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Sie sah nicht besonders verschämt aus, die alte Dame, die auf Edna Hawthorne im Hyde Park zukam.

»Entschuldigen Sie, dass ich mich so aufdränge, aber ich habe eine etwas seltsame Frage. Ich komme mir vor wie ein Dummkopf, aber ich bräuchte Hilfe bei einer Sache.«

»Ja?«

Edna war es nicht gewohnt, dass Leute Hilfe von ihr wollten oder dass überhaupt eine der Bettlerinnen in dieser Stadt sie um Geld bat. Etwas in ihrer Ausstrahlung hielt die Leute auf Abstand. Also war sie schon allein aus Verwunderung bereit, der alten Dame zuzuhören. Vielleicht war sie auch von dem Gedanken beseelt, dass diese Frau sie selbst sein könnte, wenn sie nicht so gut auf sich aufgepasst hätte. Im Grunde waren sie im selben Alter, aber während Edna sich in allen Lagen wie eine Herrin fühlte und benahm, entsprach die Ausstrahlung dieser Frau eher einer Haushälterin. Das Unterwürfige und Unsichere ihres Benehmens irritierte Edna und besänftigte sie zugleich.

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich so privat werde«, fuhr die Frau fort, und Edna bereute sofort, dass sie angefangen hatte, ihr zuzuhören. »Aber als junge Frau bin ich in ein Unglück gestürzt und musste mich von meinem Kind trennen. Mehr als fünfzig Jahre hatte ich nicht die geringste Ahnung, was mit meiner Tochter passiert ist, aber vor wenigen Jahren bekam ich Kontakt zu ihr, und seitdem schreiben wir uns Briefe. Schließlich beschloss ich, dass wir uns hier im Hyde Park treffen sollten, zumal sie in der Nähe arbeitet.«

»Da gratuliere ich Ihnen«, sagte Edna, obwohl sie nicht viel mit Leuten anfangen konnte, die Kinder in die Welt setzten, um die sie sich nicht einmal kümmern konnten.

»Das Problem ist, dass ich nicht weiß, ob ich mich ihr zu nähern wage. Vicky, meine Tochter, ist vielleicht sehr böse auf mich. Weil ich sie weggegeben habe.«

Edna dachte, dass sie selbst es garantiert gewesen wäre. Und sie wäre niemals darauf eingegangen, eine Frau zu treffen, die sie als Kind weggegeben hatte. Aber das hatte diese Vicky offensichtlich getan. Darum sagte Edna tröstend: »Das glaube ich nicht. Dann hätte sie ja nicht einem Treffen zugestimmt.«

»Entschuldigen Sie bitte, ich falle Ihnen tatsächlich zur Last, aber könnte ich Sie bitten, zu ihr zu gehen und nachzusehen, in welcher Stimmung sie ist? Ob sie böse ist?«

Die alte Dame schielte zu ihr herauf, bevor sie mit verlegener Miene schnell wieder zu Boden blickte.

»Zu ihr gehen?«, sagte Edna mit gefurchter Stirn und sah sich um.

»Wir sind übereingekommen, dass sie von hier aus gesehen auf der dritten Bank an der linken Seite warten wird. Wenn Sie einfach zu ihr gehen und sie fragen könnten: ›Vicky aus Frinton?‹ Und wenn sie es ist, merken Sie sich einfach ihre Stimmung. Böse oder froh.« 

Edna seufzte, dann sah sie auf ihre Armbanduhr von Chanel und nickte. Es war noch eine halbe Stunde, bis sie Charlott im Harrods treffen würde, also hatte sie noch einige Minuten, die sie totschlagen müsste.

»Natürlich. Die dritte Bank links?«

»Ja. Eine Frau um die fünfzig, mit rotem Schal.«

»Und wenn sie böse aussieht?«

»Dann sagen Sie ihr bitte, dass ich nicht kommen konnte. Ich verschwinde dann. Aber wenn sie nicht böse wirkt, sagen Sie ihr bitte, dass ich auf dem Weg bin, und kommen hierher zurück. Dann werde ich zu ihr gehen.«

Widerwillig nickte Edna der Frau zu, bog nach links ab und folgte dem Weg bis zu der dritten Bank, während Jogger auf der Jagd nach ein bisschen frischer Atemluft an ihr vorbeisausten. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass die alte Haushälterin ihr mit einem gewissen Abstand gefolgt war, um zu sehen, wie es lief. Unglaublich, wie seltsam manche Menschen sein konnten!

Auf der dritten Bank saß tatsächlich eine Frau mit einem roten Schal und las in einem Buch. Im Hintergrund leuchteten die Bäume in klaren Herbstfarben, und ein Parkwächter ermahnte eine Gruppe von Radfahrern, abzusteigen und die Räder zu schieben.

»Vicky aus Frinton?«, fragte Edna und blieb vor der Frau stehen.

»Ja?«, sagte die Frau, sah zu ihr hoch und lächelte. »Aber es ist lange her, dass ich dort war«, fuhr sie fort, während sie eine seltsame schwebende Bewegung mit der Hand über dem Kopf machte.

Im selben Augenblick stellte Edna fest, dass diese Vicky nicht im Geringsten böse wirkte, sondern so froh aussah, als würde sie Edna für ihre Mutter halten. Puh, wie peinlich.

Weiter als bis dahin konnte Edna nicht denken, bevor sie hörte, wie sich schnelle Schritte aus drei verschiedenen Richtungen näherten. Jemand griff nach ihrem Arm, und ein anderer drückte ein Tuch auf ihren Mund und ihre Nase.

Dann wurde alles schwarz.