NACHWORT

Am 21. Februar 2020 bestätigte der Hohe Rat in Den Haag, das höchste Instanzgericht in den Niederlanden, den Freispruch einer Ärztin, die einer vierundsiebzig Jahre alten, schwer an Alzheimer erkrankten Frau ein tödliches Medikament verabreicht hatte. Die Frau hatte zuvor, als sie noch bei klarem Verstand gewesen war, schriftlich erklärt, sie wolle im Falle unerträglichen Leidens sterben. Sie hatte formuliert: »Ich möchte sterben, wenn ich denke, dass die Zeit dafür reif ist.« Als sich die Erkrankung verschlimmerte, kam sie in ein Pflegeheim. Auch hier äußerte sie mehrfach, sie wolle sterben, doch der richtige Zeitpunkt sei noch nicht gekommen. Dennoch bat ihr Ehemann die Ärztin, seine Frau aufgrund der Patientenverfügung zu töten. Zwei weitere Ärzte, die zurate gezogen wurden, vertraten die Ansicht, die Voraussetzungen für aktive Sterbehilfe seien erfüllt: Das Leiden der Frau sei unerträglich und nicht behandelbar, ihr Todeswunsch freiwillig und durchdacht. Die Angehörigen der Frau beschlossen daraufhin, sie solle getötet werden. Ohne ihr Wissen verabreichte die Ärztin der Frau erst ein Beruhigungsmittel und in dessen Folge ein tödliches Medikament. Dabei erwachte die Frau und setzte sich zur Wehr. Sie wurde von ihren Angehörigen festgehalten, bis der Tod eintrat.

Die Staatsanwaltschaft erhob gegen die Ärztin Anklage wegen Mordes. Das Landgericht Den Haag sprach sie frei, woraufhin die Staatsanwaltschaft vor dem Hohen Rat in Berufung ging. Dieser bestätigte den Freispruch der ersten Instanz. Das Urteil wurde rechtskräftig. Die Richter führten aus, das »gesunde, frühere Selbst« wache über das spätere »erkrankte Selbst«. Der im Zustand völliger Geschäftsfähigkeit gefasste Entschluss habe auch später Gültigkeit, wenn der »Geist des Menschen« nicht mehr frei über sich selbst bestimmen könne.

Schon 2001 wurde die Sterbehilfe in den Niederlanden legalisiert. Seither ist den dortigen Ärzten aktive Sterbehilfe immer dann erlaubt, wenn sich ein Patient in einem aussichtslosen Gesundheitszustand befindet, sein Leiden unerträglich ist und er freiwillig und nach reiflicher Überlegung um Sterbehilfe gebeten hat. Unter strengen Voraussetzungen gilt dieses Gesetz sogar für Kinder.

Nach derzeitiger Rechtslage ist das in Deutschland anders. Hier ist die aktive Sterbehilfe nach wie vor verboten. Ein Arzt, der aktiv den Tod eines Schwerstkranken herbeiführt, macht sich – je nach Lage des konkreten Falls – der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), des Totschlags (§ 212 StGB) oder sogar des Mordes (§ 211 StGB) strafbar.

Noch bis vor Kurzem vertrat der Bundesgerichtshof (BGH) die Auffassung, der Arzt, der einem Sterbewilligen ein tödliches Medikament nur beschaffe, während der Patient es selbstständig einnehme, sei wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) strafbar, wenn er nicht sofort nach Einnahme des Medikaments Hilfestellung zur Verhinderung des Todeseintritts ergreife (Urt. v. 04.07.1984, 3 StR 96/84). Diese jahrzehntelange Rechtsprechung hat der BGH im Juli 2019 ausdrücklich aufgegeben und dabei das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben in den Vordergrund gerückt (Urt. v. 03.07.2019, 5 StR 132/18).

Auch in Österreich ist die aktive Sterbehilfe nicht erlaubt. Zudem war bisher – anders als in Deutschland – die Beihilfe zum Suizid strafbar. Der österreichische Verfassungsgerichtshof in Wien urteilte jedoch am 11. Dezember 2020, diese Strafbarkeit werde mit Wirkung ab dem 1. Januar 2022 gekippt, denn dies sei – so die Richter – ein Verstoß gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten (G 139/2019-71).

Das Bundesverfassungsgericht in Deutschland ist derselben Auffassung. In einem Urteil vom 26. Februar 2020 sah Karlsruhe das gesetzliche Werbeverbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe als verfassungswidrig an und stützte dies – wie die Entscheidung aus Wien – auf das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (2 BvR 1593/16).

Nun ist die Gesetzgebung gefragt. Einzelne Fraktionen im Deutschen Bundestag haben jüngst Gesetzesvorschläge eingebracht, um die Sterbehilfe grundlegend neu zu regeln. Während in den Details Unterschiede bestehen, ist man sich einig, dass die aktive Sterbehilfe auch weiterhin strafbar bleiben soll. Wann mit einer Verabschiedung neuer gesetzlicher Regelungen zu rechnen ist, war zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Romans nicht absehbar. Und die weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur aktiven Sterbehilfe war es auch nicht. Ob Karlsruhe das absolute und ausnahmslose Verbot aktiver Sterbehilfe aufgrund der aktuellen Stärkung des Selbstbestimmungsrechts eines Sterbewilligen aufrechterhält, sollte es diese Frage zur Entscheidung vorgelegt bekommen, mag bezweifelt werden. Gewichtige Argumente dafür und dagegen können beide Auffassungen für sich in Anspruch nehmen.

Göttingen, November 2021

Markus Thiele