Ein bisschen glich ein Gerichtssaal einem Tennisplatz. Am äußeren Rand in der Mitte saß, etwas erhöht, der Richter. Die Spieler – Staatsanwalt und Verteidiger – standen sich gegenüber und droschen mit den Bällen aufeinander ein. Und am Rand saßen die Zuschauer und applaudierten, wenn einer ein Ass geschlagen hatte. Der grundsätzliche Unterschied bestand darin, dass bei Gericht auf der Seite des Verteidigers noch ein weiterer Spieler stand: der Angeklagte. Der allerdings besaß – um im Bild zu bleiben – keinen Schläger, weshalb er kaum, oder besser gesagt: überhaupt nicht, ins Geschehen eingreifen konnte. In dieser Position befand sich Max gerade, während Jonas seinen Blick durch die voll besetzten Zuschauerreihen im Saal Nummer elf des Amtsgerichts Hamburg wandern ließ. Eine alte Frau saß in der ersten Reihe, ihr graues Haar leuchtete im Neonlicht. Sie stützte ihren Oberkörper mit beiden Händen auf dem Griff eines Gehstocks ab. Sie lächelte nicht, sah aber auch nicht grimmig aus, sie war regungslos, aber vermutlich nicht ohne Erwartungen hier. Vielleicht suchte sie Antworten auf Fragen, die auch Maria sich gestellt haben mochte. Darf ich selbst entscheiden, wann mein Licht gelöscht wird? Und: Lasst ihr mich allein zurück mit meinem Wunsch nach Frieden? Jonas hätte der Frau gern zugelächelt.
Der Vorsitzende, Wolfgang Baatz, betrat den Saal. Er spielte juristisch nicht in der ersten Liga, aber er war ein alter Hase und verstand etwas von der Taktik des Spiels bei Gericht. Mit einem Nicken eröffnete er das Match. Aufschlag: Dr. Jonas van Loon.
Alle im Saal setzten sich, nur Jonas blieb stehen und nahm seine Akte zur Hand. »Herr Vorsitzender, Herr Verteidiger, sehr geehrte Anwesende. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, am Morgen des 6. Januar 2021 im Pflegeheim Sankt Luisenstift in Hamburg eine Tötung auf Verlangen vorgenommen zu haben, indem er seinem Opfer, der fünfundsiebzigjährigen Maria Linz, eine sicher zum Tode führende Dosis Chloroquin verabreicht hat. Dabei hat er das Medikament in einem Glas mit warmer Milch und Honig aufgelöst und es ihr zum Mund geführt, weil sie selbst aufgrund einer fortgeschrittenen Alzheimerdemenzerkrankung dazu nicht mehr in der Lage war. Ihm war bewusst, dass er den Tod des Opfers herbeiführen würde, und dies wollte er auch, die Tatbegehung geschah vorsätzlich. Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe sind nicht gegeben, sodass seine Handlung strafbar ist gemäß § 216 Abs. 1 StGB.« Jonas nahm Platz.
»Vielen Dank, Herr Oberstaatsanwalt.« Baatz’ weiße Haare standen zu Berge wie die Albert Einsteins. Er trug eine dicke Hornbrille auf der Nase und kniff ständig seine Augen zusammen, wenn er sprach. In der Vergangenheit hatte er sich mehrfach für eine Beförderung zum Richter am Landgericht beworben, war aber immer gescheitert, und niemand wusste so recht, woran es gelegen hatte. Eine Beförderung hatte nur in Maßen etwas mit Fähigkeit zu tun. Aber vielleicht hatte er deshalb Jonas’ Anklage sofort zugelassen und nicht an einen höheren Spruchkörper verwiesen. Seine Strafrahmenkompetenz reichte bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe. Für mehr war er als Einzelrichter nicht zuständig, und eine Tötung auf Verlangen konnte ohne Weiteres ein deutlich höheres Strafmaß nach sich ziehen. Durch den Umstand, dass er die Sache bei sich belassen hatte, war allen Beteiligten klar, dass er gewillt war, den Strafrahmen gegebenenfalls auszuschöpfen – aber eben nicht darüber hinauszugehen. So gesehen durfte Baatz’ Anklagezulassung also durchaus als positives Zwischenergebnis für Max verbucht werden. Freiheitsstrafen dieser Größenordnung wurden bei Ersttätern wie Max stets zur Bewährung ausgesetzt, und das wiederum galt als Freispruch zweiter Klasse. Doch letztlich kam es auf all das nicht an. Viel wichtiger war, für Max ein Berufsverbot zu verhindern, das die selbstverständliche Folge einer Verurteilung wäre. Jonas musste seinen Gegenspieler und den Schiedsrichter gewissermaßen durch ein kluges Serve-and-Volley-Spiel im Wechsel mit einem Grundlinienduell verwirren. Vor allem der Gegner – Max’ Verteidiger Stefan Stern – durfte nicht erkennen, welche Taktik Jonas letztlich verfolgte. Stern musste verborgen bleiben, dass Jonas seine Rolle – die Rolle des Verteidigers – einnahm. Ansonsten würde Jonas sich der Lächerlichkeit preisgeben, und seine Integrität als Staatsanwalt stünde auf dem Spiel.
Der Mordverdacht war zum Glück schnell vom Tisch gewesen, es war alles nach Plan verlaufen. Max hatte den Abschiedsbrief und die Patientenverfügung Stern übergeben, und der hatte die Unterlagen sofort zur Gerichtsakte gereicht. Weil es dazu gehörte, hatte Jonas ein grafologisches Gutachten eingeholt. Das Ergebnis war eindeutig gewesen: Die Unterschriften stammten mit über neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit von Maria. Ihr freier Wille, zu sterben, stand jetzt also fest.
Stern zwirbelte seinen weißen Schnauzbart. Er beugte sich zu Max, der zu seiner Rechten saß, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Max trug seine gelbe Brille gegen zu viel Tageslicht, er nickte und sah ernst aus.
»Herr Verteidiger«, fragte Baatz. »Wird sich Ihr Mandant zur Sache einlassen?«
Stern erhob sich. »Herr Vorsitzender, über seine bisherigen Einlassungen hinaus wird mein Mandant von seinem Recht zu schweigen Gebrauch machen.« Er ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Die Lehne quietschte.
Heute früh in Jonas’ Büro war Stern ungewöhnlich nervös gewesen. So kannte Jonas ihn gar nicht, für Lampenfieber war er zu erfahren. Stern hatte gefragt, womit er nachher in der Verhandlung rechnen könne. Jonas hatte geantwortet: mit Rechtsgeschichte. Natürlich war das an Überheblichkeit kaum zu überbieten gewesen. Aber Stern hatte gelacht und Jonas’ Antwort nicht weiter ernst genommen. Jonas hatte das Lachen nicht kommentiert. Sein gesamtes Vorgehen sollte so aussehen, als sei es eine logische Abfolge der Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung. Das musste spontan wirken, auch wenn er seine Strategie längst festgelegt hatte.
»Schön«, sagte Baatz. »Schön, ja. Dann schlage ich vor, wir fangen mit dem Sachverständigen an.« Er rief durch das Mikrofon Professor Langer in den Sitzungssaal.
Langer, Chef des gerichtsmedizinischen Instituts am Uniklinikum Eppendorf, trug mündlich vor, was er bereits in seinem schriftlichen Gutachten niedergelegt hatte. Die Verstorbene habe einen Herz- und Atemstillstand infolge der Gabe einer letalen Dosis des Wirkstoffs Chloroquin erlitten.
»Bitte erläutern Sie uns das«, sagte Baatz.
»Natürlich.« Langer blätterte in seinen Unterlagen. »Ich darf verweisen auf die Seiten sechzehn fortfolgende meines Sektionsgutachtens. Im Körper der Verstorbenen haben wir 24,2 Gramm Chloroquin, 986 Milligramm Diazepam und 7,8 Milligramm Metoclopramid nachweisen können. Die Frau wog 58 Kilogramm. Die letale Dosis von Chloroquin liegt bei etwa 330 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht, bei der Verstorbenen also bei etwa 19 Gramm. Daraus können wir sicher schließen, dass die Menge an Chloroquin für Herz- und Atemstillstand bei der Verstorbenen verantwortlich war.«
Baatz hielt sich sein Diktiergerät vor den Mund und begann damit, die Aussage des Sachverständigen aufzusprechen. Doch irgendetwas war mit dem Gerät nicht in Ordnung.
»Nicht schon wieder«, brummte Baatz, drückte an den Knöpfen herum und schob an den kleinen Reglern, ohne dass die Technik ein Einsehen hatte. Das war die Justiz im einundzwanzigsten Jahrhundert: Der reibungslose Ablauf einer Strafverhandlung wurde bestimmt von einer handgroßen Maschine und ein paar kleinen Batterien. Baatz schüttelte das Gerät ein paar Mal, bevor er den Schieberegler erneut bewegte. Jetzt schien es zu laufen.
»Na also«, sagte er und sprach die Aussage auf das Band. Dann wandte er sich wieder an den Sachverständigen. »Herr Professor Langer, wenn ich einen Menschen mit Chloroquin töten wollte – wie käme ich an das Mittel heran? Könnte ich es einfach kaufen oder müsste ich es mir auf dem Schwarzmarkt besorgen?«
Baatz kannte vermutlich die Antwort, doch er brauchte sie für das Protokoll. Bei krimineller Beschaffung konnte auch ein Betäubungsmitteldelikt vorliegen.
Neben der alten Frau in der ersten Zuschauerreihe saß ein Mann, der vielleicht ein paar Jahre jünger war als sie. Die Kopfhaut zwischen seinem weißen Haarkranz war faltig und gesprenkelt von Altersflecken. Er hatte Zettel und Stift in der Hand und machte sich Notizen. Zwischendurch flüsterte er der Frau immer wieder etwas ins Ohr.
Max, der Jonas gegenübersaß, starrte auf die Tischplatte vor sich, seine gelbe Brille leuchtete im grellen Licht der Deckenlampen.
»Chloroquin, Herr Vorsitzender, kann rezeptfrei in der Apotheke erworben werden. Es ist hoch dosiert in einem Medikament namens Resochin enthalten, was für gewöhnlich gegen Malaria eingesetzt wird. Eine Tablette beinhaltet 250 Milligramm Chloroquin-Phosphat, also etwa 155 Milligramm reines Chloroquin. Sie benötigen ungefähr einhundert Tabletten. Die können Sie in einem Mörser zerkleinern und anschließend in Wasser oder Milch oder Fruchtsaft lösen.«
Genauso hatte Max es beschrieben, auch wenn er zu den Mengen nichts gesagt hatte.
Der Mann neben der alten Frau notierte weiter, er schien jedes Wort mitzuschreiben.
»Professor Langer, nach Ihren Feststellungen wurden zwei weitere Medikamente verabreicht, Diazepam und Metoclopramid. Worin liegt der medizinische Sinn, sie zu geben, wenn doch bereits durch Chloroquin der Todeseintritt sicher war?«
Max nahm seine Brille ab und rieb sich die geröteten Augen. Er hatte Jonas bislang nicht ein einziges Mal angesehen.
»Bei Metoclopramid – oder kurz: MCP – handelt es sich um ein Medikament, das die Peristaltik im oberen Magen-Darm-Trakt anregt und damit Übelkeit und Erbrechen verhindert. Mit Gabe von MCP kann wirksicher unterbunden werden, dass die in großer Menge eingenommenen Tabletten wieder erbrochen werden. Nur so ist sichergestellt, dass der Wirkstoff im Metoclopramid – das Phenobarbital – im Körper der Suizidentin wirken und zur letalen Intoxikation führen kann.«
So präzise hatte Max es nicht geschildert. Die Ausführungen des Sachverständigen ließen keinen Zweifel: Der Angeklagte hatte sehr genau gewusst, was er tat.
Max setzte seine Brille auf, noch immer sah er Jonas nicht an.
Die alte Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, der Stock, den sie in Händen hielt, zitterte.
»Und das Diazepam?«, fragte Baatz nach.
»Entschuldigung«, wandte Stern ein. »Herr Vorsitzender, es darf die Frage erlaubt sein, was das Ganze soll. Der Angeklagte hat doch längst eingeräumt, die drei Präparate beschafft und der Verstorbenen zur Verfügung gestellt zu haben. Wozu also die ganze Fragerei? Wir können das doch wirklich abkürzen.«
Stern diskutierte, ob der Ball noch im Feld oder im Aus gelandet war. Natürlich war er noch im Feld gelandet, aber es gehörte zum Spiel, dass man sich immer mal wieder über eine Entscheidung des Schiedsrichters aufregte – auch wenn es nur zu einer Verzögerung führte.
Die Medikation und ihre Wirkung waren in der Tat bereits ausführlich aus der Akte und Langers Sektionsgutachten bekannt – ebenso der Umstand, dass Max sie für Maria beschafft hatte. Doch darum ging es nicht. Baatz hatte ein gutes Gespür für Zwischentöne. Er wusste genau, dass die objektiven Fakten des Tathergangs in der Regel auch ein Licht auf die Motive des Täters preisgaben. War der Täter ein Sadist, der sein Opfer gequält hatte, oder glaubte er sich im Recht? Die Beweisaufnahme sollte erschöpfend sein, sie musste be- und entlastende Momente zugleich ins Visier nehmen. Natürlich hatte Baatz in der Vorbereitung der heutigen Verhandlung längst erkannt, dass Max mit dem Erbe, das Maria ihm hinterlassen hatte, durchaus ein Mordmotiv haben konnte. Es lag auf der Hand, dass Stern an dieser Stelle nicht weiter graben lassen wollte. Nichts war für die Verteidigung tödlicher als ein plausibles Tatmotiv.
»Und ich«, sagte Baatz in Sterns Richtung, »darf Sie daran erinnern, dass ich die Vernehmung des Sachverständigen führe. Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie. Wenn nicht, lassen Sie’s. Bitte, Herr Professor Langer, fahren Sie fort.«
Max blickte zu Stern und schüttelte kaum erkennbar den Kopf. Er war nicht einverstanden mit Sterns Manöver. Ein guter Spieler diskutierte nicht über eine Schiedsrichterentscheidung, er gewann das Spiel durch präzise Schläge.
»Nun«, sagte Langer. »Diazepam ist hierzulande auch unter dem Handelsnamen Valium bekannt. Es fällt unter die Stoffklasse der Benzodiazepine und hat eine sedierende, angstlösende bis narkotische Wirkung. Die hier nachgewiesene Menge führte zweifelsohne zu einer tiefen Bewusstlosigkeit der Suizidentin.«
»Wie konnte sie dann noch das Chloroquin einnehmen?«, fragte Baatz.
»Ich gehe davon aus, dass zunächst Chloroquin und anschließend Diazepam gegeben wurde. Die Wirkung des Chloroquins setzt erst nach etwa dreißig bis vierzig Minuten ein, Diazepam wirkt dagegen sehr viel schneller. Es tritt also erst die Bewusstlosigkeit ein, bevor es allmählich zum Herz- und Atemstillstand kommt.«
»Dann könnte man also sagen, bei dieser Reihenfolge schläft das Opfer ruhig und angstfrei in den Tod hinein und bekommt ihn überhaupt nicht mit?«, fragte Stern. Er spielte dabei mit seinem Stift.
»Das könnte man so sagen, ja.« Langer nickte mehrmals, als wolle er die Richtigkeit seiner Worte verstärken.
»Herr Vorsitzender«, sagte Stern, »ich weise auf Blatt achtundsiebzig der Ermittlungsakte hin und halte dem Sachverständigen die dort niedergelegten handschriftlichen Notizen des Angeklagten vor: ›7:00 Uhr – Einnahme Chloroquin in Honigmilch; 7.14 Uhr – Einnahme 1.000 mg Diazepam; 7.22 Uhr – M. schläft; 7.24 Uhr – 1 Ampulle MCP injiziert; 8:16 Uhr – nur noch seltene Ruckatmung, Puls kaum zu tasten; 8:24 Uhr – Atmung und Puls 0.‹ Bitte sagen Sie uns, Herr Professor Langer, wie Sie dieses Vorgehen aus Ihrer fachmedizinischen Sicht beurteilen.«
Schon wieder versuchte Stern seinen schlechten Topspin zu verteidigen, obwohl er im Aus gelandet war. »Einspruch«, sagte Jonas. »Der Sachverständige ist zu Tatsachen, nicht zu Mutmaßungen zu befragen. Seine persönliche Meinung ist hier ohne Belang.«
»Das sehe ich genauso.« Baatz blickte über den Rand seiner Brille erst Stern, dann Langer an. »Sie müssen die Frage nicht beantworten, Herr Professor Langer.«
Stern massierte mit einer schnellen Handbewegung seinen Nacken. »Nun gut«, sagte er. »Dann stelle ich die Frage anders. Wenn ein Mensch in der eben geschilderten Reihenfolge die entsprechenden Medikamente zu sich nimmt, stirbt er dann qualvoll und grausam?«
»Nein«, sagte Langer. »Einen solchen Tod kann man sich nur wünschen. Ein sanfteres Einschlafen kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.«
»Danke, Herr Professor. Dann habe ich keine weiteren Fragen.« Stern klopfte mit der Hand auf Max’ Unterarm.
»Ich habe auch keine Fragen mehr«, sagte Baatz.
»Ich aber«, sagte Jonas. »Herr Professor Langer, wenn ein Arzt einem Patienten die Medikamente, wie von Ihnen beschrieben, zur Verfügung stellt, in der Erwartung, dass der Patient sie entsprechend einnimmt, kann der Arzt dann wissen, dass dies zum sicheren Tod des Patienten führt?«
Langer nickte. »Wenn er es nicht wüsste, hätte er seinen Beruf verfehlt.«
»Danke«, sagte Jonas.
»Anträge auf Beeidigung?«, fragte Baatz über den Rand seiner Hornbrille hinweg.
Jonas und Stern schüttelten den Kopf.
»Dann bleibt der Zeuge unbeeidigt. Herr Professor Langer, Sie haben gehört, was ich diktiert habe. War das alles richtig so oder soll ich es noch einmal vorspielen?«
»Nein, es war alles in Ordnung.«
Baatz nahm sein Diktiergerät zur Hand. Es versagte erneut seinen Dienst. Als hätten Richter nicht genug damit zu tun, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
»Diese Scheißtechnik«, brummte Baatz und versuchte, das Gerät zum Laufen zu bringen. Wieder schüttelte er es, schaltete es aus und ein und betrachtete es von allen Seiten. Er ließ es auf den Tisch fallen und griff zum Telefonhörer. »Moin, Baatz hier, Saal elf. Ich brauche ein Diktiergerät, meins ist hin. – Wie, woher? Weiß ich doch nicht. Ich brauche jedenfalls eins, und zwar sofort. Ich bin hier mitten in der Verhandlung. Was? Von Meier? Ja, meinetwegen, dann nehme ich das. Hauptsache, ich kann diktieren.« Er legte auf. »Entschuldigung«, sagte er.
Eine Verzögerung wie die, die gerade eingetreten war, ließ jeden im Saal ungeduldig bis gereizt werden. Oft richtete sich dann der Ärger der Zuschauer gegen die Richter, die vorne saßen, obwohl die am wenigsten dafürkonnten – so wie der arme Baatz.
Die Saaltür öffnete sich, ein Beamter brachte ein neues Gerät zum Richtertisch. Wortlos verschwand er sogleich wieder.
Baatz legte die kleine Kassette aus dem alten in das neue Gerät ein und sprach drauflos. »Laut diktiert und genehmigt, auf nochmaliges Vorspielen wird allseits verzichtet.«
Langer schob die Akte in seinen Koffer und erhob sich.
»Dann sind Sie mit Dank entlassen«, sagte Baatz. »Würden Sie bitte Frau Dr. Hamacher zu uns hereinschicken? Danke.«
Langer nickte und verließ den Saal.
Die alte Frau in der ersten Reihe blickte Jonas an. Ihre Augen schimmerten wässrig, und ihr Kopf wackelte ein wenig. Der Mann neben ihr griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Auch er sah jetzt zu Jonas herüber. Die beiden Gesichter glichen sich. Der identische enge Augenstand, die kleine Nase, leicht hervorstehende Wangenknochen und ein schmaler Mund.
Jonas lächelte kurz und nickte in ihre Richtung. Die Frau und der Mann lächelten kaum sichtlich zurück – was immer sie ihm damit sagen wollten.
Dr. Angelika Hamacher, Fachärztin für Neurologie, setzte sich auf den Stuhl in der Saalmitte, auf dem eben noch Langer gesessen hatte.
Baatz nahm ihre Personalien auf. Dreiundfünfzig Jahre, wohnhaft in Hamburg, mit den Parteien nicht verwandt oder verschwägert. Sie war eine zierliche Frau mit hochgesteckten schwarzen Haaren und rotem Lippenstift.
»Frau Dr. Hamacher, wir haben Sie heute geladen, um etwas über die Alzheimererkrankung der verstorbenen Maria Linz zu erfahren. Sie waren in den letzten zwei Jahren die behandelnde Neurologin, ist das richtig?«
Hamacher nickte. »Das ist korrekt.«
»Bitte schildern Sie uns die Erkrankung bei Frau Linz etwas genauer. Wie haben wir uns das vorzustellen?« Baatz hielt das ausgetauschte Diktiergerät in der Hand und wartete.
»Gern. Nun, ganz allgemein kann man zunächst sagen, dass Alzheimer die häufigste Form der Demenz ist. Es handelt sich um eine langsam fortschreitende Hirnerkrankung, die zunehmend zu Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung führt. Im Gehirn von Alzheimerpatienten sterben nach und nach Nervenzellen und deren Verbindungen untereinander ab. Dadurch schrumpft das Gehirn um bis zu zwanzig Prozent. Die Windungsfurchen an der Oberfläche des Gehirns vertiefen sich, während sich die Hirnkammern erweitern. Der Untergang der Nervenzellen beginnt im sogenannten Riechhirn und greift dann auf Hirnregionen über, die für das Gedächtnis zuständig sind. Irgendwann umfasst er die gesamte Hirnoberfläche. Wir kennen dabei drei Stadien: das Anfangsstadium, die mittlere Phase und die fortgeschrittene.«
»Vielen Dank«, sagte Baatz und sprach alles in sein Diktiergerät. »In welchem Stadium befand sich Frau Linz?«
Die alte Frau in der ersten Reihe ließ mit ihrem Blick nicht mehr von Jonas ab. Der Mann hörte der Neurologin aufmerksam zu. Er hielt noch immer die Hand der Alten.
»Frau Linz befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium.«
»Wie äußerte sich das?«, fragte Baatz.
»Die Patientin war vollkommen pflegebedürftig. Sie konnte nicht mehr alleine gehen und brauchte einen Rollstuhl. Sie erkannte die Schwestern nicht mehr, auch mich nicht, niemanden. Ihr Sprechvermögen war nur noch auf ein paar wenige Wörter begrenzt. Zudem litt sie an Inkontinenz, hatte zunehmend Probleme beim Kauen, Schlucken und Atmen und Versteifungen an den Gliedmaßen.«
»Würden Sie sagen, sie konnte noch ein selbstbestimmtes Leben führen?«, fragte Baatz.
»Nein«, antwortete Hamacher. »Das konnte sie definitiv nicht mehr.«
Baatz blätterte in der Akte. Aus den Zuschauerreihen war ein Husten zu hören. Draußen schob sich ein schwarzer Wolkenberg vor die Sonne, es wurde dunkel im Saal. Einer der Wachtmeister schaltete den Kronleuchter unter der Decke an. Sein Licht ließ die braunen Holzwände glänzen.
Baatz setzte seine Brille auf. Er kniff die Augen zusammen und sah die Zeugin an. Für einen Moment schien es, als habe er seine Frage vergessen oder denke über irgendetwas nach. »Können Sie uns sagen, Frau Dr. Hamacher, was ein Mensch in einem solchen Stadium fühlt oder denkt?«
Hamacher zog die Stirn in Falten. »Das ist schwer zu beurteilen. Wir wissen noch viel zu wenig über diese Krankheit. Ein Demenzkranker büßt zwar sein Erinnerungs- und Denkvermögen ein, seine Erlebnisfähigkeit und sein Gefühlsleben bleiben dagegen erhalten. Er empfindet die Trauer über seinen Verlust an Fähigkeiten und Unabhängigkeit umso stärker, je mehr er nicht mehr in der Lage ist, seinen Gefühlen mit dem Verstand zu begegnen. Wenn ein gesunder Mensch in einer bestimmten Situation versagt, kann er sich darauf besinnen, dass es eine Ausnahme war oder dass er gestern eine ähnliche Situation erfolgreich gemeistert hat. Dadurch schöpft er neue Hoffnung und kann Krisen bewältigen. Hoffnung bedeutet, sich nach negativen Erlebnissen an gute Erfahrungen zu erinnern und zu wissen, dass es beim nächsten Mal besser klappt. Menschen mit Demenz dagegen bleiben hoffnungslos – der Verarbeitungsmechanismus wie bei Gesunden ist bei ihnen nicht mehr vorhanden, dadurch sind sie ihren negativen Gefühlen vollständig ausgeliefert.«
»Können Sie uns das an einem Beispiel erläutern?«, fragte Baatz.
Hamacher nickte. »Sicher. Stellen Sie sich vor, Ihnen wird die Rechenaufgabe gestellt: ›Drei plus vier mal fünf‹. Sie rechnen: Drei plus vier ist sieben, und sieben mal fünf macht fünfunddreißig. Das ist aber falsch, weil Sie vergessen haben, dass Punkt- vor Strichrechnung kommt. Also: Vier mal fünf gleich zwanzig, plus drei, ist dreiundzwanzig. Als gesunder Mensch merken Sie sich das, und beim nächsten Mal lacht niemand mehr über Ihr falsches Ergebnis. Sie lernen daraus und freuen sich darüber, daraus schöpfen Sie Hoffnung. Der Demenzkranke hingegen kann das nicht mehr. Er wird sich auch beim nächsten Mal nicht an den richtigen Rechenweg erinnern können, selbst wenn er kurz zuvor darauf hingewiesen wurde. Das führt zu Frustration, zu Angst und Zurückhaltung. Und hier sind wir erst in der ersten Stufe der Erkrankung.«
Während die Frau sprach, ebbten die Geräusche um sie herum ab. Es schien, als spreche sie nur noch zu Jonas. Dabei sah sie ihn nicht einmal an. Ihre Stimme war warm und ruhig, als werbe sie um Verständnis für das, was sie schilderte. Jonas sah Maria vor sich. Sie trug Uniform und Dienstmütze. Es war der Tag ihrer Beförderung, sie war die Jahrgangsbeste in ihrem Kommissaranwärterkurs gewesen. Und jetzt sollte sie nicht mehr rechnen können.
»Gibt es im fortgeschrittenen Stadium dann überhaupt noch kognitive Steuerungsfähigkeiten?«, fragte Baatz.
»Das schon«, sagte Hamacher. »Aber nur noch sehr eingeschränkt und auch immer weniger. Der Alzheimerdemente lebt in zwei Welten, einer äußeren und einer inneren. Die Kluft dazwischen wird stetig größer, bis die Verbindung ganz reißt. Dann ist er nur noch allein in sich. Hören, sprechen, greifen, zur Toilette gehen, essen, trinken – das alles trocknet aus wie ein See in einer Sandwüste. Er weiß vermutlich noch, dass er zum Essen den Arm zum Mund führen muss, aber er schafft es nicht mehr, seinen Muskeln den Befehl dafür zu geben; die dafür notwendigen Hirnareale sind nicht mehr vorhanden.«
Max hatte Maria die letzten Jahre begleitet auf ihrer Reise ins Nirgendwo. Er hatte ihren zunehmenden Verfall miterlebt und war ihr einziger Fels in der Brandung gewesen. Maria war immer wie eine Mutter für ihn gewesen, und diese Mutter hatte sich zum Kind zurückentwickelt. Die Frau, die ihm einst Halt und Zuflucht geboten hatte – sie hatte jetzt die schützenden Hände ihres einstmals Schutzbefohlenen bitter nötig gehabt. Und Max war da gewesen für sie.
»Verstehe«, sagte Baatz leise vor sich hin und blätterte wieder in der Akte. »War die Verstorbene Ihrer Auffassung nach noch fähig, selbst zu entscheiden, wann sie etwas isst oder trinkt?«
»Nein, eher nicht.« Hamacher saß aufrecht, mit geradem Rücken. Sie hatte die Hände vor sich auf dem Tisch übereinandergelegt.
»Was heißt ›eher nicht‹?«, fragte Jonas. »War sie es, oder war sie es nicht?«
Die alte Frau hatte ihren Blick noch immer auf Jonas gerichtet. Aber aus ihrem Gesichtsausdruck war nicht abzulesen, was sie dachte oder empfand. Ihre Hand auf dem Gehstock zitterte leicht, aber der Gehstock fiel nicht zu Boden. So präsent die alte Dame bisher gewirkt hatte, nun schien sie abwesend zu sein, auch wenn sie Jonas ein wenig mehr anlächelte.
»Alzheimerpatienten geben uns immer wieder Rätsel auf. Eine einzige Berührung eines nahen Angehörigen kann einen Impuls auslösen, der den Patienten für einen kurzen Moment aus seiner inneren Gefangenschaft befreit. Für Sekunden, manchmal für ein paar Minuten können sie plötzlich wieder Dinge im Raum erkennen – eine Uhr an der Wand oder ein Bild auf dem Nachttisch –, und sie verstehen auch wieder, was man ihnen sagt. Oder denken Sie an ein Musikstück, eines, das der Erkrankte sehr mochte. Wenn Sie es ihm vorspielen, kann es geschehen, dass er zu weinen beginnt und Sie zum Dank in seine Arme schließt. Das sind zwar alles eher Ausnahmen, aber manchmal passiert so etwas.«
»Das heißt«, sagte Stern, »Sie können nicht sicher ausschließen, dass zumindest partiell eine eigene Steuerungsfähigkeit bei der Verstorbenen Maria Linz vorhanden war. Ist das richtig?«
»Ja«, sagte Hamacher. »Gänzlich ausschließen kann ich das nicht.«
»Dann können Sie ebenfalls nicht ausschließen, dass die Verstorbene einen Becher aus eigener Kraft in die Hand nehmen und daraus trinken konnte, richtig?«
Es war also möglich: Maria konnte theoretisch die Medikamente auch selbst eingenommen haben. Im Zweifel für den Angeklagten.
»Ja, auch das ist richtig. Obwohl ich es für äußerst unwahrscheinlich halte. Zu einer solchen Handlung war Frau Linz meines Erachtens nicht mehr fähig.«
»Nochmals«, sagte Stern, dessen Stimme jetzt lauter wurde. »Können Sie definitiv ausschließen, dass Frau Linz dazu in der Lage war, selbstständig den Becher zu greifen und zu trinken? Bitte denken Sie daran, dass ich Sie beeiden lassen kann.«
Hamacher sah zu Jonas, zum Richtertisch, zu Max. Ihre Wangen waren gerötet. Sie war in einer Sackgasse, aus der sie nicht mehr herauskam. Sie ging sicher davon aus, dass Maria nicht selbst getrunken haben konnte, und im Grunde hatte sie auch genau das ausgesagt. Juristisch genügte das aber nicht, weil sie selbst – wenn auch nur theoretische – Zweifel an ihrer eigenen Annahme geäußert hatte. Sie hatte den Beweiswert ihrer Bekundung selbst geschwächt, und das war ihr sichtlich unangenehm.
»Nein, das kann ich nicht ausschließen«, sagte sie.
Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen. Die alte Frau sah zu Boden. Der Mann neben ihr legte seine Hand auf ihren Rücken.
Stern machte seine Sache gut, mit nichts anderem war zu rechnen gewesen. Bei lebensnaher Betrachtung war eine eigene Steuerung bei Maria ausgeschlossen. Stern aber hatte erreicht, dass jetzt das Gegenteil im Protokoll stand. Dagegen konnte Jonas nicht widersprechen. Das letzte Bild musste sich das Gericht im Rahmen freier Beweiswürdigung verschaffen, und Baatz konnte die Bekundungen der Zeugin Hamacher, die für Max sprachen, nicht unberücksichtigt lassen.
Es war ein passender Augenblick. Jonas stand auf. »Herr Vorsitzender, darf ich vortreten?«
»Nur zu«, sagte Baatz. »Nur zu, ja.«
Auch Stern kam an den Richtertisch. Hinten im Saal setzte ein Tuscheln ein. Die dunklen Wolkenberge hingen noch immer vor der Sonne.
»Ich hätte eventuell einen Vorschlag, wie wir die Sache beenden könnten.« Jonas sprach leise. Stern sah ihn skeptisch an.
»Dann lassen Sie uns nach nebenan gehen«, sagte Baatz und richtete den Blick wieder in den Saal. »Die Sitzung wird für ein paar Minuten unterbrochen. Wir sind gleich wieder da.«
Max hatte seine Hände auf dem Tisch vor sich gefaltet. Er hatte sich lange gesträubt, die weitere Aussage zu verweigern, als Jonas ihm vor ein paar Tagen zu dieser Taktik geraten hatte. Natürlich fühlte Max sich nicht schuldig, aber das war unwichtig. Es siegte nicht, wer recht hatte. Es siegte, wer sein Recht beweisen konnte. In einem Strafprozess galt die Unschuldsvermutung: die Staatsanwaltschaft musste dem Angeklagten die Tat nachweisen. Doch man durfte sich nichts vormachen, die Praxis sah anders aus. In der Praxis tat jeder Beschuldigte gut daran, selbst entlastendes Beweismaterial zu sammeln und in den Prozess einzuführen. Und wenn er kein entlastendes Material hatte, musste er dem Ankläger die Prozessführung wenigstens so schwer wie möglich machen – und schweigen. Stern hatte Max offenbar überzeugt, und in diesem Augenblick, in dem Baatz unterbrach, lief der Prozess genau in die richtige Richtung. Das konnte eine Tür nach draußen für Max bedeuten, die Option auf einen Freispruch, und niemand interessierte sich dafür, dass der Antrieb dazu vonseiten der Staatsanwaltschaft gekommen war.
Im Richterzimmer direkt hinter dem Sitzungssaal hing stickige Luft, es roch nach altem Holz. Ein Tisch und vier Stühle standen darin, sonst nichts. Jonas blieb neben einem Stuhl stehen, Stern ebenso.
Baatz ging um den Schreibtisch herum. »Dann lassen Sie mal hören.«
Jonas legte die Hand auf den Stuhlrücken. »Wenn wir das gesamte Pflegepersonal noch vernehmen, und dazu noch die Heimleitung und die Tochter der Verstorbenen, sitzen wir hier locker noch drei Tage, vielleicht mehr. Das Entscheidende haben wir eben gehört: Das Opfer kann die Medikamente theoretisch auch selbst eingenommen haben – so, wie sich Ihr Mandant, Herr Stern, ja auch eingelassen hat. Wir wissen weiter, dass niemand sonst im Zimmer war, als die Tat geschah, keine Schwester, keine andere Bewohnerin, kein anderer Besuch. Das ergibt sich aus den Vernehmungen im Ermittlungsverfahren. Wir können daher mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass niemand wirklich gesehen hat, was genau geschehen ist.«
Stern lehnte sich an die Wand und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Herr van Loon, so kenne ich Sie gar nicht.«
Da hatte er wohl recht. Jonas und Stern waren schon oft bei Gericht aufeinandergetroffen, und keiner hatte auch nur einen Millimeter nachgegeben. Beide nahmen Job und Karriere ernst. Es musste ungewöhnlich auf Stern wirken, dass Jonas jetzt schon einlenkte. Aber Stern war nicht dumm. Er würde den Vorteil, der sich ihm in diesem Augenblick bot, keinesfalls ungenutzt lassen, nur weil er Jonas’ Handeln eigenartig fand.
Jonas hatte Stern genau da, wo er ihn haben wollte: Alles, was jetzt folgte, konnte Stern Max als eigenes Verdienst verkaufen. Dabei würde in Wahrheit Jonas dahinterstecken, wenn Max jetzt durch einen Deal zwischen Anklage, Verteidigung und dem Gericht seinen Job behielt und auf freiem Fuß blieb.
»Ich bin nur Realist«, sagte Jonas.
»Und was stellen Sie sich vor?«, fragte Baatz.
»In dubio pro reo«, sagte Jonas. »Wenn wir nicht sicher ausschließen können, dass das Opfer die Medikamente selbst eingenommen hat, muss Keller freigesprochen werden. Also haben wir jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder wir setzen fort und hören uns einen Bus voller Zeugen an, die voraussichtlich nichts Erhellendes beitragen können, oder wir einigen uns.«
Stern erkannte sicher die Gunst der Stunde für seinen Mandanten. Er wäre töricht gewesen, den Prozess fortzusetzen, um einem Freispruch hinterherzujagen, der am Ende vielleicht doch nicht dabei herauskam; Risiken bestanden in einem Prozess immer. Und ganz nebenbei war ein Ende an dieser Stelle auch für Jonas ein ideales Ergebnis, denn dann musste nicht mehr die Frage geklärt werden, ob die Grenze, die die Rechtsprechung zwischen straffreier Sterbebegleitung und strafbarer Sterbehilfe zog, tatsächlich willkürlich war. Welche Meinung Baatz dazu vertrat, spielte keine Rolle. Er würde sich an die Linie der Rechtsprechung halten und nicht tiefer über Sinn und Unsinn einer solchen Grenze nachdenken. Die ganze Sache konnte hier und jetzt ohne viel Aufsehen beendet werden, und alle – auch Jonas – konnten wieder gut schlafen. Eine Win-win-Situation, von der Ankläger und Verteidiger gleichermaßen profitierten – und das Gericht auch, immerhin musste Baatz bei einer Einstellung kein langes und kompliziertes Urteil schreiben.
Stern nickte sacht. »Mit oder ohne?«, fragte er.
»Mit«, sagte Jonas.
»Und zwar?«, fragte Stern.
»Fünftausend Euro an eine Palliativstation.«
»Zwei-fünf«, sagte Stern. »Keller ist blank, eine Geldauflage von fünf wird er nicht stemmen können. Ich habe schon bei zwei-fünf Bedenken.«
»Na«, sagte Baatz. »Büschen merken muss er das ja nu auch.«
»Also?«, fragte Jonas. »Denken Sie dran, dass er dann auch seine Zulassung behält.«
Stern atmete kurz durch. »Einverstanden.«
»Das klingt alles sehr vernünftig«, sagte Baatz. »Ich bin ebenfalls einverstanden. Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld gemäß § 153a StPO mit Geldauflage von fünftausend Euro. Reden Sie Ihrem Mandanten mal gut zu, Herr Stern. Damit kommt er blendend weg. Meinetwegen machen wir auch vier oder fünf Raten daraus.«
»Ich spreche mit ihm«, sagte Stern. Er öffnete die Tür und ging als Erster in den Sitzungssaal zurück.
Die alte Frau und ihr Begleiter hielten sich in der ersten Reihe noch immer bei der Hand.
Ein Mann in einem langen beigen Mantel schloss eines der hinteren Fenster und drehte sich um. Das war doch nicht … Doch, es war tatsächlich Professor Reben. Wahrscheinlich hatte er schon die ganze Zeit dort hinten in der Ecke gesessen und die Verhandlung verfolgt. Jonas hatte zu Beginn nicht bemerkt, dass sein Professor unter den Zuschauern saß. Er grüßte ihn mit einem kurzen Nicken, Reben hob die Hand.
Einer der beiden Wachtmeister wollte nach der kurzen Unterbrechung die Tür zum Sitzungssaal schließen, doch da drängelte sich KHK Witt herein. Er war außer Atem und kam direkt auf Jonas zu.
»Moin, Witt. Vor wem sind Sie denn auf der Flucht?«
»Können Sie kurz rauskommen? Ich habe Neuigkeiten.« Er sprach leise.
»Neuigkeiten? Ich verstehe nicht.«
»Nicht hier drin. Kommen Sie mit raus.« Witt ging zurück zur Tür.
»Kleinen Moment«, sagte Jonas zu Baatz. »Bin gleich wieder da.«
Im Flur des Amtsgerichts war es dunkel, als wäre es bereits Abend. Der Fehler in der Elektrik sollte schon vor Wochen behoben werden, doch bis heute war nichts geschehen. Der ganze Trakt, der keine Tageslichtfenster besaß, lag ohne Licht da.
»Was ist denn so wichtig?«, fragte Jonas.
Witt drückte ihm ein paar Blatt Papier in die Hand – das Protokoll einer polizeilichen Zeugenvernehmung.
»Was soll das?«, fragte Jonas. »Woher haben Sie das?«
»Die Frau war vorhin bei mir, völlig aufgelöst. Ich konnte sie erst gar nicht beruhigen. Aber dann hat sie losgelegt.«
»Losgelegt? Womit?« Jonas war verwirrt.
»Sie hat ihm geholfen. Sie hat Keller geholfen, die Frau zu töten. Das Opfer hat sich gewehrt. Sie haben sie zu zweit festgehalten.«
»Was? Was reden Sie da?«
»Lesen Sie!«, insistierte Witt.
Jonas hielt die Papiere, die Witt ihm eben gegeben hatte, in der Hand. Er sah zur Tür des Sitzungssaals. Sie stand einen Spalt offen, alle warteten auf ihn, auch das alte Pärchen aus der ersten Reihe. Hinten in der Ecke saß Professor Reben und blickte durch den Türspalt hinaus auf den Flur. Er war über achtzig Jahre alt, aber Jonas wusste, dass sein alter Doktorvater in diesem Augenblick seinen Herzschlag hören konnte.