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WIEN, FEBRUAR 2021

»Das wird nichts.« Jonas setzte das Bettgestell auf einer der Stufen im gekachelten Hausflur ab.

»Schieb noch mal ein Stück nach links und dann hochkant.« Lara drückte das Kopfteil des Bettgestells in die Luft. Jonas schob hinten am Fußende.

Laras neue Wohnung lag in einer Stadtvilla im dritten Bezirk, von hier aus waren es nur etwa zwanzig Fußminuten bis zum Stephansdom. An Sightseeing war allerdings nicht zu denken, erst musste der Rest von Laras Möbeln die vierunddreißig Holzstufen hinauf.

Die Luft stand im Flur, mit knapp zwanzig Grad war es viel zu warm für Ende Februar. Jonas rannen Schweißtropfen über die Stirn, er wischte sie mit seinem Hemdsärmel ab. Das Bettgestell war nicht besonders schwer, nur sperrig und ließ sich schlecht drehen auf dem Treppenpodest.

Lara zog, Jonas schob. Mit vereinten Kräften schafften sie das Gestell bis vor die Wohnungstür und weiter in Laras Schlafzimmer. Die Räume maßen eine Höhe von über drei Metern und waren frisch renoviert, mit aufgearbeiteten Dielenböden und Stuckdecken. Es roch nach Farbe und Bohnerwachs.

Jonas legte Lattenrost und Matratze auf das Bettgestell und schob es in den kleinen Erker, der von zwei schmalen Fenstern an den Seiten und einem breiteren in der Mitte eingerahmt war.

Lara kam mit einer Flasche Mineralwasser und Gläsern aus der Küche und setzte sich neben ihn aufs Bett. Er trank in großen Schlucken, sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Ein Fenster war gekippt, die Stimmen der Menschen, die gegenüber auf dem Rochusmarkt einkauften, drangen ins Zimmer. Gläser klangen, es wurde gelacht. Der vorzeitige Frühling ließ Hormone tanzen, die Leute saßen in der Sonne, tranken Weißwein und aßen miteinander. Ein später Samstagvormittag in Wien. Jonas hätte wenigstens ein Auslandssemester hier studieren sollen – eine Stadt, in der das Leben eine Handbreit lieblicher war.

Er spürte seinen Rücken. Seit gestern früh hatten Lara und er geschleppt, hatten Möbel ab- und wieder aufgebaut, Umzugskartons transportiert und unzählige Bücherkisten von einem zum anderen Ort gebracht. Er war zu alt für so etwas, aber er wollte keine einzige Sekunde der vergangenen dreißig Stunden missen.

»Ist noch was im Bulli?«

Lara schüttelte den Kopf. »Höchstens Kleinkram. Ich glaub, wir haben es.«

Jonas stellte das Glas beiseite und ließ sich mit seinem kneifenden Rücken auf die Matratze fallen. »Gott sei Dank.«

Sie legte sich neben ihn, gemeinsam starrten sie an die weiße Decke. Stuckornamente schlängelten sich wie Blumenranken an der Wandkante entlang, oder nein, es konnten auch Noten sein. Sie waren wahllos angeordnet, standen kreuz und quer und über Kopf und griffen ineinander. Eine versteckte Komposition, niemand konnte sie spielen, und doch gab es sie.

»Darf ich dich was fragen?« Lara drehte sich zu ihm und stützte ihren Kopf mit dem Unterarm ab.

»Klar«, sagte Jonas. »Alles.«

»Ist wieder was mit Mama?«

Von draußen wehte das Lachen einer Frau ins Zimmer.

»Was meinst du?«

Lara richtete sich auf, blieb aber auf der Bettkante sitzen. »Du bist irgendwie so … so ruhig, so in dich gekehrt. Gestern auch schon. So kenne ich dich gar nicht. Bedrückt dich was?«

Seine kluge, feinsinnige Tochter. Sein kleiner Fels in der Brandung. Das absolute Gehör, über das sie verfügte, ließ sie nicht nur in der Musik die schlechten von den guten Tönen unterscheiden.

Jonas rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Mit Mama und mir ist nichts, mach dir keine Sorgen.«

»Und mit dir? Ist da was?«

Sie ließ nicht locker. Aber es half nichts, sie mit seinen Sorgen zu belasten. Max, Maria, Agnes. Der Unfall von damals, Jonas’ bevorstehender Karrieresprung, der schnell zum Knick werden konnte, wenn er sich nicht in Acht nahm. Das alles ließ ihn seit Tagen nicht mehr ruhig schlafen.

»Ich habe vor allem mächtigen Hunger.« Er versuchte ein Lächeln.

Sie nickte langsam. »Magst du Brötchen?«

»Klar. Du kennst doch deinen Vater.«

»Nun, diese sind … anders.« Lara stand auf und zog Jonas vom Bett. »Ich lad dich ein. Ist gleich unten, da gibt es einen Stand. Komm schon.«

Auf der Straße zwitscherten Vögel in den Baumkronen. Jonas verschloss den Bulli, der treu wie ein Gaul vor dem Saloon wartete. Nein, er würde ihn niemals verkaufen. Christiane hatte ihn nie gemocht. Sie verband mit ihm das, was Jonas neben seinem seriösen Juristendasein auch war: ein Altrocker, der bis heute am liebsten Selbstgedrehte rauchte und Musik machte. Für ihn war der Bulli ein Kumpel aus vergangener Zeit, mit dem er durch dick und dünn gegangen war. So etwas schweißte zusammen, davon trennte man sich nicht.

Die Sonne wärmte die Straßen. Letzte Woche hatte es noch Minusgrade gehabt, jetzt saßen die Menschen in hellen Hosen und T-Shirts an den Tischen und genossen die ersten Frühlingsboten.

Lara steuerte auf ein kleines Verkaufshäuschen zu, vor dessen Eingang noch ein Tisch frei war. Im Inneren trennte ein großer Glastresen den Raum in zwei Hälften. Hinter dem Glas lagen Brotscheiben, die alle auf das exakt gleiche Maß von etwa acht mal vier Zentimetern zugeschnitten und mit Aufstrichen unterschiedlichster Farben und Konsistenzen belegt waren.

»Was ist das?«, fragte Jonas überrascht.

Lara lachte. »Das sind Brötchen. Ein Geheimtipp in Wien. Die pürierten Aufstriche machen sie hier täglich frisch. Der da, zum Beispiel …« Sie zeigte auf einen eher unappetitlich aussehenden grauen Brei. »Der ist mit Matjes. Und der dahinter, der gelbe, der ist mit Ei und Lachs. Such dir was aus.«

Matjes, Ei, Lachs – das klang vertraut. Er nahm jeweils zwei davon. Lara suchte sich ebenfalls ein paar dieser Brötchen aus, bestellte noch zwei Eistee dazu und zahlte.

Jonas spannte den Sonnenschirm auf, der neben dem freien Tisch stand. Er setzte sich und prostete Lara zu.

»Danke dir, Paps. Warst ’ne super Hilfe.«

»Keine Ursache.« Er biss in eine der Brotscheiben. Die graue Paste schmeckte wunderbar nach Fisch.

»Und?«, fragte Lara.

»Großartig«, sagte er und biss gleich noch einmal hinein.

Die Leute auf dem Platz ließen sich treiben. Marktstände boten frisches Obst und Gemüse, Fleischwaren, Fisch, Käse und Blumen an. Es war wie im Urlaub, nur dass Jonas schon bald wieder zurück nach Hamburg musste.

Er nahm einen Schluck Eistee und sah zu einem älteren Paar hinüber. Die Frau starrte den Mann aus glasigen Augen an und zog an ihrer Zigarette. Sie schaute mürrisch drein, und es schien, als könne der Mann machen, was er wollte – er konnte sie nicht zufriedenstellen.

Christiane konnte auch so gucken – ein Blick, der Jonas verriet, dass sie nur darauf wartete, ihm irgendeinen Vorwurf aufzutischen. Genauso hatte Agnes Max angestarrt, als sie an Marias Grab standen. Agnes hatte nichts mit Christiane gemeinsam. Aber dieser Blick – der war wie aus einem Guss. Gerade so, als habe sie Max ohrfeigen oder würgen wollen.

Lara legte ihre angebissene Brotscheibe auf den Teller und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Was ist?«, fragte er.

»Wenn du nicht darüber reden willst, okay. Aber irgendwas stimmt nicht mit dir. Ich bin nicht blöd.«

Natürlich stimmte etwas nicht mit ihm. Die Sache mit Max war allgegenwärtig. Jonas wusste nicht, was er glauben sollte, die Grenzen zwischen wahr und unwahr, zwischen richtig und falsch waren aufgehoben. Vielleicht hatte Max Maria Leid erspart und ihr einen letzten Wunsch erfüllt. Doch ebenso gut konnte er sie heimtückisch ermordet haben, aus Habgier. Lara war eine erwachsene Frau, sie verstand etwas von der Welt und den Menschen. Aber vielleicht war sie noch zu jung für die Abgründe.

Er stellte sein Glas auf dem Tisch ab. »Dir kann ich nichts vormachen.«

Lara zuckte mit den Schultern.

Vielleicht sollte er Lara teilhaben lassen an dem, was ihn um den Schlaf brachte. Sie war klug und modern. Es war eine Anmaßung des Alters, zu glauben, sie sei zu jung für die Wahrheit. Wahrscheinlich war es wohl eher so, dass Jonas zu alt war für den Mut, den es brauchte, um seiner Tochter gegenüber die eigene Hilflosigkeit zu offenbaren.

»Es geht um Max. Er hat Mist gebaut, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ist ziemlich verworren alles – obwohl … eigentlich auch nicht. Ich stehe mir wahrscheinlich nur selbst im Weg.«

Lara zündete sich eine Zigarette an. »Paps. Du guckst seit gestern wie drei Tage Regenwetter. Wenn du magst – erzähl’s mir. Weißt doch: Ich bin Expertin für verworrene Kompositionen. Denk an Beethovens Violinkonzert D-Dur – das hab ich voll drauf.«

Jonas musste lachen. Sie war so unbeschwert. Die Unverletzlichkeit der Jugend sprudelte aus ihr, dieses Lebensbejahende, Ungestüme – eine Eigenschaft, die im Laufe der Jahre an Kraft verlor, bis sie irgendwann ganz verschwand und Probleme und Sorgen den Tag bestimmten. Lara hatte bei jeder Gelegenheit den passenden Spruch auf der Zunge und traf ihren alten Vater damit ins Mark. Um ehrlich zu sein, fühlte er sich jung und vergleichsweise modern. Doch in diesem Augenblick wurde deutlich, wie weit seine eigene Uhr schon vorangeschritten war.

»Und ob du das draufhast.«

Drüben, ein paar Tische weiter, stand das ältere Paar auf und ging. Die Frau hatte sich bei ihrem Mann eingehakt. Vielleicht hatten sich die beiden versöhnt, vielleicht war es auch nur Gewohnheit.

»Dass er der schlechteste Patenonkel ist, den die Welt je hervorgebracht hat, darüber sind wir uns einig. Also lass hören: Was hat er ausgefressen?«

Ausgefressen. Wenn es so etwas nur gewesen wäre – ein Kinderstreich und keine Straftat.

»Maria ist vor ein paar Wochen gestorben. Sie war schwer dement und wollte nicht mehr. Zumindest behauptet Max das.«

»Hm«, machte Lara. »Die paar Male, als ich sie erlebt habe, hat sie einen ziemlich lebenslustigen Eindruck gemacht. Aber gut, wann habe ich sie zuletzt gesehen? Ist bestimmt vier oder fünf Jahre her.«

»Lebenslustig war sie, oh, ja.«

»Und was hast du mit der Sache zu tun?«

Von gegenüber schlug eine Kirchturmuhr dreimal zur vollen Stunde.

»Max hat ihr ein tödliches Medikament gegeben. Und kurze Zeit später ist er bei mir aufgetaucht.«

»Ach du Scheiße«, sagte Lara. »Sitzt er im Gefängnis?«

»Nein, das nicht, aber strafbar kann sein Verhalten allemal sein.«

»Und was geschieht jetzt mit ihm?«

»Kommt drauf an, was genau passiert ist. Wenn Maria wirklich sterben wollte, könnte es Tötung auf Verlangen sein. Dann droht ihm eine zwei-, vielleicht dreijährige Haftstrafe und vor allem der Entzug seiner Approbation. Das wäre das Ende für ihn. Er hat Geldprobleme. Und das könnte die Sache sogar zu einem Mord machen. Rate mal, wen Maria zu ihrem Alleinerben eingesetzt hat.«

»Oje.« Lara drückte ihre halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Deshalb glaubst du ihm die Geschichte mit dem Sterbewunsch nicht. Hat sie denn irgendwas Schriftliches hinterlassen? Ich meine, gibt es irgendwas, womit sich ihr Wunsch belegen lässt?«

»Das ist das Problem. Max hat mir einen Abschiedsbrief von ihr gegeben und eine Patientenverfügung. Darin steht ausführlich, dass sie im Falle unumkehrbaren Leidens von ihm getötet werden möchte. Nur ist das alles nicht unterschrieben, es sind einfache Ausdrucke. Jeder könnte sie angefertigt haben. Auch Max. Ich weiß einfach nicht, ob ich ihm glauben kann.«

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete sich die Tür der Kirche, und ein paar Menschen traten heraus. Ein Mann trug einen Säugling auf dem Arm. Die Frau neben ihm, mit einem weißen Hosenanzug gekleidet, hielt die Hand des Babys.

Lara kniff die Augen zusammen. »Jill, meine Mitbewohnerin, bleibt übrigens in der Wohnung. Hast ja vorhin ihr Zimmer gesehen, ist alles noch voll.«

»Deine Mitbewohnerin? Wie kommst du denn jetzt auf die?«

»Schneider, der Hausmeister an ihrer Schule, hat ihr damals unterstellt, sie hätte hundert Euro aus seiner Wechselgeldkasse im Kiosk der Aula geklaut. Er hat sie wegen Diebstahls angezeigt. Die Polizei hat die halbe Schule vernommen, und ein paar haben gesagt, sie hätten gesehen, wie Jill heimlich in den Kiosk geschlichen sei. Sie musste irgendwelche Arbeitsstunden ableisten, ein Jugendrichter hatte sie dazu verdonnert. Mir gegenüber hat sie geschworen, sie sei es nicht gewesen. Und ich weiß nicht, warum, aber ich glaube ihr. Ich kann mir partout nicht vorstellen, dass sie sich so asozial verhält. Ich hab über ein Jahr mit ihr zusammengewohnt, sie ist klasse. Fürsorglich, ehrlich, einfach ein toller Mensch.«

Drüben vor dem Kirchenportal tranken der Mann mit dem Säugling und die Frau in Weiß mit ein paar anderen Sekt. Vermutlich feierten sie Taufe. Jonas war bei Laras Taufe über eine Baumwurzel gestolpert und wäre fast gestürzt. Er hatte Lara auf dem Arm getragen. Wenn er jetzt daran dachte, wie er sich in letzter Sekunde am Baumstamm abgefangen hatte, fuhr ihm noch immer der Schreck in die Knochen.

»Entschuldige … Jill … Wenn ihr zwei euch so gut versteht, warum ziehst du dann aus?«

Lara drehte sich kurz um und sah rüber zum Haus, in dem sich die WG befand. »Egal«, sagte sie. »Du wolltest von Max erzählen.«

»Ach so, ja, also … Max, der war zwar immer etwas verrückt, aber er ist ein anständiger Kerl, auch wenn er sich nicht um sein Patenkind gekümmert hat.« Jonas klopfte Lara auf den Oberschenkel. »Keine Ahnung, aber irgendwie glaube ich, dass er seine Gründe dafür gehabt hat. Er hat sein ganzes Leben lang versucht, moralisch richtig zu handeln. Dass er vor einigen Jahren den Kontakt zu dir und auch zu mir so abrupt abgebrochen hat, ist mir bis heute nicht erklärlich. Und was Maria ihm bedeutet hat, weiß ich sehr genau, ich kenne ihn seit dem Internat. Sie war wie eine Mutter für ihn.«

»Das heißt was?«

Der Täufling wurde ungeduldig, er begann zu quäken, was sich schnell zu einem lauten Babyschreien auswuchs.

»Das heißt, dass er ihr niemals ein Haar gekrümmt hätte. Nicht für alles Geld der Welt.«

»Na, dann ist doch alles geritzt.« Lara prostete Jonas zu.

»Ich muss ihn trotzdem anklagen. Ob Maria sterben wollte oder nicht – alles sieht danach aus, als habe er ihr die Medikamente in den Mund geschoben. Mir gegenüber hat er das sogar zugegeben, aber auch die äußeren Umstände sprechen dafür. In Marias Zimmer wurde eine Spritze gefunden, außerdem konnte sich Maria aufgrund der Demenz vermutlich gar nicht mehr genug bewegen, um die Medikamente selbst zu schlucken. Und das wäre dann nicht mehr nur straffreie Sterbebegleitung, das wäre aktive Sterbehilfe und strafbar. Er wird um eine Anklage nicht herumkommen.« Jonas kippte seinen Eistee in einem Zug hinunter.

»Du? Wieso musst du ihn anklagen? Er ist ein enger Freund von dir. Gibt’s da nicht so was wie einen Interessenkonflikt? Wie nennt man das noch? Befangenheit.«

Erst kam das Fressen, dann die Moral. Brechts obiter dictum galt bis heute – auch für Jonas. Es war nicht richtig, was er tat. Er benutzte das Gesetz, um es zu umgehen. Er tat es für einen Freund, aber das machte die Sache nicht besser.

»Er hat mich ausdrücklich darum gebeten. Er glaubt, wenn ich die Anklage vertrete, kommt er ungeschoren aus der Nummer raus.«

»Und darauf hast du dich eingelassen? Nicht dein Ernst.«

Hau ab!, hatte Max ihm damals blutverschmiert zugeraunt. Verpiss dich! Jonas hatte erst gezögert, dann hatte er sich in Bewegung gesetzt und war losgelaufen. Bis zu Marias Terrasse. Maria hatte sofort gewusst, was los war, und sie hatte geschwiegen, ein Leben lang. So wie Max. Erst kam das Fressen, dann die Moral. So war das Leben. Jonas wäre gern besser gewesen als alle anderen, aber dafür war es zu spät. Diese Weiche hatte er damals in der Nacht des Unfalls gestellt.

»Ich will beides, weißt du: Max helfen und das Gesetz ernst nehmen. Das ist mein Dilemma.«

Das Baby hatte sich beruhigt. Die Frau hatte es inzwischen auf dem Arm, es nuckelte zufrieden an ihrer Brust.

»Versteh ich nicht. Also schon … dich kann ich schon verstehen, aber diese Sache mit der Sterbehilfe kapier ich nicht. Maria wollte nicht dahinkrepieren mit ihrer Krankheit. An ihrer Stelle hätte ich auch ’ne Pille geschluckt. Ich meine, wenn man unheilbar krank ist und nur noch leidet und deshalb sterben will, warum ist dann derjenige, der einem diesen sehnlichsten Wunsch erfüllt, ein Straftäter? Er hat doch nichts Falsches getan, im Gegenteil. Er hat die Würde des Sterbenden geachtet.«

»Es macht einen Unterschied, ob er ihr die Medikamente nur zur Verfügung gestellt oder sie ihr in den Mund gegeben hat.«

»Warum macht das einen Unterschied?«

»Das eine ist strafbar, das andere nicht.«

»Das ist doch Schwachsinn.«

»Das ist die Rechtslage.«

»Deshalb ist es noch lange nicht richtig.«

»Warum ist es deiner Meinung nach Schwachsinn?«

»Weil’s komplett willkürlich ist.«

»Willkürlich? Wieso?«

Der Mann und die Frau kamen mit dem Baby herüber auf den Rochusmarkt, ein paar Leute – vermutlich Freunde und Familie – folgten ihnen. Sie setzten sich an einen der größeren Tische. Die Frau legte das Kind in einen Kinderwagen neben sich. Der Mann bestellte Wein.

»Ich denke an die Patienten«, sagte Lara. »An die, die sterben wollen. Was ist zum Beispiel mit denen, die sich nicht mehr bewegen können? Können die keine Sterbehilfe in Anspruch nehmen? Das wäre doch komplett ungerecht. Und außerdem …«

»Außerdem?«

»Sterben gehört zum Leben. Nur, weil niemand gern darüber spricht oder sich damit auseinandersetzt, heißt es noch lange nicht, dass der Tod tabu ist.«

Das klang in Jonas’ Ohren reichlich altklug. »Entschuldige«, sagte er. »Ich will dir nicht zu nahe treten. Aber du bist gerade mal dreiundzwanzig. Du weißt noch nichts vom Tod.«

Lara hielt ihr Glas in der Hand, ohne es vom Tisch aufzunehmen. Sie kippte es ein wenig zur Seite und starrte in die braune Flüssigkeit. »Nach dem Abi hatten Jill und ich uns eine Zeit lang nicht gesehen. Dann habe ich erfahren, dass sie BWL studiert, hier in Wien. Hast du vorhin auch das dritte Zimmer gesehen, links vom Eingang?«

Jonas ging die Wohnung in Gedanken durch. Der Eingang, der Flur, eine Tür gleich neben der Garderobe. »Nein, die Tür war zu. Wieso?«

Lara sah einen Moment in den Himmel. »Da hat Michael gewohnt. Jill und er waren ein Paar, sie waren total verknallt ineinander.« Sie starrte kurz auf die Tischplatte und schüttelte den Kopf.

»Was ist passiert?« Jonas legte eine Hand auf ihre Schulter.

Am Nebentisch schaukelte die Frau den Kinderwagen, aus seinem Inneren war nichts zu hören.

»Es war nur Fieber, anfangs, ein bisschen Unwohlsein. Er ist zum Arzt, um sich etwas verschreiben zu lassen. Der Arzt ist gut gewesen, er hat ihn gleich ins Krankenhaus geschickt. Und dort haben sie es dann festgestellt: Darmkrebs, vorgerücktes Stadium.«

Das Thema nahm sie mit. Dabei hätte sie doch jederzeit zu ihm kommen können. Er war doch immer für sie da. Er war für niemanden so sehr da wie für seine Tochter.

»Warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Hm«, machte sie. »Du warst weit weg. Und irgendwie … Ich musste mich um Jill kümmern. Es ging nicht um mich.«

Jonas beugte sich zu ihr hinüber und umarmte sie. »Meine Große«, sagte er in ihr Haar hinein.

Sie löste sacht die Umarmung und griff nach seiner Hand. »Wir haben zusammen gefeiert in der Wohnung, gekocht, getanzt, die beiden haben sich geküsst, und ich war tatsächlich nie das fünfte Rad am Wagen. Die beiden waren ein Paar, und ich habe mich gefreut für sie. Zu dritt waren wir ein Team, eine eingeschworene Gemeinschaft. Und jetzt ist er nicht mehr da, und er fehlt Jill mit Sicherheit viel mehr als mir. Aber diese verschlossene Zimmertür, diese Scheißtür … Ich kann sie nicht mehr sehen. Ich habe richtig Angst davor. Angst, sie aufzumachen. Weißt du, was ich meine?«

Der Verlust eines Menschen, der einem nahestand. Die vertraute Umgebung, die plötzlich fremd war. Die Angst, sich der Leere zu stellen. Hatte Max sich genauso gefühlt?

Jonas umschloss fester Laras Hand. »Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst.«

Lara sah auf seine Hand. »Sterben gehört zum Leben wie Geborenwerden. Ich habe Michael bis zuletzt gesehen, bis er nur noch vierzig Kilo wog und grau und eingefallen war. Er war nicht mehr in der Lage, allein zu gehen, allein zu essen oder zu trinken. Er konnte nicht einmal mehr ohne Hilfe zur Toilette, und er hatte zum Schluss nur noch einen Wunsch: dass es schnell vorbei ist.«

Lara war groß geworden. Eben noch ein Kind, das Jonas auf dem Arm getragen hatte, war sie heute eine erwachsene Frau, die ihr eigenes Leben führte und die ihre eigenen Erfahrungen machen musste. Jonas hielt ihre Hand noch immer fest in seiner.

»Wie geht es dir damit? Ich meine … mit diesen Erfahrungen?«

Lara atmete durch. »Ich glaube, ich habe was dazugelernt. Ich glaube, dass die Würde beim Sterben nicht aufhört. Sie ist nicht kleiner oder größer als zu Lebzeiten. Sie ist genauso da, also muss sie auch bis zum Schluss respektiert werden. Und wenn es bei mir mal so weit ist, will ich mich frei entscheiden können, ob ich meinem Leben ein Ende setze oder nicht. Und dann soll mir meine Ärztin auch helfen dürfen, ohne gleich dafür in den Knast zu kommen.«

»Das ist bestimmt richtig. Aber Selbstbestimmung ist nicht alles.«

»Mag sein, aber es muss erlaubt sein, einem Sterbewilligen ein Ableben ohne Leiden zu ermöglichen. Und wenn er sich nicht mehr bewegen kann, muss ihm halt geholfen werden. Ich verstehe gar nicht, wie man da eine Grenze ziehen kann.«

»Der Bundesgerichtshof tut das.«

»Der steht auch nicht über allem. Bist du seiner Meinung, Paps?«

»Na ja, der Gedanke ist, dass ein Mensch den Handlungsablauf beim Sterben eines anderen nicht dominieren soll. Die letzte Entscheidung über das zum Tod führende Geschehen muss in der Hand des Sterbewilligen bleiben. Deshalb ist diese Grenze gar nicht so willkürlich.«

»Okay, bin ich bei dir. Aber was heißt ›dominieren‹ in dem Zusammenhang? Wer dominiert denn den Handlungsablauf? Doch wohl derjenige, der ihn willentlich steuert. Und da ist es doch völlig egal, ob er selbst das Medikament einnimmt oder einen anderen dazu bestimmt. Nein, Paps: Für mich ist das nicht einzusehen, da eine Grenze zu ziehen. Ich glaube tatsächlich, dass Max nur getan hat, was Maria wollte. Dafür sollte er nicht bestraft werden. Selbst wenn er ein miserabler Patenonkel ist.« Lara trank ihren Eistee aus.

Die Frau am Nachbartisch hatte das Baby aus dem Wagen genommen und übergab es einem älteren Herrn, der ihr Vater oder Schwiegervater sein mochte. Hoffentlich ließ er das kleine Bündel vor lauter Aufregung nicht fallen.

Lara ging in den Laden und kam mit zwei kleinen Flaschen Mineralwasser zurück. »Die Autobahn nach Nürnberg ist dicht, komplett gesperrt. Hab ich drinnen gerade im Radio gehört. Du musst wohl oder übel noch bleiben.«

»Komplett gesperrt? Wieso das denn? Die war doch vorgestern noch frei.«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich ein größerer Unfall oder so was. Fahr doch über Tschechien. Ist kilometermäßig sogar kürzer.«

Tschechien. Das war eine Idee. Ein wenig über Land, und dann ab Prag über die Autobahn Richtung Deutschland. Er stieß mit Lara an. »Jetzt sitzen wir erst mal noch hier. Salute.«

Die Sonne schien warm auf ihren Tisch.

Jonas nahm sein Handy aus der Hosentasche. Agnes hatte ihm am Tag der Beerdigung ihre neue Nummer gegeben.

Er tippte: Rosékneipe. Heute. Zwanzig Uhr?

»Schleppen wir den Kleinkram aus dem Bulli noch hoch? Dann kannst du auch bald starten.« Lara trank ihr Wasser aus.

Sie gingen rüber. Der Bulli stand vor dem Haus im Schatten. Jonas schob die Seitentür auf, zog den Kopf ein und stieg in den Wagen. Lara folgte ihm. Sie setzte sich auf das kleine Sofa, das längs hinter dem Fahrersitz stand.

»Komm, setz dich noch mal«, sagte Lara.

Jonas stellte den Blumentopf ab, den er gerade hochgehoben hatte, und setzte sich neben sie.

»Na?«, fragte er. »Was ist?«

»Das mit Max … Ist echt blöd für dich, oder?«

Lara wäre nicht seine Tochter gewesen, wenn sie das Thema einfach hätte beiseiteschieben können. Jonas hatte ihr offenbar ein wenig Prägung mitgegeben, auch wenn sie das natürlich niemals zugeben würde.

»Das Problem ist, dass ich selbst nicht weiß, wo ich stehe. Klar – ich will auch nicht irgendwann sabbernd vor mich hin vegetieren. Ich will mein Ende auch selbst bestimmen können. Aber wenn man das alles weiterdenkt, tun sich Fragen auf, die ich wahrscheinlich nicht beantworten könnte.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, nehmen wir mal an, es wäre allgemein zulässig oder wenigstens gesellschaftlicher Konsens, dass jeder selbst entscheiden darf, wann er sterben will. Bei alten und kranken Menschen könnte ich das nachvollziehen. Aber was wäre zum Beispiel mit einer Frau in deinem Alter? Sie ist vielleicht etwas kräftiger gebaut oder hat irgendeinen kleinen Geburtsfehler und wird deshalb seit ihrer Kindheit von allen gehänselt. In den sozialen Medien wird sie von irgendwelchen Idioten – wie nennst du das immer? – gedisst. Irgendwann kann sie nicht mehr, will nicht mehr. Sie will nur noch weg von dieser Welt. Darf eine Gesellschaft zulassen, dass sie sich umbringt oder assistiert umgebracht wird? Wo sind da die Grenzen? Wer darf freiwillig sterben und wer nicht? Ich habe mir in den letzten Tagen den Kopf darüber zermartert, ob das, was Max getan hat, richtig war oder falsch, und ich weiß es einfach nicht. Solche Sachen konkret zu beantworten ist leicht: Du und ich oder auch Max, wir wissen, was wir wollen, und das soll gesetzlich auch erlaubt sein. Aber als Jurist denkt man nicht nur konkret, man denkt abstrakt: Kann das, was ich für mich selbst als richtig erachte, zugleich ein allgemeines Gesetz für jedermann sein? Daran könnte ich gerade verzweifeln.«

»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte Lara. »Aber ich glaube auch, dass das gerade nicht dein wirkliches Problem ist. Dein Problem ist Max. Du bist nicht derjenige, der sich ein allgemeingültiges Gesetz ausdenken muss. Du musst das Gesetz, das bereits da ist, anwenden. Das predigst du doch immer. Dann mach es auch.«

Es stimmte, was sie sagte. Max und sein Handeln bildeten den Kern, den es zu spalten galt. Die aktuelle Gesetzeslage machte ihn zum Straftäter, womöglich zum Mörder. Darauf kam es an, darauf musste Jonas sich konzentrieren. Doch genau darin lag das Problem. Es gab kein Gesetz, das Fälle der Sterbebegleitung oder Sterbehilfe genauer regelte. Die Vorschriften des Strafgesetzbuchs waren weit gefasst und zielten auf generelle Sachverhalte ab, nicht auf deren Abgrenzung zueinander. Das war eine schreiende Gesetzeslücke, die der Gesetzgeber bis heute nicht ausgefüllt hatte. Und wer sagte eigentlich, dass es richtig war, die Grenze der Strafbarkeit zwischen dem Zurverfügungstellen tödlicher Medikamente und ihrem aktiven Verabreichen zu ziehen? Vielleicht war das tatsächlich reine Willkür – im Gesetz stand davon nichts.

»Weißt du, was mir gerade klar wird?«, fragte Lara.

»Nein. Was?«

»Im Grunde sind meine Noten wie deine Paragrafen – es kommt darauf an, wie man sie spielt.«

»Wirst du jetzt philosophisch?«

»Quatschkopf. Vorhin hatten wir doch gerade Beethovens Violinkonzert in D-Dur. Das kannst du so aufführen oder so aufführen, du kannst es schneller spielen oder langsam und getragen, du kannst einzelnen Passagen mehr Gewicht und Ausdruck verleihen und andere vernachlässigen. Es kommt ganz stark darauf an, wie du es interpretierst. Oder schau dir Romeo und Julia an. Das Stück ist Jahrhunderte alt und immer wieder neu und zeitgemäß inszeniert worden. Wenn das bei Noten und Theaterstücken geht, warum dann nicht auch bei Paragrafen?«

»Kunst ist das eine«, sagte Jonas. »Das Gesetz ist etwas anderes. Menschen wollen Rechtssicherheit, da haben sie sogar einen Verfassungsanspruch drauf. Wenn eine Vorschrift zu unbestimmt ist, dann muss sie durch Leute wie mich – und vor allem durch die Gerichte – ausgefüllt werden. Und das geht nicht einmal so und das nächste Mal anders. Da müssen Kontinuität und Verlässlichkeit gewährleistet sein.«

»Paps, darüber haben wir schon so oft gesprochen. Du weißt, was ich meine. Klar müssen Gesetze und Urteile verlässlich sein. Aber zu welchem Preis? Am Ende des Tages unterliegt alles einem gesellschaftlichen Wandel. Früher war Homosexualität strafbar. Dieses Gesetz hat man Gott sei Dank auch nicht aufrechterhalten, nur um der Kontinuität willen. Und wenn Max heute seiner Ziehmutter den sehnlichsten Wunsch nach Erlösung erfüllt, dann finde ich, ist es an der Zeit, über die völlige Straffreiheit seiner Handlung nachzudenken. Für alles andere – zum Beispiel für eine junge Frau, die kerngesund ist, aber trotzdem sterben möchte – müssen kluge Gesetze gemacht werden. Aber das ist nicht deine Aufgabe, schon gar nicht bei Max.«

An der Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite übten ein paar Jugendliche Tricks mit ihren Skateboards. Die Boards knallten aufs Holz und ratschten darüber hinweg.

Max hatte Maria nicht gegen ihren Willen getötet, das konnte nicht sein. Und wenn, dann hätte Jonas sich getäuscht, wie er sich nie zuvor in einem Menschen getäuscht hatte. Er drehte sich zu Lara und umarmte sie. »Ich danke dir, meine Große.«

»Du bist ein guter Mensch, Charlie Brown.« Sie drückte ihn fest an sich.

»Anscheinend werde ich allmählich alt.«

»Du bist alt.« Sie lachte und strich ihm übers Haar. »Grüß Max von mir, wenn du ihn das nächste Mal siehst.«

»Das mache ich. Und jetzt schleppen wir den Rest hoch, und dann haue ich ab.«

Lara löste sich aus der Umarmung. Sie schnappte sich eine Kiste und marschierte los. Er nahm den Blumentopf wieder auf.

Sein Handy vibrierte, eine Nachricht von Agnes. Wo bist du?

Gegen Abend in Praha, antwortete er. Bis Prag waren es rund dreihundertdreißig Kilometer, knappe vier Stunden Fahrt. Er konnte um zwanzig Uhr da sein, sogar mit seinem altersschwachen Bulli.

»Kommst du?«, fragte Lara, als sie in der offenen Haustür auf ihn wartete.

Jonas steckte das Telefon zurück in die Hosentasche und folgte ihr.