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Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und nachgedacht. Den Bescheid von Go Live, dass sie Martin entlassen hatten, hin und her gedreht.

Dass sie ihren Mann nicht angerufen und von dem Brief berichtet hatte, begründete sie sich selbst gegenüber damit, dass sie ihn nicht abschießen wollte, nachdem er jetzt endlich ein bisschen Energie gesammelt und hoffentlich mit der Erholungsphase begonnen hatte.

Am Abend hatte er ein Bild geschickt, ein Bildschirmfoto von einer App, mit der er die Laufrunde gemessen hatte, auf der er unterwegs gewesen war. Typisch Martin. Jetzt, wo er endlich ein bisschen Energie hatte, reichte sie für alles Mögliche. Das war erfreulich, aber Sara war klar, dass diese Erholungsphase zerbrechlich war. Wenn er erfuhr, dass er seinen Geschäftsführerposten los war, würde ihn das bestimmt wieder zurückwerfen.

Wenn sich Martin wieder richtig wohlfühlte, würde er vielleicht gar nicht in den Job zurückkehren wollen. So wie Sara es sah, wäre er viel zu sehr mit Uncle Scam und der Peepshow verbunden.

Aber sie wusste, dass sie eigentlich nur versuchte, vor ihrer eigenen Verantwortung zu fliehen.

Wenn sie die Videos nicht an die amerikanische Zeitung geschickt hätte, dann wäre Uncle Scam niemals in den Skandal geraten, der dazu geführt hatte, dass seine Plattenfirma ihn fallen ließ und seine Videos von allen möglichen Seiten gelöscht wurden. Dann hätte er Go Live auch nicht angeklagt. Und Martin wäre nicht rausgeschmissen worden.

Nachdem sie sich stundenlang gewälzt und gedreht hatte, stand sie gegen vier Uhr auf, um sich eine Tasse Tee zu kochen. Auf dem Weg zur Küche nickte sie dem bärtigen Judas Thaddäus und dem eher femininen Erzengel Michael zu, die beide laut Jane die Schutzheiligen der Polizisten waren. Mit gleich zwei Heiligen über ihr an der Wand konnte nichts Schlimmes passieren, dachte Sara und lächelte müde vor sich hin.

In der Küche brannte bereits Licht, und sie hörte erregte Stimmen. Olle und Gabriel waren immer noch zu Gange. Jetzt tranken sie O’Boy und aßen Butterbrot, während sie empört kommentierten, was auf Olles Laptop zu lesen war.

»Michael Jackson, R. Kelly, Bill Cosby. Das sind nur schwarze Künstler, die angeklagt werden.«

»Und alle mit gefälschten Zeugenaussagen. Guck mal, da steht, dass dieses Mädchen noch nicht mal in der Stadt war, als er sie angeblich vergewaltigt hat.«

»Ihr habt morgen Schule«, sagte Sara, bekam aber nur einen hastigen Seitenblick von den beiden Freiheitskämpfern.

»Ja, ja …«, murmelte Olle, der Saras Worte offensichtlich gar nicht gehört hatte.

Sie betrachtete die Jugendlichen eine Weile, dann ging sie einfach hin und klappte den Deckel des tragbaren Computers zu.

»Bettgehzeit. Ihr müsst in drei Stunden aufstehen. Gabriel, du kannst Ebbas Bett nehmen. Oder das Sofa.«

»Okay.«

Es war immer leichter, die Freunde der Kinder zum Gehorchen zu bringen als die eigenen.

Olle unternahm einen miserablen Versuch im Beatboxen, als er zu seinem Zimmer marschierte. Bevor er die Tür hinter sich schloss, stimmte er einen jugendlichen Protestsong à la Generation Z an.

»Muttchen – knechtet für den Staat. Muttchen – zwingt mich in den Schlaf. Aber ich muss nicht pennen. Ich kann immer noch rennen. Die Schule ist für Loser. Äh …«

Weiter reichte die Inspiration nicht.

Um Viertel vor zehn hatte Sara zwei Stunden geschlafen, sich benommen eine schnelle Dusche gegönnt und sich als Frühstück eine Handvoll Cornflakes hineingezwungen, bevor sie die Wohnung verließ, um rechtzeitig zu Titus & Partners zu kommen.

Als sie aus dem Eingang trat, betrachtete sie die ewige Slussen-Baustelle und die drei himmelhohen Baukräne, die sich über dem Munkbroleden erhoben, als Symbol dafür, mit welchem Abstand von der Wirklichkeit dieses Projekt beschlossen worden war. So viele Jahre Arbeit und so viele Milliarden Steuergeld, nur um eine Betonwüste durch eine andere zu ersetzen.

Nur vier Minuten verspätet betrat sie den eleganten Eingang an der Ecke zwischen Torstenssonsgatan und Riddargatan, bereit, ihre Tochter zu begrüßen.

Aber Ebba saß nicht an der Rezeption.

Dort traf Sara stattdessen auf eine lange, blonde, junge Frau mit einem so aufwendigen Make-up, dass es Stunden gedauert haben musste, es anzubringen. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, das sehr an eine Stewardess erinnerte, komplett mit Namensschild und einem Schal mit großem Knoten auf der einen Halsseite. »Filippa«, stand auf dem Namensschild.

»Ebba?«, fragte Sara und bekam ein automatisches Lächeln geschenkt, bevor eine Antwort folgte.

»In ihrem Büro«, sagte die junge Frau. »Haben Sie einen Termin?«

»Was? Einen Termin? Mit Ebba? Nein … allerdings mit Tom.«

»Burén?« Eine zweifelnde Furche trat auf ihrer hohen Stirn hervor, aber sie tippte folgsam auf ihrer Computertastatur. Hielt eine Sekunde inne, um den Bescheid auf dem Bildschirm aufzunehmen. »Und Ihr Name?«

»Sara Nowak.«

»Sie können hochgehen.«

Die junge Frau klang fast verwundert, allerdings nach wie vor pathologisch freundlich. War Sara in ihren Augen zu gewöhnlich, um den Vorstandsvorsitzenden des gesamten Konzerns zu treffen? Dann hatte die junge Frau allerdings nicht auf dem Schirm, dass Saras Mann und ihre Schwiegermutter mittlerweile das Unternehmen besaßen. Als dieser Gedanke durch Saras Gehirn fuhr, schämte sie sich, und sie bekam Panik, dass sie möglicherweise genauso großkotzig und selbstherrlich geworden war wie diejenigen, die sie in ihrem Leben am allermeisten verachtete. Im selben Augenblick fragte sie sich, was eigentlich mit ihr los war. Woher kamen diese Unsicherheit und diese Zweifel? Das sah ihr gar nicht ähnlich. Allerdings hatte sie auch Dinge erlebt, die bedeutend stärkere Menschen zerbrochen hätten als sie selbst.

Sara erreichte die Vorstandsetage und wurde von der Assistentin Sanna am Fahrstuhl abgeholt, die ihren Schreibtisch vor den Büros der Chefs hatte. Als Vorstandsassistentin war man offensichtlich nicht zu einer Stewardess-Uniform verpflichtet. Sanna trug eine weiße Strickjacke über einer weißen Bluse und eine lange, marineblaue Hose mit Bügelfalten.

An der Wand hing jetzt ein großes, schwarz-weißes Porträt von Eric, mit einem schwarzen Band an der einen Ecke des Rahmens. Sara warf einen unfreiwilligen Blick in das Büro ihres Schwiegervaters, und durch die rauchfarbene Glaswand sah es exakt genauso aus wie zuletzt. Niemand war dort eingezogen. Aber Sannas Tisch stand jetzt näher an Toms Büro.

»Sara Nowak«, sagte sie zu Sanna. »Ich bin mit Tom verabredet.«

»Mein herzliches Beileid«, sagte Sanna, die offensichtlich besser über Sara Bescheid wusste als das Mädchen am Empfang.

»Da höre ich ja eine bekannte Stimme«, sagte Tom und kam Sara entgegen. Der groß gewachsene Mann im Anzug umarmte sie und wies mit der Hand in sein Büro.

»Kaffee? Tee? Warme Servietten?«, fragte er und lächelte.

»Wasser«, entgegnete Sara und ging los.

»Hallo, Mama.«

Ebba kam aus einem Zimmer hinter Toms Büro. Ein anderes Kleid als am Tag zuvor. Das Outfit des Tages war grün mit großen, roten Blumen. Ein halblanger Rock und ein Blazer mit doppelter Knopfreihe und einem breiten Gürtel in der Mitte. Streng und exklusiv zur gleichen Zeit. Sara blieb stehen, drehte sich um und umarmte ihre Tochter, obwohl sie ahnte, dass Ebba befürchtete, so etwas würde unprofessionell wirken. Aber Ebba hatte auch keine Kinder. Sie konnte nicht verstehen, wie man als Mutter fühlte.

Sie gingen in Toms Büro und ließen sich in jeweils einen LC 3 -Sessel von Le Corbusier sinken. In der Mitte des Zimmers residierte Poul Kjærholms Glastisch PK 65 .

»Wie geht es Martin und Marie?«, fragte Tom. »Sind sie immer noch nicht daran interessiert, Titus & Partners zu übernehmen? Erics Erbe weiterzuführen?«

»Nein, und ich verstehe auch, dass sie als Besitzer jede Menge Entscheidungen treffen müssten, die nicht länger warten können«, sagte Sara. »Es sind ja schon ein paar Monate vergangen, seit Eric gestorben ist.«

Ein paar Monate, seit sie Eric getötet hatte.

Der Gedanke an das, was passiert war, schabte noch ständig im Hinterkopf.

Der einzige Trost war jetzt, dass Martin sich endlich wieder besser fühlte. Am Morgen hatte er das Bild eines Sonnenaufgangs in den sozialen Medien gepostet mit dem Text »Mit den Hähnen aufstehen – you snooze you lose! #morningfitness #newlife #flow«.

»Es ist eine große Hilfe, dass du mit ihnen reden kannst, das solltest du wissen«, sagte Tom und lächelte sie an.

Sara legte die Plastikhülle mit der Vollmacht auf den dänischen Designertisch.

»Sie sehen ein, dass der Konzern nicht von selbst rollt, also neige ich im Augenblick zu der Ansicht, dass dies die beste Lösung ist. Aber glaub mir, diese Papierarbeit ist nichts, was mir besonders Spaß macht, und Zeit habe ich dafür eigentlich auch nicht. Ich mache es nur für Ebba.«

Tom las die Vollmacht durch und fand sie anscheinend ausreichend.

»Schön, Sara. Vielen Dank. Dann hast du hier noch einen ganzen Berg von Papieren, die du unterschreiben musst. Ich kann dich mit der Nachricht erfreuen, dass der Konzern gut läuft. Die Hälfte von dem, was du unterschreibst, sind neue Geschäftsbeziehungen.«

Sara blätterte durch den Stapel. Jede Menge Firmen, von denen sie nie etwas gehört hatte. Wahnfried AG , Pätz Mining, Tsarneft. Sollte das hier ihre Zukunft sein? Geschäfte, Kooperationen, Verträge? Sie hatte nicht die geringste Ahnung von so etwas, und sie wollte es auch nicht lernen. Sie war Polizistin, nicht irgendein Excel-Nerd. Aber wenn sie es nicht tat, dann würde es niemand tun. Mit Marie und Martin konnte man nicht rechnen. Auch wenn Eric ein böser Mann gewesen war, hatte er gleichzeitig den gesamten Konzern aufgebaut, und jemand musste die Verantwortung für den Familienkonzern übernehmen. Ebbas und Olles Erbe verwalten.

Tom suchte die richtigen Stellen für sie heraus, auf denen die Unterschrift sitzen musste, und sammelte die Dokumente wieder ein, die sie unterzeichnet hatte. Ein diskretes Knacken am Türrahmen, und Sanna schaute herein.

»Ein Anruf von Gloria.«

»Ich rufe später zurück«, sagte Tom, ohne den Fokus auf die Unterschriften zu verlieren. Sanna ging wieder.

»Ich habe gesehen, dass eine neue Frau am Empfang arbeitet«, bemerkte Sara, während sie ihre Unterschrift unter einen weiteren Vertrag setzte. Sie hoffte, dass sie neutral genug klang, als sie es sagte.

Sowohl Tom als auch Ebba sahen erst sie an und dann einander.

»Ja, genau«, sagte Tom. »Aufgrund der gegenwärtigen Situation in der Familie habe ich beschlossen, Erics Plan für Ebbas Laufbahn ein wenig zu beschleunigen.«

»Du hast sie befördert? Das war aber nett.«

»Es war alles andere als nett. Ebba hat sich als äußerst kompetent herausgestellt, und es wäre wirklich gut, wenn jemand aus der Eigentümerfamilie aktiv am laufenden Geschäft teilnehmen könnte. Jemand, der es auch will

»Und das willst du?«, fragte Sara und richtete ihren Blick auf die Tochter.

»Ja. So wollte Opa es haben.«

Ebba sah traurig aus, als sie Eric erwähnte.

»Ich bin ja inzwischen als Vorstandsvorsitzender an Erics Stelle getreten«, sagte Tom. »Und ich habe Ebba als meine Vorstandsassistentin ausgesucht.«

»Okay. Jetzt gerade eben? Von der Rezeption?«

»Seit zwei Monaten schon. Und es läuft unglaublich gut. Ich könnte mir keine bessere Hilfe wünschen.«

»Ist Sanna nicht deine Assistentin?«, fragte Sara.

»Doch, aber sie ist ja keine Trainee wie Ebba. Schließlich hat Eric einst bestimmt, dass Ebba Trainee werden und alles über die Firma Titus & Partners lernen sollte. Jetzt überspringen wir einfach nur die allereinfachsten Aufgaben.«

»Aber du weißt, dass du sie nicht verwöhnen musst«, wandte Sara ein. »Du brauchst dich nicht bei der Familie beliebt zu machen.«

»Mama!«

Ebba betrachtete sie mit gerunzelter Stirn.

»Darum geht es nicht«, sagte Tom. »Nicht im Geringsten. Ebba war Erics Wahl, und ich kann nichts anderes dazu sagen, als dass es eine ausgezeichnete Wahl war.«

»Ja, also …«

Sara begegnete dem zornigen Blick ihrer Tochter. Fiel sie Ebba gerade in den Rücken? Oder war sie nur Realistin?

»Es wäre doch schön, wenn jemand aus der Familie eines Tages übernehmen könnte«, sagte Tom, beugte sich über den Tisch und sammelte die letzten unterschriebenen Dokumente ein. »Das war zumindest Erics Hoffnung. Und es gibt nur eine Methode, alles zu lernen und zu wachsen: indem man das Vertrauen bekommt, genau dies zu tun.«

Sara betrachtete ihre Tochter. War sie die Einzige, die hier noch das Kind sah, die Heranwachsende? Sahen alle anderen eine kompetente, zukünftige Vorstandsvorsitzende? Sara fiel es sehr schwer, das alles zu verarbeiten.

Das letzte Papier war unterschrieben. Sara legte den Stift von Caran d’Ache auf den Couchtisch und sah Tom an.

»Okay, das war alles?«

Tom räusperte sich leise und warf einen kurzen Blick auf Ebba, bevor er Sara in die Augen sah.

»Da wäre noch etwas.«

Tom schien sich zu sammeln, wie vor einer schlimmen Nachricht.

»Ja?«, fragte Sara.

»Ebba und ich.«