6

Sara blieb einen Moment vor der Außentür stehen, bevor sie hineinging.

»Titus«, verkündete das blanke Namensschild.

So hätte sie auch heißen können.

Sara Titus.

Wenn sie den Nachnamen ihres Mannes angenommen hätte.

Wie hätte sie das beeinflusst? Wäre sie eine andere gewesen? Oder war der Nachname nur Ornament?

Wofür stand eigentlich »Titus«? Die Familie eines bösen Mannes. Ein Erbe aus Opfern und Tätern. Sara weigerte sich, ein Teil davon zu sein. Sie weigerte sich, sich von dem Ungeheuerlichen, das sie erlebt hatte, und dem Schrecklichen, das sie hatte tun müssen, verhärten zu lassen. Sie hatte Narben fürs Leben bekommen, sowohl körperlich als auch seelisch, und sie würde niemals mehr so sein wie vorher. Aber sie trug eine Verantwortung gegenüber ihren Kindern. Sie musste es nicht nur überleben, sondern die Kinder auch vor ihren eigenen Traumata schützen. Dafür sorgen, dass sie ihre Wut nicht an die nächste Generation weitergab, wie Eric es getan hatte.

Sie sah erneut auf das Namensschild.

Blankes Messing mit altmodischem Schriftbild. Sorgfältig ausgewählt. Die Hausfassade und das Namensschild stellten die Abgrenzung zur Außenwelt dar, die Oberfläche, die man anderen entgegenhielt. Sie sagten, wer man sein wollte. Natürlich abhängig von den Ressourcen, die man hatte. Nicht alle konnten sich die Fassade leisten, die sie gerne hätten.

Was Eric Titus betraf, hätte genauso gut Faust oder Otto Rau auf dem Namensschild stehen können, denn er war genauso sehr auch sie. Vielleicht lagen diese Identitäten sogar näher an Erics wirklichem Ich. Hier, wie in allen anderen Familien in gut situierten Gegenden auch, galt es, den Dreck unter den handgeknüpften Teppich zu kehren, aber Eric hatte bedeutend schlimmere Sachen zu verbergen gehabt als irgendeiner seiner Nachbarn. Seine Boshaftigkeit übertraf sogar die von Stellan Broman.

Es verwunderte Sara, dass Martin denselben Nachnamen behalten hatte wie der Vater, obwohl dieser ihn in seiner Jugend so sehr gequält hatte. Vielleicht hatte er den Schritt nicht gewagt. Eric zumindest hätte ihn bestimmt nicht zugelassen. Möglicherweise brauchte Martin auch den soliden Eindruck, den der Name Titus vermittelte, gerade weil sein Inneres das reinste Chaos war.

Und jetzt war sogar Maries Fassade eingebrochen.

In den fünfundzwanzig Jahren, die Sara ihre Schwiegermutter mittlerweile kannte, hatte diese nie etwas anderes gezeigt als ein breites Lächeln. Höchstens eine bekümmerte Furche zwischen den Augenbrauen, falls ein Rock von Schuterman nicht die Qualität hielt, die sie erwartet hatte. Sara musste zugeben, dass sie froh darüber war, dass Marie jetzt ihre Deckung fallen gelassen hatte, auch wenn sie natürlich hoffte, dass nichts Schlimmes passiert war.

Hätte Sara nicht Erics Thronerben Tom Burén versprochen, eine Vollmacht von Marie und Martin zu besorgen, dann wäre sie nie davon ausgegangen, das Haus von Eric in ihrem Leben noch einmal zu besuchen. Tom wartete bereits mehrere Wochen und klang ausgesprochen angespannt, wenn er hin und wieder bei Sara anrief und sie mit höflicher Stimme daran erinnerte, dass er diese Vollmacht nun aber wirklich brauche, um den Konzern zu leiten. Jetzt konnte sie in der Frage endlich etwas unternehmen. Aber am liebsten hätte sie das Haus nie wieder gesehen.

Bevor sie eintrat, schaute Sara sich um. Vielleicht um zu sehen, ob es Hilfe in der Nähe gab oder ob von irgendwo her eine Gefahr im Anmarsch war.

Die grauen Wolken, die den Himmel bedeckten, wirkten plötzlich eher bedrohlich als langweilig. Nicht einmal hier blieb man von der Tyrannei der Jahreszeiten verschont.

Nicht einmal auf dem Grönviksvägen 189 in Bromma. Eine Adresse, die so nobel war, wie man es sich nur vorstellen konnte.

In derselben Straße wie die Bromans und damit auch in derselben, in der Sara einst gewohnt hatte. Was eine große Sache war, als Sara ein frischgebackener Teenager war. Der hübscheste Junge der Schule wohnte ebenfalls in dieser Straße. Wie oft war sie mit dem Fahrrad dort vorbeigefahren und hatte versucht, einen kurzen Blick auf Martin zu erhaschen.

Aber das war damals gewesen. Als sie dieses Haus zum letzten Mal betreten hatte, war es für sie um Leben und Tod gegangen.

Jetzt war es an der Zeit, das Kommando über das eigene Leben zurückzugewinnen. Wenn der Teufel weg ist, ist die Hölle nichts anderes mehr als ein warmer Ort.

An den Keller wollte sie allerdings nicht denken. Es war immer noch zu viel, um es zu verarbeiten. Wie Martin hier wohnen konnte, verstand sie nicht. Vielleicht war es für ihn eine Methode, Sara zu zeigen, wozu sie ihn zwang, wenn sie ihn nicht zu Hause wohnen ließ. Dann wurde er nämlich genötigt, sich in seine Kindheit zurückzuziehen, in die Erniedrigung. Alles nur wegen Sara.

Aber sie konnte nicht mit ihm zusammenleben, nicht nach dem, was mit Uncle Scam passiert war.

Die Ereignisse, die sich im Keller abgespielt hatten, tauchten wieder in ihrer Erinnerung auf, obwohl sie alles versuchte, um sie auszusperren. Die Kopfschmerzen, die sich herangeschlichen hatten, pochten jetzt gegen die Schläfen, ließen sie Übelkeit verspüren. Sie musste fest schlucken, während der verzweifelte Kampf von Neuem in ihr hochkochte. Ihre Angreifbarkeit, ihr gebrochener Ehemann, die Panik, nicht nur für das eigene Leben, sondern auch für Martins kämpfen zu müssen. Damit Olle und Ebba nicht elternlos wurden. Damit sie ihre Kinder wiedersehen konnte. Und dann der Schock darüber, dass ihr Schwiegervater das Böse war, das sie die ganze Zeit gejagt hatte. Dass jemand aus ihrem Umkreis, aus ihrer eigenen Familie, sie töten wollte. Und es ihm fast geglückt wäre. Dass er all seine destruktive Energie gegen sie gewendet hatte. Dass sie am Ende gezwungen war, ihn umzubringen.

Und wie sie anschließend, ohne darüber nachzudenken, Thörnell anrief, statt ihre Kollegen bei der Polizei. Aus purem Instinkt. Sie hatte trotz ihres verwirrten Zustands das Gefühl gehabt, dass es Menschen gab, die ein starkes Interesse daran hatten, die Informationen über Eric Titus’ Todesfall zu kontrollieren. Irgendwo tief in ihrem Inneren war ihr vielleicht auch klar gewesen, dass der Anruf bei Thörnell die beste Chance für sie war, aus dem Ganzen herauszukommen, ohne dass ihre eigenen Kinder erfahren mussten, wer ihren Großvater getötet hatte.

Und tatsächlich war alles vertuscht worden. Offiziell bestand die Todesursache darin, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte. Marie kümmerte sich um die Enkelkinder, während Martin zum Krankenhaus gefahren wurde, um anschließend direkt an die psychiatrische Notaufnahme weitergereicht zu werden, bis er schließlich in einem Behandlungsheim für Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung landete. Sara wurde wochenlang nach dem ausgefragt, was sie wusste und was geschehen war. Sie beschlich das Gefühl, dass man vor allem wissen wollte, ob man sich auf sie verlassen konnte.

»Warum machen sie das?!«

Marie war abgemagert. Und sie war blass geworden. Sie hatte offensichtlich keine Zeit oder auch keine Lust, für die früher stets perfekte Sonnenbräune zu sorgen. Und sie hatte vergessen, sich zu schminken. Ob dieser Verfall eine Folge des Todes ihres Mannes war oder auf dem jetzt erlebten Angriff beruhte, war schwer zu sagen.

»Was machen sie denn?«, fragte Sara. »Und wer überhaupt?«

Die Augen der Schwiegermutter waren aufgerissen und ängstlich.

In dem Titusschen Heim hatte alles seinen exakten Platz, darüber wusste Sara Bescheid. Es war ihr immer ein bisschen unangenehm gewesen, sich dort zu bewegen. Sie hatte Angst, gegen irgendetwas zu stoßen, einen Teppich zu zerknittern, die Ordnung zu zerstören. Wenn es irgendetwas gab, was Pedanten in den Wahnsinn trieb, dann waren es kleine Abweichungen in ihrem häuslichen Stillleben, und wenn Sara etwas nicht vermeiden konnte, dann war es ihre Eigenschaft, überall, wo sie unterwegs war, die Ordnung zu zerstören. Also waren die Besuche bei den Schwiegereltern stets mit einer gewissen Anspannung behaftet gewesen.

Sie sah sich um. Alles sah genauso aus wie immer. Die Möbel von der Nordiska Galleriet, die echten Teppiche, die Kronleuchter. Der einzige Unterschied bestand darin, dass ein riesiges Porträt von Eric an die Wand in der Halle gelehnt war, oberhalb von Josef Franks Schrank 881 aus Vavona Maser. Sara fiel auf, dass sie nie zuvor ein Foto von Eric gesehen hatte. Auf dem Foto war der Schwiegervater auffallend jung. Vielleicht gab es keine Aufnahmen von ihm aus späteren Jahren, weil es wichtig für ihn gewesen war, nicht gesehen zu werden, nicht identifiziert zu werden. Oder Marie sehnte sich zurück in die Zeit, als sie ihren Mann kennengelernt hatte, danach, wie er ihr damals erschienen war.

»Was haben sie denn deiner Meinung nach bewegt?«, fragte Sara und sah sich um.

»Alles! Die Fernbedienungen liegen in der falschen Reihenfolge. Das Küchenhandtuch hängt mit dem Waschzettel zur Wand. Die große Schere liegt rechts von den Pfannenwendern. Wer ist denn ständig hier und sorgt für diese Unordnung?«

Gespenster, dachte Sara. Das hätte jedenfalls Anna gesagt. Dein eigenes Gehirn, wollte Sara am liebsten sagen. Aber die Schwiegermutter brauchte jemanden, der ihr glaubte. Ganz unabhängig davon, wie unwahrscheinlich ihre Geschichten waren. Und Sara wusste, dass der ostdeutsche Geheimdienst manchmal so gearbeitet hatte, um Andersdenkende gerade mit solchen minimalen Veränderungen in ihrem Haushalt, die sie zum Nachdenken brachten und an ihrem Verstand zweifeln ließen, zu zerbrechen. Am Ende gaben sie auf und erhängten sich.

Aber die Stasi gab es nicht mehr.

»Hat vielleicht Martin die Sachen verschoben?«

Obwohl Martin die exakte Ordnung der Dinge in diesem Haus von Kindesbeinen an eingeimpft bekommen hatte, könnte er ja ein paar Details im Laufe der Jahre vergessen haben, besonders nach den traumatischen Erlebnissen der letzten Zeit.

»Er hat sein Zimmer den ganzen Tag nicht verlassen. So war es an allen Tagen, an denen sie hier waren, er liegt einfach dort und schläft.«

»Schläft?«

»Ja, er hat ja all die Jahre so hart gearbeitet. Da ist es doch verständlich, wenn er jetzt total erschöpft ist.«

Wollte Marie nicht einsehen, dass ihr Sohn sich schlecht fühlte, oder konnte sie es nicht? War ihr klar, dass sie selbst sich ebenfalls in einem Auflösungszustand befand?

Sara folgte Marie in das Untergeschoss, wo die Witwe mit gellender Stimme auf all die Dinge zeigte, die eine Winzigkeit verkehrt lagen. Sara beruhigte die verwirrte Frau, so gut sie konnte, und versicherte ihr, dass sie so etwas ebenfalls erlebte. Sie war überzeugt davon, dass sie etwas an einen bestimmten Ort gelegt hatte, um es später ganz woanders zu finden. Und sie erklärte in einem mitleidigen Tonfall, dass die Polizei keinen Fall übernehmen konnte, bei dem es um verschobene Fernbedienungen ging. Dann holte sie eine blaue Plastikmappe mit einem Zettel darin heraus.

»Eine Vollmacht«, sagte Sara. »Tom hat von sich hören lassen und gesagt, dass weder du noch Martin nach Eric übernehmen wollen. Aber irgendjemand muss alle Papiere unterschreiben. Es ist ja jetzt euer Konzern.«

Marie betrachtete das Papier, dann Sara.

»Eine Vollmacht? Damit wir nichts machen müssen?«

»Damit ich für euch unterschreiben kann. Bis ihr wisst, was ihr machen wollt. Aber ich lasse natürlich bis auf Weiteres Tom bestimmen, der alles weiß und den Betrieb kennt.«

»Wie schön.«

Marie nahm den Stift, den Sara ihr hinhielt, und setzte ihre Unterschrift auf das Dokument.

»Willst du Martin nicht Hallo sagen?«, fragte die Schwiegermutter unvermittelt, und Sara bekam das Gefühl, dass es eigentlich nur um genau diesen Punkt gegangen war. Sorge um den Sohn, die Marie nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen konnte, sondern dadurch verbarg, dass sie sich auf die Position des Salzstreuers auf dem Esstisch konzentrierte.

»Doch. Er muss ja auch unterschreiben.«

Dem Hass auf ihren Mann nach den Ereignissen mit dem Rapper Uncle Scam, der von Martins Firma Go Live nach Schweden eingeladen worden war, war eine Welle des Mitgefühls gefolgt, nachdem sie gesehen hatte, unter welchen Bedingungen Martin mit seinem psychopathischen Vater aufgewachsen war. Doch obwohl die Gefühle gemischter geworden waren, hatten beide Faktoren es schwerer gemacht, Martin in die Augen zu sehen.

Sara ging die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Sie erinnerte sich deutlich an das erste Mal, als Martin sie mit zu sich nach Hause genommen hatte. Sie waren beide über zwanzig gewesen, Sara lebte zur Untermiete in einer Wohnung, und Martin wohnte immer noch zu Hause. In einem Jungenzimmer, das nach wie vor so aussah wie eine Teenagerhöhle. Darüber hatte Sara sich gewundert, aber sie hatte beschlossen, dass es keine Rolle spielte. Sie würde schon noch einen richtigen Mann aus Martin machen. Hatte sie gedacht.

Oberhalb der Treppe folgte sie dem weißen Geländer nach links, dann blieb sie vor Martins Tür stehen. Wie würde es sich anfühlen, ihn zu sehen? Wie ging es ihm? Sie hatten kaum voneinander gehört, seit er aus dem Behandlungsheim entlassen worden war, und sie waren übereingekommen, dass er mindestens dreimal in der Woche anrufen und mit Ebba und Olle sprechen sollte.

Wenn er den ganzen Tag nur herumlag und schlief, wie Marie es sagte, dann war er vielleicht immer noch gebrochen. Das wollte Sara nicht. Martin war ihr Mann, und er war der Vater ihrer Kinder. Wenn er nicht stark und großartig war, dann sollte er zumindest stark genug sein, ihren Zorn über das auszuhalten, was er angestellt hatte, aber nicht einmal dem konnte sie jetzt freien Lauf lassen. Sie musste so viel unterdrücken, so viel, dass sie fast zu explodieren drohte.

Genau wie Marie es gesagt hatte, lag Martin in seinem Bett und schlief. Das Bett war ein Dux und mit Sicherheit von seinen Eltern ausgesucht worden. Den Rest der Einrichtung hatte er ganz offensichtlich selbst ausgewählt, vor sehr langer Zeit. An den Wänden hingen Bilder von AIK s Meistermannschaft von 1992 , Poster mit Bands wie ZZ Top, Kiss, U2 und Guns n’ Roses. An Möbeln besaß er ein altes Chesterfield-Ledersofa, einen Sitzsack sowie einen niedrigen Couchtisch in Form eines »Einfahrt verboten«-Schilds, das auf einer Bierkiste lag. Sara seufzte bei dem Anblick, wusste aber selbst nicht so recht, was dieses Seufzen bedeuten sollte.

»Martin?«, sagte sie. Sie konnte ihn genauso gut jetzt nach Marie fragen, wenn sie einmal hier war. Und wenn Martin von seiner Mutter erzählte und darüber, ob es einen Grund zur Unruhe gäbe, könnte Sara sich eine Meinung darüber bilden, wie es mit ihm selbst aussah.

»Martin«, sagte sie erneut, dieses Mal etwas lauter, aber es half nicht. Er schnarchte einfach weiter.

Sara betrachtete die schlafende Gestalt, das lange Haar und die durchtrainierten Arme. Sie dachte an den Martin, in den sie sich verliebt hatte, den sie geheiratet hatte. Steckte er noch irgendwo darin? Konnte man ihn wiedererschaffen? Oder hatte er nur in Saras Gehirn existiert? Hatte sie ihre eigenen Träume und Hoffnungen auf einen armen, unschuldigen Menschen projiziert, der diese Figur niemals ausfüllen konnte?

Sollte sie ihm verzeihen?

Alles zu verstehen heißt, alles zu verzeihen, hatte sie irgendwo gelesen. Bei der Kindheit und Jugend, die er gehabt hatte, war es eigentlich ein Wunder, dass er nicht selbst zu einem Monster geworden war. Aber was er während der Peepshow gemacht hatte, wie er einfach zugesehen hatte, als eine unschuldige Frau ermordet wurde, kam schon nahe an die Handlungen eines Monsters heran. Auf jeden Fall war es eine widerwärtige Gleichgültigkeit.

Und diese Gedanken an Vergebung entsprangen vielleicht auch Saras Sehnsucht nach der Familie, die sie einmal gehabt hatte. Ihre unglückliche Liebe zur Idee der Kernfamilie. Aber Ebba war ja bereits ausgezogen, und in wenigen Jahren würde auch Olle so weit sein. Vielleicht wäre es besser für Sara, sich ein ganz neues Leben zu suchen. Umziehen, eine neue Arbeit finden, einen Neuen treffen oder für den Rest des Lebens allein bleiben. Vielleicht würde sie nachts dann besser schlafen.

Dann sah sie die Tablettenschachteln.

Sie erkannte die Sorte sofort wieder. Von unzähligen Beschlagnahmungen und hochgenommenen Dealern.

Morphintabletten.

Die Einsicht traf sie wie ein Tritt in den Unterleib. Ein richtiger kleiner Berg aus Verpackungen. Sie streckte langsam und mit leichtem Unwohlsein die Hand aus und hob die erste Schachtel hoch.

Das Rezept war von einem Arzt ausgeschrieben. Was sich zuerst beruhigend anfühlte. Aber dann betrachtete sie den Berg aus Verpackungen. Es war sehr viel. Morphinsulfat. Gelb, rund, 60  mg.

Sechzig Milligramm?

Sie schüttelte Martin wach. Mit harter Hand. Weil er so schwer zu wecken war, konnte sie ordentlich zupacken und sich ein wenig abreagieren. Einen Teil der Sorgen und des Zorns ablassen, die in ihr aufgestiegen waren. Es dauerte trotzdem lange, bis er aufgewacht war, und zuerst schien er gar nicht zu verstehen, wo er sich befand, als er schließlich die Augen aufschlug.

»Morphin«, war das Einzige, was Sara sagte.

Martin blinzelte mit den Augen, anstatt zu antworten.

»Martin, man bekommt zehn oder höchstens mal dreißig Milligramm verschrieben. Sechzig ist sehr viel.«

»Was … wie …«

Ihr Mann glotzte sie an wie ein Schaf.

»Hast du die Dosis erhöht? Welcher verdammte Arzt verschreibt dir überhaupt Drogen?«

Sara hob die Schachtel auf und las. Etzner.

»Dieses Arschloch werde ich anzeigen«, sagte sie.

»Nein, tu das nicht. Es ist der Arzt unserer Familie. Er ist so um die neunzig«, sagte Martin und schüttelte protestierend den Kopf, bevor er ausgiebig gähnte.

»Aber Martin, wenn einen sechzig Milligramm nicht umbringen, dann muss man schon eine ziemliche Toleranz aufgebaut haben. Hast du das?«

»Ich konnte nicht schlafen.«

Sara sackte zusammen und setzte sich auf die Bettkante.

»Wir haben nicht über das gesprochen, was im Keller passiert ist.«

»Ich erinnere mich nicht daran.«

Jetzt wich Martin ihrem Blick aus.

»Dann kann ich es dir erzählen.«

»Ich will mich nicht erinnern. Noch nicht.«

Sie waren eine Weile still, dann streckte Martin seine Hand nach Sara aus. Instinktiv stand sie auf und wich ein paar Schritte zurück.

»Fass mich nicht an.«

»Sara …«

»Hör auf mit dem Morphin«, sagte sie. »Sonst zeige ich dich an.«

»Anzeigen?«

»Ich meine es so, wie ich es sage. Unsere Kinder sollen keinen Junkie als Vater haben«, sagte Sara und starrte ihn ungnädig an.

»Es sind keine Drogen. Es sind Medikamente.«

»Hör damit auf!«

»Ja, ja … das werde ich.«

Ihr Mann ließ ein Seufzen hören, legte sich wieder auf das Bett und zog die Decke mit dem Blumenmuster über sich.

»Und hier musst du unterschreiben.« Sara warf die Plastikmappe mit der Vollmacht auf das Bett. »Ein Konzern führt sich nicht selbst.«

Martin unterschrieb und gab Sara das Papier.

Sie beugte sich vor und sammelte die Schachteln ein, die überall auf dem Boden des Zimmers lagen.

»Ich nehme die hier mit. Und dann werde ich diesen verdammten Etzner aufsuchen und ihm sagen, dass ich ihn hinter Gitter bringe, falls er dir noch einmal so etwas verschreibt, selbst wenn er hundert Jahre alt ist und zerbrechlich wie eine Mingvase.«

Sara wartete nicht auf Martins Antwort, sondern drehte sich um und ging mit den Händen voller Morphintabletten hinaus. Sie war sich nicht sicher, ob sich ihr Zorn nicht noch verstärkt hatte, nachdem die sprießenden Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung so brutal zertreten worden waren.

Vielleicht hätte sie mehr für ihren Mann empfinden sollen, nachdem er sich jetzt schwächer gezeigt hatte, als sie ihn jemals zuvor erlebt hatte. Aber Sara fiel es schwer, von der Grundeinstellung abzusehen, dass jeder für sein eigenes Leben verantwortlich war, jedenfalls wenn man Kinder bekommen hatte.

»Sie waren auch im Büro. Eric wäre wahnsinnig geworden.«

Sara blieb am Fuß der Treppe stehen und sah Marie an, die offensichtlich dort gestanden und auf sie gewartet hatte. Die Schwiegermutter fingerte an ihrem Perlenhalsband herum, das, wenn Sara sich nicht irrte, ein Geschenk ihres Mannes zum dreißigsten Hochzeitstag gewesen war.

»Wie bitte?«

»Sie waren auch in Erics Büro. Komm.«

Marie machte auf dem Absatz kehrt und ging weiter ins Haus hinein, wobei Sara ihr unwillig folgte.

»Was haben sie denn gemacht? Haben sie den Schreibtischstuhl um einen Halbkreis weitergedreht? Da hat wohl Martin nach irgendetwas gesucht«, sagte Sara. Und dachte, dass es wohl Geld für die Drogen war, was ihr Mann gesucht hatte. Obwohl er im Grunde alles Cash, das er brauchte, auf dem Konto hatte. Vielleicht war er einfach nur so zugedröhnt gewesen, dass er gar nicht wusste, was er tat.

»Martin?«, sagte Marie verständnislos. »Warum sollte er denn die Wand aufbrechen?«

Die Schwiegermutter war mitten auf dem Fußboden in Erics Arbeitszimmer stehen geblieben und deutete auf die eine Wand, in der ein großes Loch gähnte.

Eine quadratische Öffnung mit rauen Kanten, nachdem jemand eine Klappe aufgebrochen hatte, die sich dort befand.

Das Ölgemälde, das jetzt darunter auf dem Boden lag, hatte bestimmt die eigentliche Klappe verdeckt. Und dahinter saß ein Safe, der ebenfalls aufgebrochen war.

Papiere, Festplatten und Banknoten lagen überall im Safe und auf dem Boden darunter. Wer hier eingebrochen war, hatte es nicht auf das Geld abgesehen.

Marie betrachtete Sara mit betretener Miene.

»Ich wusste noch nicht einmal, dass wir dort einen Safe hatten.«