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Flexiseq Gel, Cura-Heat und Salonpas Gel-Patch.

Das grünhaarige Mädchen an der Kasse der auch am späten Abend geöffneten Apotheke an der Brompton Road sah etwas verwundert aus, als Agneta jedes Medikament kaufte, das sie gegen Arthrose hatten.

Aber was sollte sie tun? Agneta konnte ja nicht im Vorhinein wissen, welches von ihnen am besten funktionierte. Jetzt waren die verdammten Schmerzen mit voller Kraft zurückgekehrt. Und sie wusste nicht, wohin sie sollte. Was hinter der nächsten Ecke wartete. Oder wer überhaupt hinter ihr her war.

Gegen das Herzflimmern hatten sie nichts, was sie einfach so ohne Rezept kaufen konnte. Das Einzige, was Kathy an der Kasse ihr empfehlen konnte, war ein Blutdruckmesser, aber der würde Agneta nicht viel helfen. Warum sollte sie genau wissen, wie schlecht es ihr ging, wenn sie trotzdem nichts dagegen tun konnte? Jetzt half es nur noch, die Daumen zu drücken, dass das Herz die letzten Anstrengungen halbwegs überstanden hatte.

Sie zahlte mit Bargeld und verließ das Geschäft. Hoffte, dass der Mundschutz gemeinsam mit der Baseballkappe sie davor bewahrte, von den Kameras identifiziert zu werden.

Sie sah sich auf der menschenleeren Straße um. Wohin sollte sie gehen?

Vicky war ihre Kontaktperson gewesen und hätte ein Versteck organisieren sollen, bis ihr Führungsoffizier Schönberg eintraf. Aber Vicky war offensichtlich Doppelagentin. Half der anderen Seite, wer auch immer diese war.

Sobald Agneta Vickys Zeichen gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass es eine Falle war. Sie hatte nicht darauf gewartet, dass die anderen Agenten heranstürmten, sondern war in die entgegengesetzte Richtung geflüchtet.

Wer waren sie, und warum wollte Vicky ihnen Agneta ausliefern?

Waren sie Russen? Briten? Deutsche?

Und die wichtigste Frage überhaupt: Auf wen konnte sie sich jetzt verlassen?

Und wohin sollte sie gehen? Wo konnte sie sich einschleusen, ohne dabei aufzufallen?

Eine Herberge? Eine Busreise mit schwedischen Rentnern? Es war zu spät am Abend, um sich einer solchen anzuschließen.

Das Wartezimmer einer Notaufnahme? Dort konnte sie garantiert die ganze Nacht ungestört sitzen und womöglich auch eine Weile schlafen.

Das einzige Risiko war, dass die Überwachungskameras mit der Polizei verkoppelt sein konnten. Wenn man darüber nachdachte, wie viele Kameras überall in Großbritannien und vor allem in London aufgestellt waren, war es immer gefährlich, hier zu agieren. Dafür hatten die Vollidioten von der GRU , die in Salisbury enttarnt worden waren, ein hervorragendes Beispiel geliefert.

Der Gedanke an die GRU brachte sie auf eine Idee.

Jede Menge russische Milliardäre und Oligarchen besaßen große Häuser in London, die sie nur für einige Tage im Jahr benutzten. Genau wie die vielen Ölscheichs und reichen Asiaten. Ganze Stadtteile waren im Prinzip unbewohnt.

Und Agneta kannte einen dieser Hausbesitzer besonders gut.

Byk.

Ihr Ochse, dachte sie mit einem kleinen Lächeln, als sie durch die viel befahrenen Straßen von Knightsbridge ging.

Ihr alter Führungsoffizier Jurij vom KGB , der bei den Privatisierungen unter Boris Jelzin steinreich geworden war. Er hatte die Kontrolle über eine Bank übernommen, mit deren Geld staatliche Metallindustrien und eine Ölfirma gekauft und war auf den Platz als viertreichster russischer Mann geklettert. Dann hatte er sich mit dem neuen Präsidenten angelegt und im Ausland Unterschlupf suchen müssen. Mittlerweile bewegte er sich durch eine Anzahl von Ländern, in denen er unterschiedliche Geschäftsinteressen hatte. Und standesgemäße Wohnungen.

»Deine Adresse in London? D.«, schrieb sie in eine Mitteilung, die sie von einem der Prepaidhandys schickte, die sie für den Auftrag beschafft hatte. Die Nummer, an die sie die Mitteilung sendete, konnte sie seit Jahrzehnten auswendig, und sie war sich sicher, dass sie sich bis zum Tod des Inhabers nicht mehr ändern würde.

Tatsächlich kam in weniger als einer halben Stunde eine Antwort, und in dieser Zeit konnte das Medikament schon seine Wirkung entfalten, obwohl der Cocktail von Wirkstoffen natürlich nicht reichte, um den Schmerz ganz auszuschalten. Nichts konnte diesen Schmerz lange betäuben.

»17 Lowndes Square«, lautete die Antwort.

Agneta befand sich nur wenige Straßen davon entfernt, also beschloss sie, den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen, obwohl sie damit riskierte, die Schmerzen in den Gelenken zu verschlimmern. Aber sie hatte den Eindruck gewonnen, dass es besser war, sich zu bewegen, statt still zu sitzen.

Als sie angekommen war, ging sie direkt zu dem beeindruckenden Eingangsportal und drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Entweder konnte man sie mit einer App öffnen, oder ihr reicher Freund hatte jemanden dorthin geschickt, der weniger wichtig war.

Essen, dachte sie im selben Augenblick, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Was sollte sie essen? Vielleicht hatte Byk jemanden, der den Kühlschrank und die Speisekammer des Haushalts immer gut gefüllt hielt? Russische Milliardäre mussten schließlich Hunderte von Angestellten in all ihren Häusern und Booten haben.

Mittlerweile war sie so ausgehungert, dass sie halluzinierte. Sie hätte schwören können, dass ihr der Geruch von flambiertem Rinderfilet in die Nase wehte. Aber das Haus war leer, und wer flambierte heutzutage noch Fleisch?

So leise wie möglich schlich sie zur Küche. Sie musste sich ein wenig vortasten, aber als sie den Duft tatsächlich geortet hatte, fiel die Orientierung leicht.

In der Küche brannte Licht, als sie durch den dunklen Gang heranschlich, also steckte sie die Hand in die Tasche des Mantels und griff nach der Handgranate, die sie als Back-up dabeihatte. Dann stellte sie sich mit dem Rücken an die Wand, direkt neben der Tür, streckte den Arm aus und schob sie langsam auf.

Niemand schoss und niemand griff an. Mit der Handgranate in der einen Hand und mit der anderen am Splint warf sie einen schnellen Blick in die Küche, bevor sie wieder in Deckung ging.

Byk.

Er musste das Personal weggeschickt haben.

Nachdem sie ein Festmahl für ihn und Agneta gekocht hatten. In weniger als einer Stunde.

Sie steckte die Handgranate wieder ein und trat in die Türöffnung.

Mitten in der riesigen Küche stand ein großer Tisch, der mit einer Leinendecke und dem Porzellan gedeckt war, von dem Agneta wusste, dass es einst der Zarenfamilie gehört hatte. Es wurde erzählt, dass der unter der Bluterkrankheit leidende Prinz Alexej mit der Stirn auf den Teller gefallen war, als er von den siegestrunkenen Bolschewiken während der Revolution bewusstlos geschlagen und verhaftet worden war.

Auf dem Tisch standen Schüsseln, Platten und Schalen aus Silber. Kristallgläser gefüllt mit blutrotem Wein.

Und am Tisch saß er. Byk. Der Ochse. Mit derselben kraftvollen Ausstrahlung wie vor dreißig Jahren. So lange hatten sie sich tatsächlich nicht mehr gesehen, auch wenn sie Kontakt gehalten hatten, zunächst über Funk und in den späteren Jahrzehnten über sein Handy, als er kein KGB -Mann mehr war, sondern ein Geschäftsmann. Jetzt saß er leger gekleidet da, in einer schwarzen Anzughose, einem weißen Hemd mit Monogramm und aufgekrempelten Ärmeln sowie einer Patek Philippe Grand Complications Sky Moon Tourbillon am Handgelenk.

»Romanowitsch, warst du das?«, fragte er.

»Ich bin nur eine alte Frau«, antwortete Agneta und warf ihm ihre Arthrosemedikamente zu.

Die eine Perücke mit der DNA eines georgischen Terroristen am Tatort zurückgelassen hatte.

Agneta lächelte. Jurij war der Einzige, der sie wirklich kannte. Und sie kannte ihn. Etwas höchst Ungewöhnliches in der Welt, in der sie aktiv waren.

»Und der Mann im Rollstuhl?«, fuhr er fort. »Ein alter russischer Agent, der senil geworden war? Um falsche Spuren zu legen?«

»Und gleichzeitig einem Kollegen einen würdigen Abschluss aus seiner erniedrigenden Existenz zu ermöglichen.«

»Du denkst immer an alles«, sagte Jurij.

»Und deshalb stehe ich jetzt hier.«

»Ist es zu spät, eine Familie zu gründen?«, fragte er und lächelte, aber mit dunklem Blick.

Sie sah in seinen Augen, dass er mit ihr ins Bett gehen wollte. Wie früher. Und sie erkannte, dass sie es ebenfalls wollte. Und sei es nur aus dem Grund, dass sie sich schon immer gefragt hatte, ob die Gerüchte stimmten. Es hieß nämlich, dass er in den Neunzigerjahren von rivalisierenden Gangstern seine Hoden abgeschnitten bekommen hatte.

Die Legende sagte, dass eine Bande aus Tschetschenien vor seiner Hochzeit mit einer jungen Tänzerin zugeschlagen hatte. Sie hatten Jurij und seine Freunde im VIP -Raum des Nachtklubs eingesperrt, in dem er seinen Junggesellenabschied feierte, und dort hatten sie langsam seine Freunde vor seinen Augen zerstückelt.

Dann hatten sie mit dem begonnen, was eigentlich eine lang gezogene Schlacht des Gangsterbosses hatte werden sollen, indem sie Jurijs Hoden abschnitten.

Aber als einer der Tschetschenen ihm die Eier in den Mund steckte, biss er dem Mann die Finger ab, konnte nach seiner Waffe greifen und erschoss alle anderen, mit dem Körper des Fingerlosen als Schutzschild. Dann hatte Jurij einen Ausrottungskrieg begonnen und die gesamte Konkurrenz brutal ausgelöscht, sowohl die wirkliche als auch die eingebildete. Mit Hunderten von Opfern als Folge.

Der neu erschaffene Gangsterkönig hatte dafür gesorgt, dass er mit den Kreisen um Jelzin auf freundschaftlichem Fuß stand, und auf diese Weise hatte er ein märchenhaftes Vermögen aufbauen können.

Wahr oder nicht, seit dem Angriff im Nachtklub musste er mit dem Spitznamen Byk leben.

Der Ochse.

Der entmannte Stier.

Agneta fragte sich, ob jemand es irgendwann gewagt hatte, ihn bei diesem Namen zu nennen. Sie hatte jedenfalls nicht vor, es zu tun.

Sie begnügte sich damit, seinen nächsten Zug abzuwarten.

Sehr interessant.

Und sie hatte ein wenig Zeit vor dem nächsten Auftrag. Also warum sollte sie nicht die Gelegenheit ergreifen und sich ein bisschen amüsieren?