Sara hielt den Blick auf den Computerbildschirm gerichtet, auf dem gerade noch das Video mit Schildt und Sandin den Kollegen gezeigt wurde. Sie sollte etwas sagen, aber das konnte noch warten.
Im Augenblick musste sie sich zusammenreißen.
Der erste Tag zurück auf der Arbeit, und dann begegnete ihr das hier. Noch mehr brutale Gewalt. Männer, die töteten.
Sie wusste wirklich nicht, ob sie das aushalten würde.
Abgesehen von dem Trauma, das es mit sich gebracht hatte, ein weiteres Mal um das eigene Leben kämpfen zu müssen, hatte sie auch Schuldgefühle, weil sie getötet hatte. Vielleicht auch Angst davor, dass es ein weiteres Mal passieren könnte. Dass dieses Töten ein Brandmal auf ihr hinterlassen hatte, sie zerstört hatte. Dass sie nie wieder zu ihrem alten Selbst zurückkehren könnte.
Das Leben hatte sich verändert, alle Träume waren zerstört. Es kam ihr so vor, als würde sie direkt in einen Abgrund starren. Nach dem Verrat ihres Schwiegervaters fiel es ihr schwer, sich auf Menschen zu verlassen, und sie hatte in den letzten Monaten kaum mit jemandem außerhalb der Familie gesprochen. Die Therapeutin, die sie getroffen hatte, sagte, dass Sara daran arbeiten solle, aber mitunter fragte sie sich, ob es das tatsächlich wert war. Konnte die Nähe zu anderen Menschen wirklich das kompensieren, was sie durchgemacht hatte? Manchmal hatte sie Angst, dass sie nie wieder jemanden so nahe an sich herankommen lassen würde. Dass sie nie wieder das Risiko eingehen würde, von jemandem dermaßen bloßgestellt zu werden. Manchmal dachte sie, es sei alles egal.
Formell war Sara vom Dienst befreit, aber in Wirklichkeit war sie krank gewesen. Posttraumatische Belastungsstörung. Gleichzeitig wurde sie immer und immer wieder vom schwedischen Verfassungsschutz, der Säpo, sowie dem deutschen Bundesnachrichtendienst BND verhört. Der Tod ihres Schwiegervaters Eric war eine Frage von äußerstem Gewicht für die europäische Sicherheit, so hatten sie es erklärt. Und damit angedeutet, dass Saras und Martins Leben nicht vom geringsten Gewicht für das vereinigte Europa war.
Sie hatte gespürt, dass sie mit diesen ganzen Fragen nicht umgehen konnte, dass sie nicht alles analysieren konnte, was passiert war.
Sie hätte komplett krankgeschrieben sein sollen. Damit sie ihre Ruhe hätte.
Und nicht ein Verhör nach dem anderen.
Sie hätte nicht nach wenigen Monaten schon zur Arbeit zurückkommen sollen.
Wäre vielleicht am besten gar nicht zurückgekommen.
Aber sie war zu schwach gewesen, um sich zu wehren, also war sie jedes Mal gekommen, wenn sie gerufen hatten, hatte ihre Fragen beantwortet und alle Schweigeverpflichtungen unterschrieben, die sie ihr vorgelegt hatten.
Und jetzt war sie wieder in ihrem Büro in der Polizeiwache von Solna. Zurück als Ermittlerin in der Kriminalabteilung.
Wo sie alles tat, um die Fassade aufrechtzuerhalten.
Die Umgebung legte ein gewisses Mitleid an den Tag, weil ihr Schwiegervater umgekommen war, aber ein Schwiegervater war wiederum kein so enger Verwandter, dass es nicht nach der ersten Kaffeepause wieder vergessen war.
Offiziell war Eric zu Hause an einem Herzinfarkt gestorben, und sein Sohn Martin hatte sich den Tod des Vaters sehr zu Herzen genommen. So sehr, dass er sich krankschreiben lassen musste. In Wirklichkeit litt er an dieser tiefen Depression, weil sein Vater kurz davorgestanden hatte, ihn hinzurichten und außerdem auch Saras Leben zu opfern, die daraufhin gezwungen gewesen war, den Schwiegervater zu erschießen. Er war den Verletzungen erlegen. Aber Erics Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst und der verdeckten Widerstandsbewegung der NATO , Stay behind, war zu wichtig und zu geheim, um etwas Negatives über ihn in die Öffentlichkeit kommen zu lassen.
Und zu allem Überfluss jetzt auch noch das hier. Ein bestialischer Mord, gefolgt von einem Selbstmord.
»Abartig«, war das Einzige, was der sonst so schlagfertige Peter über die Lippen bekam. Seine ständige Gefährtin Carro sah mitgenommen und schockiert aus.
»Das war doch Schildt. Der Außenminister.«
Alle hatten Schwierigkeiten, das Gesehene zu verarbeiten. Könnte es vielleicht eine Fälschung gewesen sein?, versuchte man sich zu beruhigen. Aber auch wenn niemand von ihnen Expertise auf diesem Gebiet besaß, war ihnen dennoch klar, dass das Video echt war.
»Wer war der andere?«, fragte Leo. Der groß gewachsene Mann war so ruhig wie immer, sah in diesem Fall aber auch ein wenig erschüttert aus.
»August Sandin«, sagt Sara. »Irgend so ein Vorstandsvorsitzender.«
»Der Schildt hasst.«
»Der ihn hasste .« Näher kam Peter nicht an einen Scherz heran.
»Warum seid ihr damit nicht direkt zu mir gekommen?«
Die kleinen gemeinen Augen der leitenden Ermittlerin Heidi Dybäck starrten auf Sara.
»Weil wir nicht wussten, was sich darauf befand.«
»Das war kein guter Anfang, Sara. Ein klares Minus.«
Sowohl Anna als auch Carro warfen Sara unterstützende Blicke zu. Jede von ihnen wusste, wie Heidi Hitler war.
Eine negative Überraschung, als Sara in ihren Beruf zurückgekehrt war, war die Vertreterin ihres Chefs Axel Bielke gewesen, der an einer Schussverletzung laborierte. Heidi Dybäck wurde im Prinzip im ganzen Polizeiapparat nur Heidi Hitler genannt, aufgrund ihrer Aggressivität und ihres vollständigen Unwillens, ihren Mitarbeitern zuzuhören. Eine giftige kleine Satansbraut, so lautete das weit verbreitete Urteil. Das Gesicht war rot unterlaufen und auf eine Weise in Falten gelegt, dass Sara mutmaßte, dass Heidi eine Alkoholikerin war, die ihren Job einwandfrei erledigte, sich dafür aber jeden Abend besinnungslos trank. Von der Sorte, die in der Morgendämmerung aufstand und auf der Arbeit deswegen so penibel war, weil sie hoffte, damit die schmerzhafte Sehnsucht dämpfen zu können, am Abend wieder im Vollrausch zu versinken. Und alles, was andere Leute zu ihr sagten, war nichts als ein Hindernis auf dem Weg in die abendliche Auslöschung. Daher der Zorn auf die Kollegen genauso wie auf den Rest der Welt. Ihrer Kleiderwahl fehlte ein strukturierender Gedanke, heute trug sie eine dunkelgrüne Fjällrävenhose mit Seitentaschen, braune Schneestiefel und einen beigen Babydoll-Umhang mit Peter-Pan-Kragen. Es blieb unklar, was sie damit sagen wollte.
Andere Veränderungen unter den Kollegen betrafen eher das Äußere. Carro hatte sich das Haar auf Streichholzlänge gekürzt, während Sara krankgeschrieben gewesen war und sich einen Ring in die Nase gesetzt hat. Der muskulöse Leo hatte sich einen Vollbart wachsen lassen und begonnen, einen Hut zu tragen. Einen kleinen Porkpie, der auf dem großen Kopf etwas verloren aussah. Nur Peter sah aus, wie er immer ausgesehen hatte, mit seinem struppigen Haar, seinem Hoodie und der Ladung Snus Kautabak unter der Oberlippe.
»Aber wer hat es gefilmt?«, fragte Carro in einem Versuch, das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken. »Im Prinzip kann es der Vorstandsvorsitzende getan haben. Aber wer hat es dann ausgeschaltet und das Video verschickt?«
Der Besprechungsraum in der Wache in Solna war kühl. Eine milde Oktobersonne wärmte durch die Fenster, und einer der Fensterflügel stand auf Kipp und ließ frische Luft herein.
Während die Stille sich im Raum ausbreitete, dachte Sara darüber nach, wie die anderen sie wohl betrachteten. Als Kollegin, die ständig in der Krise war? Anna wusste ein wenig von dem, was passiert war. Dass Saras Leben bedroht gewesen war, aber mehr auch nicht. Niemand hier wusste etwas von dem Terroristen Abu Rasil oder über Faust.
Oder über Geiger. Saras Kindheitsidol Lotta Broman war ganz nahe daran gewesen, den größten Terroranschlag in der Geschichte Europas zu verüben.
Alles war vorbei, aber Sara fragte sich, wie lange diese Ereignisse sie noch verfolgen würden. Der Tod, die Gewalt und vor allem die vielen Leute, die sie im Stich gelassen hatten. Vermutlich für immer. Und sie dachte, dass sie damit leben könnte, wenn sie sich nur nicht für den Rest des Lebens so schlecht fühlen würde wie jetzt.
Sie hatte ihr natürlich rotes Haar herauswachsen lassen, und es war jetzt halb aschblond, halb feuerrot. Es erinnerte ein wenig an ein Thermometer. Je mehr Drama es in ihrem Leben gab, desto röter wurde es.
Die Narben im Gesicht saßen eben, wo sie saßen, aber man konnte sie überschminken. Sie wusste nicht, ob sie noch mehr Operationen über sich ergehen lassen wollte. Vielleicht würde sie die Narben auch lieber behalten, die Welt sehen lassen, was sie durchgemacht hatte. Viel zu viele Frauen versteckten ihre Narben. Sowohl die physischen als auch die emotionalen.
»Wo ist derjenige, der das Video abgegeben hat? Wartet er hier irgendwo?«
Heidis schmale Pfefferkorn-Augen starrten Sara mit einer Glut an, als würde sie versuchen, ein Loch in sie hineinzubrennen.
»Auf keinen Fall«, sagte Anna und imitierte daraufhin Harald Mobergs aufgeblasene Stimme: »Ich habe einen Konzern zu führen. Vierzigtausend Menschen unterliegen meiner Verantwortung.«
»Er ist also gegangen?«, fragte Carro verwundert.
»Wir haben die Nummer seiner Assistentin bekommen«, sagte Sara und hielt eine Visitenkarte hoch.
»Aber vielleicht war es auch die Sekretärin der Assistentin.«
»Ja, ja, das spielt ja auch keine Rolle«, sagte Heidi und breitete die Arme aus. »Ein Mord und ein Selbstmord, danach kann ja nicht mehr viel passieren. Sorgt aber bloß dafür, dass die Zeitungen nichts erfahren. Wir wollen keinen Skandal. Habt ihr mich gehört? Das hier ist Top Level Security!«
Alle nickten. Niemand hatte Lust, Heidis Vorliebe für reißerische englische Filmausdrücke zu kommentieren.
»Die Frage ist jetzt«, sagte Sara, damit sie nicht mehr an ihren derzeitigen Führer denken musste, »wer das hier gefilmt und wer das Video geschickt hat, wobei es sich vermutlich um ein und dieselbe Person handelt.«
»Und warum ausgerechnet Moberg das Video bekommen hat«, fügte Anna hinzu.
»Wir müssen nach Verbindungen zwischen den Toten suchen.«
»Fantastische Idee«, sagte Anna ironisch. »Dass noch niemand daran gedacht hat.«
»Eifersucht? Geschäfte?«, fuhr Sara fort, ohne sich um die Stichelei zu kümmern.
»Hatte Sandin psychische Probleme? Ist unlängst etwas passiert, was dazu geführt haben könnte? Was macht Schildt eigentlich heute, oder machte, besser gesagt? Es ist ja eine Weile her, dass er Minister war.«
»Ihr dürft niemandem etwas von dem Video erzählen«, sagte Heidi. »Oder dass sie tot sind. Da kommt der Deckel drauf.«
»Aber wie sollen wir dann ermitteln?«, fragte Sara und runzelte die Stirn. »Wenn der Deckel draufbleiben soll?«
»Schafft ihr es etwa nicht, die Klappe zu halten? Meinst du vielleicht das? Ihr seid doch nicht zurückgeblieben!«
Für ein paar Sekunden war es mucksmäuschenstill, bis Peter sich räusperte. »Das heißt nicht zurückgeblieben, sondern kognitiv beeinträchtigt«, merkte er an.
»Idiot!«
»Es heißt nicht Idiot, sondern Audibesitzer.«
Carro lächelte, aber vor allem, um nett zu Peter zu sein.
»Okay«, sagte Sara und übernahm erneut das Kommando. »Keiner der beiden Männer im Video ist im Kriminalregister zu finden, also gibt es dort keine Anhaltspunkte.«
»Sollen wir Moberg Polizeischutz geben?«, fragte Anna und richtete ihren Blick auf Heidi.
»Warum denn?« Heidi sah beinahe beleidigt aus.
»Er hat schließlich das Video bekommen. Und den Zettel mit ›You’re next‹. Ist das nicht eine Art Drohung?«
»Von wem? Der Mörder ist doch tot.«
»Aber wer hat die Videoaufnahme bei ihm abgegeben?«
»Jetzt mach einen Fall, der gelöst ist, nicht unnötig kompliziert«, lautete das abschließende Urteil ihrer Chefin. »Fahrt besser los und informiert die Familien über die Todesfälle.«
Carro und Peter übernahmen die Familie Schildt, Anna und Sara fuhren zu Sandins. Als Heidi außer Hörweite war, erinnerte Sara die anderen daran, dass der Auftrag nicht nur darin bestand, die Angehörigen zu informieren, sondern auch darin, dort mehr über die Opfer zu erfahren. Gab es Angehörige, die etwas wussten, was das Ganze erklären konnte? Gab es private Verbindungen zwischen Schildt und Sandin?
Anna saß am Steuer. Sie pflegten stets darüber zu streiten, wer fahren sollte, weil beide es langweilig fanden, daneben zu sitzen, aber dieses Mal dachte Sara nicht einmal darüber nach. Und wie immer, wenn Anna fuhr, legte sie Michelle Shockeds »Captain Swing« auf.
Durch die Windschutzscheibe sah Sara das orange Laub am Sundbybergsvägen liegen und ließ ihre Gedanken wandern. Vielleicht bedeutete ihr herauswachsendes rotes Haar nicht nur die Rückkehr ihrer jugendlichen Energie, sondern war ganz im Gegenteil auch das rote Herbstlaub des Körpers? Vielleicht schloss sich bald ihr Lebenskreis? So oft man auch als Teenager an den Tod dachte, verstand man niemals, was er bedeutete. Mittlerweile spürte sie die baldige Auslöschung im ganzen Körper, der von unzähligen Gebrechen geplagt wurde nach all dem, was Sara hatte durchmachen müssen. Sie hatte das Gefühl in mehreren Fingern verloren und war mittlerweile gezwungen, auf der Seite zu schlafen, weil sich ansonsten der Rücken versteifte. Ständige Gedanken an den Tod weckten die Gedanken daran, wie ihre Tochter Ebba und ihr Sohn Olle mit ihrer Trauer und ihrer Verzweiflung umgehen würden. Sie hatten es in letzter Zeit sehr schwer gehabt mit ihrem deprimierten Vater, einer krankgeschriebenen Mutter und einem Großvater, der plötzlich aus dem Leben geschieden war. Obwohl Ebba bereits von zu Hause ausgezogen war, fiel sie in Saras Verantwortung und würde es auch in Zukunft tun.
Sara warf einen Blick zum Fahrersitz. Sie war auf jeden Fall froh, dass sie ihrer Freundin vergeben hatte, nachdem sie ihr im Auftrag ihres Chefs Bielke hinterherspioniert hatte. Sie hatte verstanden, dass Anna es vor allem getan hatte, weil sie sich Sorgen um sie machte. Und hätte sie nicht mitgemacht, dann hätte Bielke Sara auch nicht in Solna aufgenommen. Wo wäre sie dann gelandet? Mit ihrer Befehlsverweigerung im Zusammenhang mit dem Mord am Sexualverbrecher Stellan Broman hatte sich Sara bei keinem der Personalverantwortlichen im Polizeiwesen beliebt gemacht.
Dass sich nachher herausgestellt hatte, dass Bielke gewisse Hintergedanken hatte, als er Anna bat, Sara unter Aufsicht zu halten, war eine andere Geschichte. Gedanken, aus denen Wirklichkeit geworden war. Eine einzige gemeinsame Nacht. Er hatte sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort befunden. Sara bereute es nicht, aber sie würde es auch nicht wiederholen wollen.
Obwohl das Video, das sie sich gerade angesehen hatten, zu den widerwärtigsten Dingen gehörte, die Sara in ihrem ganzen Leben erlebt hatte, wurde ihr klar, dass sie sich für diesen Fall nur schwer engagieren könnte. Weder die Brutalität noch das Rätselhafte, was das Ganze umgab, brachten sie in Fahrt. Das Einzige, woran sie dachte, war das, was im Keller von Martins Eltern passiert war. Wie ihr Schwiegervater die Erhängung seines Sohns vorbereitet hatte, um Sara in eine Falle zu locken, die einen sehr lang gezogenen und qualvollen Tod mit sich gebracht hätte.
Ihr Schwiegervater. Das Monster Eric Titus. Wie war es möglich, so wenig über einen Menschen zu wissen, den man seit dreißig Jahren kannte? War sie eine so schlechte Menschenkennerin? Wie viele von denen, die sie täglich traf, trugen ähnliche Geheimnisse in sich? Eric musste einzigartig gewesen sein. Die Alternative wäre grauenvoll. Dass es mehr von seiner Art gäbe, denen nicht nur sie, sondern auch Ebba und Olle ausgesetzt sein könnten.
Annas Handy klingelte, und sie nahm das Gespräch an. Normalerweise hätte Sara ihr jetzt eine Grimasse gezeigt, weil man sich nicht mit dem Handy beschäftigen durfte, während man fuhr, aber in diesem Moment war es ihr gleichgültig.
»Hallo, Schatz«, sprach Anna in das Handy. »Auf der Arbeit … Mit Sara. Im Auto.«
Anna hörte zu, nickte vor sich hin und schaltete das Autoradio ein, damit das Gespräch über die Lautsprecher übertragen wurde.
»Sag Hallo«, forderte sie Sara auf.
»Hallo, Lina.«
Lina war Annas große Liebe, aber für Sara war Lina nur eine zusätzliche Erinnerung an alles, was passiert war, weil Anna und Lina sich auf dem Fest zum zwanzigjährigen Jubiläum von Martins Firma kennengelernt hatten. Martin, der stillschweigend zugesehen hatte, als eine Frau auf Befehl des Rappers Uncle Scam in einer bestialischen Peepshow umgebracht worden war. Martin, mit dem sie immer noch verheiratet war, mit dem sie aber nicht mehr das Bett teilte und den sie auch nicht mehr liebte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, eine Pappfigur als Papa. Waren sie noch verheiratet wegen der Kinder oder weil Sara nach wie vor eine klitzekleine Hoffnung auf eine Wiedervereinigung nährte, trotz allem, was passiert war?
»Hallo, alles gut?«, fragte Lina und unterbrach ihren Gedankengang.
»Ja, bestens.« Es war trotz allem eine leere Phrase.
»Wo seid ihr?«
»Auf dem Weg nach Östermalm. Warum?«, fragte Anna.
»Also, ich dachte, wenn ihr auf Södermalm gewesen wärt, dann hätten wir zusammen zu Mittag essen können.«
»Das wäre schön gewesen. Ein andermal vielleicht.«
Anna und Lina verabschiedeten sich mit Kussgeräuschen und beendeten das Gespräch. Sara nahm den bekannten Faden auf, dass Anna einen festeren Bund mit Lina eingehen sollte, und die Freundin argumentierte gegen diesen Vorschlag. Sara wies darauf hin, dass Anna sehr verliebt wirke, doch Anna meinte, dass dies genau das Problem sei. Lina sei »zu hübsch, zu gut« für sie.
»Sie hat es sogar selbst gesagt«, meinte Anna und lachte. »Wenn sie mein Profil auf Tinder gesehen hätte, hätte sie niemals nach rechts gewischt.«
»Wie gemein.«
»Nein, ganz im Gegenteil. Denn es bedeutet, dass die richtige Anna besser ist, denn mit mir ist sie ja schließlich zusammen. Also, diese Profile sind total geisteskrank. Alle lügen und schneiden auf und suchen sich Bilder aus, auf denen sie wesentlich reizvoller aussehen als in Wirklichkeit.«
»Aber warum hast du Tinder, wenn du mit ihr zusammen bist?«
»Das habe ich gar nicht. Mein Profil habe ich gelöscht. Aber sie wollte es sich erst noch ansehen.«
»Sie kontrolliert dich?«, sagte Sara und lächelte. »Wer ist denn die Polizistin von euch? Sieht sie sich auch deine SMS an?«
In dem Moment fiel Sara ein, dass sie auch mal wieder auf ihr eigenes Handy sehen sollte. Sie hatte nach den Ereignissen mit Abu Rasil einen starken Widerwillen dagegen entwickelt, wusste aber, dass die Tatsache, nicht auf die Mail von Pastor Jürgen Stiller geantwortet zu haben, ihn und seine Frau im letzten Sommer vermutlich das Leben gekostet hatte. Deshalb erinnerte sich Sara ständig daran, das Mobiltelefon im Auge zu behalten, obwohl es ihr nicht behagte. Es fühlte sich an, als kämen nur schlechte Nachrichten und Todesmeldungen über den Bildschirm.
Nicht in diesem Fall allerdings. Nur ein verpasster Anruf von Malin Broman. Was wollte sie? Keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, also war es wohl nicht wichtig.
Anna und Sara waren zu der riesigen Wohnung in Lärkstan gefahren, in der August Sandin gewohnt hatte, und waren von seiner schlanken, gut geschminkten Frau Valeria empfangen worden, die im Augenblick etwas abwesend wirkte. Sie trug hochhackige Schuhe bei sich zu Hause und hatte einen schwer zu identifizierenden ausländischen Akzent.
Sie hatten die Todesnachricht überbracht, und wenn sie eine Reaktion erwartet hatten, dann ganz bestimmt nicht diese: dass die Ehefrau des Toten einen großen, orangefarbenen Kalender von Hermès mit einem Einband, der vermutlich aus Krokodilleder gefertigt war, herausholte, in den sie mit einem Montblancstift aus der Marcel-Proust-Produktlinie »August tot« in die Zeile des heutigen Datums eintrug.
Dass August sich das Leben genommen haben sollte, konnte sie nur schwer glauben, aber wenn die Polizei es sagte, dann musste es wohl so gewesen sein. Ein Grund für diese Tat fiel ihr allerdings nicht ein.
»Kannte Ihr Mann Jan Schildt?«, fragte Anna. »Den ehemaligen Außenminister?«
»Das weiß ich nicht.«
»Hatte er einen Grund, schlecht über ihn zu denken?«
»Das weiß ich nicht.«
Valeria Sandins Gesichtsausdruck war vollkommen neutral. Die Stirn blank vom Botox.
»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«
»Vor ein paar Tagen vielleicht.«
Frau Sandin blätterte in ihrem Krokodilkalender und legte einen langen, leuchtend roten Nagel unter eine Notiz.
»Hier. Am Freitag. Als er zur Arbeit fuhr.«
»Sie haben sich am gesamten Wochenende nicht gesehen?«, hakte Sara nach.
»Nein. Warten Sie.«
Der perfekte Zeigefinger blätterte im Kalender, der in die Haut eines einst lebendigen Wesens gehüllt war.
»Er sollte auf eine Konferenz.«
»Was für eine Konferenz?«
»Für die Arbeit. Aber das sagte er immer, wenn er zu Gustav wollte.«
»Wer ist das denn?«, fragte Sara und musste aus irgendeinem absurden Grund an Gustav Gans bei Donald Duck denken. Manchmal wunderte sie sich über ihre eigenen Assoziationen.
»Sein Freund. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ein Sexualpartner? Liebhaber?«
Valeria Sandin ließ ihre Hand hin und her wackeln, während sie nachdachte, als wollte sie andeuten, dass es schwer zu definieren war.
»Lustknabe«, sagte sie schließlich.
Anna holte tief Luft und ließ sie langsam wieder heraus, bevor sie antwortete.
»Wir verstehen, dass das Ganze traumatisch ist. Wenn Sie mit jemandem reden müssen, dann gibt es PsychologInnen, deren Nummern wir Ihnen geben können. Aber leider müssen wir Sie bitten, noch niemandem von Augusts Tod zu erzählen. Aus ermittlungstechnischen Gründen brauchen wir noch etwas mehr Zeit, um die Vorgeschichte zu untersuchen, bevor alles an die Presse geht.«
Valeria zuckte als bestätigende Geste mit den schlanken Schultern.
»Okay. Wenn Sie mir auch mit einer Sache helfen.«
»Soweit es geht«, sagte Anna abwartend.
»Kommen Sie.«
Sie folgten ihr durch einen langen Küchenflur in die inneren Bezirke der Wohnung. Valeria öffnete die Tür zu einem Zimmer, in dem zwei Handwerker standen und mit Wasserwaage, Hammer und Nägeln warteten. Der eine hielt ein Bild in grellen Pastellfarben in den Händen. Es zeigte ein unklares Motiv, das aus Federn und Augen und Wolken in einem wilden Durcheinander bestand.
»Wo sollen sie das Bild aufhängen? Ich kann mich nicht entscheiden, und sie sprechen kein Schwedisch.«
Bevor Sara die bizarre Szene kommentieren konnte, klingelte ihr Handy. In der Hoffnung, aus dieser Gemäldesituation herauszukommen, antwortete sie sofort und hatte direkt die aufgeregte Stimme ihrer Schwiegermutter im Ohr.
»Sie sind wieder hier gewesen! Das Salz steht falsch!«
Und dann hörte sie das Geräusch einer weinenden Marie Titus, am Boden zerstört wie ein Kind, dessen Teddy verschwunden war.
»Sie geben mir den Rest«, schluchzte sie. »Sara, du musst sie aufhalten.«