»
U
hrzeit?«
»In fünf Minuten kommt der Wichser raus«, antwortet Derrik.
»Dann los!« Ich weise Derrik, Lucien und Lenn an, dicht hinter mir zu bleiben, während wir uns an den Mauern der dunklen Gasse dem unbewachten Hintereingang des Stars
nähern. Nicht mehr lange und die Sonne geht auf, es wird Zeit. Leider begrüßt es der Kopf der Germains, immer erst um diese Zeit aus dem verranzten Club zu kommen.
Diesen Job haben wir erst vor ein paar Tagen angenommen und wir waren uns alle einig, dass er nicht schwer auszuführen sein wird. Unsere Aufgabe liegt lediglich darin, den Kopf einer relativ frischen Drogengang aus Harlem an einen Vater, unseren Auftraggeber, auszuliefern. Dieser Vater, ein steinreiches Arschloch, ist sich sicher, dass der Kopf der Gang seinen Sohn und seine Tochter unter Drogen gesetzt hat und sie zwingt, für ihn zu arbeiten. Alles, was wir über die Germains – wie sie sich nennen –, herausfinden konnten, klingt wirklich nicht gut und es gibt eindeutige Beweise dafür, dass sich die Kids unseres Auftraggebers bei ihnen aufhalten. Über diese Gang an sich ist nicht viel bekannt, weil sie noch relativ frisch ist. Liv und Shane haben sich mehrere Tage in Harlem
umgesehen und sie sind sich sicher, dass diese Gruppe mit Drogen dealt und für ihren Vertrieb noch halbe Kinder an Land zieht.
Was der Alte nach Ausliefern mit seinen Kids und vor allem dem Kopf der Germains vorhat, interessiert uns recht wenig, denn auch der Alte ist kein unbeschriebenes Blatt in dieser Szene. Laut unseren Infos und Recherchen, holt sich der Kopf der Germains gerne sehr junge Frauen, um sie auf Droge zu setzen und dann das Zeug für sich verticken zu lassen. Junge Frauen, die aus besser betuchten Familien kommen und die noch keine wirkliche Ahnung vom Leben haben. Die Germains, die nur mit Tüchern vor dem Gesicht und Hoodies, die tief ins Gesicht gezogen sind, regelmäßig einige Bars und Clubs besuchen, sind wahrscheinlich noch grün hinter den Ohren. Viel zu leicht war es, das Lieblingslokal des Anführers ausfindig zu machen. Nur bei ihrem Hauptquartier, da waren wir bisher nicht erfolgreich. Die Typen verschwinden immer, als würden sie plötzlich aus Luft bestehen, wenn es darum geht, ihren Sitz ausfindig zu machen.
Regelmäßig kommt der Kopf morgens gegen fünf Uhr mit einem der jungen, unwissenden Dinger aus dem Stars.
Wahrscheinlich erzählt er dem jeweiligen Mädchen das Blaue vom Himmel herunter, und die dummen Dinger fallen darauf herein. Für uns ist das gut, denn er ist in diesen Momenten immer ohne seine Gangmitglieder unterwegs.
Derrik hat sich direkt neben der Tür platziert. Lucien und Lenn stehen in der Gasse gegenüber, während ich genau oberhalb Derriks auf der Feuerleiter warte. Wir waren uns erst nicht ganz einig darüber gewesen, ob wir den Wichser bis zu seinem Bike auf den gegenüberliegenden Parkplatz verfolgen, oder direkt hier an der Tür einkassieren. Doch bevor der Sack die Möglichkeit bekommt, mit seinem Motorrad zu verduften, machen wir es lieber direkt hier. Als die Tür endlich aufschwingt, spanne ich meine Beinmuskeln an und halte den
Sack bereit. Der Typ hat wie erwartet ein junges Mädchen im Arm, dass viel zu laut kichert. Sobald die Hintertür wieder zuschlägt, packt Derrik sich die Kleine, die sofort anfängt, wie eine Wilde zu kreischen, und noch ehe ich meinen Sack über den Wichser werfen kann, läuft er auch schon los. Allerdings nicht wie geplant in Luciens und Lenns Arme, sondern vorbei an Derrik mit dem kreischenden Mädchen im Arm, links in Richtung der alten verlassenen Schuhfabrik.
»Wir verdammten Idioten!«, schreie ich, springe auf die Straße, federe mich ab und renne Lucien hinterher, der auch direkt losgespurtet ist.
»Das Arschloch ist verdammt schnell«, ruft Lucien mir zu und ich lege noch mal einen drauf. Just in diesem Moment bekommt Lucien den Hoodie des Wichsers zu packen. Plötzlich höre ich einen Schuss an mir vorbeiziehen und sehe, wie mein Kumpel zu Boden geht.
»Fuck!« Der Wichser dreht sich im Rennen einmal zu uns um und ein weiterer Schuss ertönt. Ich werfe mich an der Wand auf den Boden, halte Lucien im Auge, der sich auf dem Boden krümmt, sein Bein packt und scheiße
schreit, während dieser verdammte Germain-Kopf in dem alten Gebäude verschwindet. »Fuck, fuck, fuck!« Robbend krieche ich vorwärts, nicht sicher, ob das andere Arschloch noch einmal schießt und als ich Lucien endlich erreiche, kommt auch Lenn bei uns an.
»Das Arschloch hat mich angeschossen«, krächzt Lucien.
»Kommst du klar?«, rufe ich hektisch und springe auf. »Bring ihn hier weg«, belle ich Lenn zu.
»Was hast du vor?« Lenn ist bereits dabei Lucien an die Seite zu ziehen.
»Mir den verdammten Wichser schnappen!« Ich warte keine Antwort ab, sondern renne in die verwaiste Schuhfabrik, in der wahrscheinlich mehr Penner und Dealer hausen als sonst wo. Fuck! Warum habe ich nur mein beschissenes Messer
mitgenommen? Wir waren uns zu sicher, dass das hier eine leichte Nummer wird.
Durch ein paar eingeschlagene Fensterscheiben fällt etwas Laternenlicht und ich drücke mich mit meinem Messer in der Hand an der Wand entlang. Das Teil hat drei Etagen, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Typ nach oben läuft. Auch, wenn ich mir das wünsche, da er mir dann auf keinen Fall durch die Lappen geht. »Wenn ich dich in die Finger kriege, bist du dran, Wichser!«, schreie ich laut und renne sofort geduckt in die gegenüberliegende Ecke. Ein fetter Stein knallt direkt vor meiner Nase zu Boden. Verdammte Scheiße!
Der Penner ist oben und wirft mit Dreckssteinen nach mir.
Außer dem Germain und mir scheint keiner in diesem Loch hier zu sein und so leise wie möglich schleiche ich der halb verfallenen Treppe entgegen. Geduckt drücke ich mich an der Seitenwand nach oben und muss dabei die Steine, die hier überall auf der Treppe liegen, im Auge behalten und dazu noch die Etage über mir. Ohne dass ich ein weiteres Geräusch vernehme, komme ich oben an. Soweit ich das überblicken kann, ist er nicht hier. Überall liegen alte vergammelte Decken und eine Menge großer Packkartons, in denen sich leicht jemand verstecken könnte. Ein Penner … oder der Germain-Kopf. Mit Sicherheit ist er noch eine weitere Treppe hochgerannt, das feige Arschloch! Ich schiebe mich bis zu dem eingeschlagenen Fenster vor und werfe einen schnellen Blick nach unten. Vielleicht ein Meter fünfzig bis zum Boden. Ein Geräusch hinter mir lässt mich herumwirbeln und meine Finger umgreifen das Messer in meiner Hand fester. Ich mache einen Schritt vorwärts, warte auf den Angriff, aber es kommt keiner. Die Halle wirkt wieder so einsam und verlassen wie zuvor. Ich trete einen weiteren Schritt vor, und ohne dass ich es habe kommen sehen, fliegt einer der Kartons in meine Richtung. Dahinter steht der Wichser und zielt mit seiner Knarre auf
meinen Kopf. Die Finger um mein Messer verkrampfen sich und ich kann nur hoffen, dass der Typ nicht sofort abdrückt. Ich brauche einen Moment, in dem er unachtsam wird, einen Moment, in dem ich ihm mein Messer direkt zwischen den Augen platzieren kann.
Er steht da, eingehüllt in seine schwarzen Sachen, die Kapuze des Hoodies tief ins Gesicht gezogen und das dunkle Dreckstuch so hoch oben, dass ich mich frage, wie er überhaupt noch etwas sieht.
»Wir wollen nur die Bristol Kids«, gebe ich knurrend von mir. »Liefert sie aus und ich überlege mir noch mal, ob ich euch einen nach dem anderen kalt mache. Angefangen bei dir!«
Meine Antwort bekomme ich, in dem der Penner seine Glock entsichert und dann auf mich zukommt, als wolle er mir die Hand schütteln.
»Wichser«, schreie ich, als ich sehe, wie sich der Zeigefinger bewegt, und als der Schuss losgeht, kann ich mich gerade noch rechts in die Ecke werfen. Die Patrone geht durch die Scheibe und die restlichen Teile der Glasscheibe, die noch vorhanden waren, zersplittern in tausend Teile und schießen wie kleine funkelnde Wurfgeschosse durch den Raum. Doch anstatt, dass das Arschloch erneut auf mich zielt, hält er einfach auf die Scheibe zu und springt.
»Fuck!« Ich springe auf und Derrik kommt von der Treppe aus auf mich zu gerannt.
»Wo ist das Schwein?«
Ich laufe zu der nicht mehr vorhandenen Scheibe, halte mich seitlich fest und sehe nach unten. Das Arschloch rappelt sich gerade vom Boden auf und rennt zurück Richtung Stars.
»Verdammt, Jared, was ist hier los?«
Ich beachte Derrik nicht, sondern renne zur Treppe und mit einem Affenzahn hinunter und dem Germain hinterher. Derrik ist dicht hinter mir, doch alles was wir noch sehen, ist, wie der Pisser mit seinem Bike vor unserer Nase in die Dunkelheit
verschwindet.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine so beschissene Wut hatte! Wir alle sitzen auf unserer Dachterrasse um Lucien herum, dessen Bein in einem dicken Verband versteckt ist.
»Wir müssen das Mädchen zu Hause abliefern.« Sarahs Blick ist ernst und auch angepisst.
»Fire, zum zehnten Mal! Die Kleine will nicht wieder nach Hause. Wir können sie schlecht zwingen.«
»Das interessiert dich doch sonst auch nicht«, grummelt Sarah und dreht sich zu Sid herum, die ihr zustimmende Blicke zuwirft.
»Viel schlimmer finde ich«, sagt Zuzanna, »dass ihr sie unten im Keller einsperrt. Was hat sie denn getan, außer sich auf die falschen Leute einzulassen?«
»Sie geht erst, wenn sie uns sagt, wo die Germains ihr Hauptquartier haben«, raunze ich sie an.
»Sie wird es euch aber nicht sagen! Wollt ihr das nicht verstehen?« Sarah ist richtig geladen.
»Vielleicht fragst du sie auch nicht auf die richtige Art.« Sam ist mindestens ebenso in Rage. Selten fährt er sein Mädchen außerhalb des Schlafzimmers so an.
»Du bleibst gefälligst von ihr weg«, raunt Sarah, springt auf und geht zum Aufzug.
»Du vergisst nur, dass Lucien und ich beinahe von den Wichsern über den Haufen geschossen wurden«, rufe ich ihr hinterher, aber sie stört sich nicht daran und verschwindet.
Sam stöhnt einmal genervt und steht dann ebenfalls auf. »Vielleicht sollten wir die Kleine wirklich gehen lassen.«
»Tickst du noch sauber?«, fragt Lucien, der sich den dritten Whiskey reinpfeift.
»Es war nur ein Streifschuss«, äußert Zuzanna. »Stell dich
deshalb nicht so an.«
»Und wenn es keiner gewesen wäre?«, will Derrik wissen.
»Ach Scheiße!« Zuzanna ist die nächste, die Richtung Aufzug marschiert.
»Sam hat recht«, sage ich und sehe meine Jungs der Reihe nach an. »Wenn sie so nicht mit uns sprechen will, sollten wir sie laufen lassen. Heute Nacht. Und dann sehen wir, wo sie uns hinführt. Denn unschuldige Mädchen foltern, das machen wir nicht!«
»Und wenn sie uns entwischt?«
»Das wird sie nicht«, sage ich mit fester Stimme. »Das lassen wir einfach nicht zu. Und jetzt sollten wir uns alle etwas Schlaf gönnen.«