. Jan Körber hatte offenbar noch keine Sicherstellung der Sachen veranlasst. Da lagen Tücher in allen Farben, mit Leoparden- und Blumenmustern, Schals, Handschuhe, Stricksocken. Kleidungsstücke, die vermutlich seit Jahren die Dunkelheit des Schrankes nicht mehr verlassen hatten. Auf Marias schwarzem Wollmantel lag eine dünne Staubschicht. Es war ihr Lieblingsmantel gewesen, sie hatte ihn oft getragen, auch bei der Beerdigung von Max’ Vater. Jonas nahm den Mantel vom Bügel und zog ihn heraus. Er hielt ihn ins Licht. Da war noch immer der kaum erkennbare Rand auf der linken Brust. Maria hatte geschimpft wie ein Rohrspatz. Jonas musste schmunzeln. Max und er hatten mit Maria an einem Glühweinstand auf dem Kieler Weihnachtsmarkt gestanden. Eine Frau hatte Max im Menschengedränge angerempelt, sein Glühwein ergoss sich aus der Tasse direkt auf Marias Mantel. Sie hatte sich furchtbar geärgert, nicht über Max, sondern über die Frau. Der Abend war zu Ende gewesen, kaum dass er begonnen hatte.

Jonas berührte die zusammengefalteten T-Shirts und Pullover, die in einem Fach übereinandergestapelt lagen. Ein weißes Seidentuch war daneben an die Seite gestopft. Jonas zog es heraus und konnte es nicht fassen: Es war das Seidentuch von damals, es war es tatsächlich. Für einen Moment schien der Raum sich zu verdunkeln, doch schon war das Tageslicht wieder da. Auf dem glatten Stoff schimmerten ein paar blassgraue Flecken, nur ihre Konturen waren noch erkennbar, schwach wie Wasserzeichen.

»Herr van Loon?«

Jonas fuhr zusammen. Die Stimme kam wie aus einem Versteck.

»Alles in Ordnung?«, fragte Paulini.

»Ja, ja, alles okay.«

Jonas hatte keinen Schlüssel fürs Haus gehabt und sich auf der Terrasse in die Hollywoodschaukel gelegt. Er war eingeschlafen. Irgendwann hatte Maria vor ihm gestanden, hatte ihn auf die Beine gestellt und ins Haus geschafft, um die Platzwunde am Kinn zu versorgen. Das weiße Tuch, das er jetzt in der Hand hielt, war blutverschmiert und völlig verdreckt gewesen. Maria hatte es offenbar, so gut es ging, gereinigt – und nie entsorgt.

»Ich lasse das alles abholen, das kann erst einmal mit zu den Asservaten, auch wenn es wahrscheinlich irgendwann im Müll landet.« Er steckte das Tuch zurück ins Kleiderfach.

»Ist dann diese amtliche Versiegelung endlich aufgehoben?« Paulini schüttelte die Bettdecke auf und ließ sie auf die Matratze fallen. Sie strich den Stoff mit beiden Händen glatt.

»Geht Ihnen nicht schnell genug, was?« Jonas schloss die Schranktür.

»In der Pflege ist Geld Mangelware, da zählt jeder Tag.«

Die Trauerweide draußen im Park, von der Max gesprochen hatte, ließ ihre dünnen Zweige hängen. Sie waren kahl und schimmerten im trüben Licht des Nachmittags. Von hier sahen sie unwirklich aus, wie gemalt. Was Maria wohl gedacht und gefühlt haben mochte bei diesem Anblick? Vielleicht war ihr das alte Sprichwort in den Sinn gekommen, das sie oft bemüht hatte: Wenn ein Baum im Sturm fällt, besaß er mehr Zweige als Wurzeln. Maria hatte bei diesen Worten immer besonders ernst geblickt, um die Bedeutung zu unterstreichen. Max hatte dann meist übertrieben mit dem Kopf genickt und ihr freundlich zu verstehen gegeben, sie solle Ruhe geben.

»Frau Paulini, ich möchte nicht unhöflich sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Einrichtung wie diese hier Unsummen an Geld verschlingt und dass Sie natürlich die Wirtschaftlichkeit im Auge behalten müssen. Aber es geht um Menschen und im speziellen Fall von Frau Linz um die Aufklärung eines möglichen Verbrechens. So etwas braucht Zeit, und ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder Verstorbene es verdient hat, dass wir uns diese Zeit nehmen. Meinen Sie nicht?«

Paulini zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Sie schüttelte das Kopfkissen auf, faltete es in der Mitte und ließ es aufs Bett fallen. »Wenn Sie mich dann nicht mehr brauchen?« Sie ging zur Tür.

»Moment.« Jonas sah hinaus in den Park.

Eine Windböe fuhr in die Trauerweide. Die Äste bewegten sich in der Luft, Jonas hörte das Knacken des Holzes.

»Ich brauche bitte eine Liste aller Mitarbeiter, die an dem Tag Dienst hatten. Dazu benötige ich Angaben, wer welche Aufgabenbereiche auf welchen Stationen zu erledigen hatte, und ich hätte gern noch einmal die vollständige Krankenakte von Frau Linz im Original.« Er drehte sich zu Paulini.

»Ich werde alles raussuchen lassen«, sagte sie.

»Wer hat die Tote überhaupt entdeckt?«

»Schwester Sonja. Warum?«

»Ist sie im Haus? Ich würde gern mit ihr sprechen.«

»Einen Augenblick.« Paulini verließ das Zimmer.

Jonas griff seine Tasche, öffnete den Kleiderschrank und nahm das Seidentuch heraus. Er stopfte es in seine Aktentasche, verschloss sie und ließ die Schranktür sachte zugleiten.

Als er sich umdrehte, fielen ihm an der Wand über dem Bett zwei kleine Nägel auf. Sie steckten im Abstand von vielleicht dreißig Zentimetern nebeneinander. Er stützte sich auf dem Bett ab und beugte sich näher heran. Er versuchte, einen der Nägel aus der Wand zu ziehen, aber er war fest; der andere ebenso. Jonas trat zurück, nahm den Bilderrahmen vom Nachttisch und drehte ihn um. Auf der Rückseite befand sich ein Aufhänger, ein kleines, bewegliches Metalldreieck. Er hockte sich mit einem Knie aufs Bett und hängte das Bild an einen der Nägel. Vom Rand des Bilderrahmens war der andere Nagel gute zehn bis zwölf Zentimeter entfernt.

Jonas zog die Nachttischschublade auf – nichts. Er sah im Kleiderschrank nach – ebenfalls nichts. Auf der Fensterbank, dem kleinen Tisch und der Ablage darunter: Fehlanzeige. Irgendetwas musste an dem zweiten Nagel gehangen haben. Er ging in die Knie und sah unterm Bett nach. Ein paar Staubmäuse wehten über das Linoleum. Als er sich am Bett aufrichtete, bewegte es sich ein paar Zentimeter zur Seite. Etwas fiel an der Wand zu Boden. Jonas trat an das Fußende, schob das Bett noch weiter von der Wand weg und bückte sich. Körber hatte offenbar keine Sicherstellung angeordnet, scheinbar war das Zimmer von der Kripo noch nicht einmal genauer durchsucht worden. Jonas hob ein Holzkruzifix vom Boden auf und hielt es ins Licht. Der Leib Jesu Christi war detailreich herausgearbeitet, sogar das schmerzverzerrte Gesicht und die Nägel an Händen und Füßen waren zu erkennen.

Auf der Rückseite befand sich wie bei dem Bilderrahmen ein kleines Metalldreieck als Aufhänger. Zur Probe hängte Jonas das Kreuz an den freien Nagel. Beides musste jemand aufgehängt haben, der etwas von Symmetrie verstand. Der Querbalken des Kreuzes lag mit seiner Oberkante in einer exakten Linie mit der Oberkante des Bilderrahmens. Das konnte unmöglich das Werk von Maria gewesen sein, dafür war sie zeit ihres Lebens viel zu chaotisch gewesen.

Jonas nahm Bild und Kreuz von der Wand und verstaute beides in seiner Aktentasche. Als er die zweite Lasche schloss, öffnete sich die Tür.

»Sonja, das ist Herr Dr. van Loon. Er ist Staatsanwalt und ein Freund unserer verstorbenen Frau Linz. Er möchte dir ein paar Fragen stellen.« Paulini nickte kurz und schloss die Tür von außen.

»Sagen Sie … Schwester Sonja … Wie ist Ihr Nachname?«

»Schatz«, sagte sie. »Wie der Schatz.«

»Sehr gut. Also, Frau Schatz, Sie haben als Erste gesehen, dass Frau Linz gestorben war?«

»Ja. Richtig.«

»Wann war das? Ich meine: um welche Uhrzeit?«

»Das war ungefähr gegen halb zwölf. Ich wollte Frau Linz für das Mittagessen vorbereiten?«

»Vorbereiten? Wie meinen Sie das?«

»Na ja, waschen, ein frisches Oberteil anziehen, ihr in den Rollstuhl helfen. Das konnte sie nicht mehr allein.«

»Verstehe. Und dann sind Sie ins Zimmer gekommen und …«

Sonja Schatz begann zu weinen. Sie presste sich eine Hand vor den Mund. »Entschuldigung. Es ist nur so … so merkwürdig gewesen alles.«

»Wie, merkwürdig?«

Sie putzte sich die Nase mit einem Taschentuch. »Klar, Frau Linz war dement und konnte vieles nicht mehr ohne fremde Hilfe. Manchmal nässte sie ins Bett oder saß stundenlang regungslos hier in ihrem Sessel. Aber das kennt man ja, das ist bei der Krankheit ganz normal.«

»Sie meinen, sie war ansonsten gesund?«

»Nicht direkt gesund, aber auch nicht so krank, dass sie von jetzt auf gleich sterben würde. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Vor allem nicht an einem Herzinfarkt. Ihr Herz war total fit. Das hat auch unser Arzt hier im Heim immer gesagt.«

Jonas trat ans Fenster. Der Wind hatte zugenommen, die dünnen, graugrünen Äste der Trauerweide zappelten wie Luftschlangen. »Haben Sie deshalb die Polizei gerufen? Weil Sie dachten, es könnte vielleicht kein natürlicher Tod gewesen sein?«

»Ich habe die Polizei nicht gerufen.«

»Wer dann?«

»Die Chefin, glaube ich.«

Ein paar Äste der Weide hielten dem Sturm nicht länger stand und knickten ab. Krachend fielen sie ein paar Meter entfernt zu Boden.

»War sie ebenfalls der Meinung, es könnte etwas nicht stimmen?«

»Weiß ich nicht. Das müssen Sie sie fragen. Auf jeden Fall hat die Tochter einen Riesenaufstand gemacht.«

Jonas drehte sich zu ihr. »Die Tochter? Sie meinen Agnes Linz?«

Sonja Schatz setzte sich auf die Bettkante und nickte. »Die kam am nächsten Tag hierher und redete die ganze Zeit davon, dass Dr. Keller Frau Linz umgebracht hätte. Die war gar nicht mehr zu beruhigen. Dr. Keller hätte sie auf dem Gewissen und so weiter. Das wurde der Chefin irgendwann zu bunt, da hat sie die Polizei geholt.«

Kein einziges Wort hatte Agnes davon erzählt, bei der Beerdigung nicht und auch nicht danach beim Kaffeetrinken. Sie hatte den Verdacht bewusst auf Max gelenkt. Die verstoßene Tochter, die ihre Chance gekommen sah. Das passte ins Bild. Sie hasste Max seit dem Unfall. Für sie war er schuld an Achims Tod, das musste irgendwann gesühnt werden. Die Freiheitsstrafe, die Max damals bekommen hatte, reichte ihr scheinbar nicht.

Ja, das passte zusammen. Es war keineswegs ausgeschlossen, dass Agnes ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Sie war schon zu Studentenzeiten schwer durchschaubar gewesen und hatte zu irrationalem Handeln geneigt. Dennoch, eines fügte sich nicht ins Bild: Wenn sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Maria gehabt hatte – woher wusste sie dann, dass ihre Mutter sterben wollte und Max ihr dabei helfen sollte?

Jonas sah auf die rechte Tür des Kleiderschranks. Dahinter befand sich der Safe. Er war noch immer offen. Und leer.

»Wissen Sie zufällig, wann die Tochter das letzte Mal zu Besuch gekommen ist?«

Sonja Schatz zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe sie hier schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Warum fragen Sie?«

Jonas gab der Frau die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er und ging.