Sara spielte den Filmausschnitt immer und immer wieder ab. Nicht um ein verstecktes Detail zu entdecken, sondern weil sie zu abgelenkt war, um sich auf dieses Video konzentrieren zu können. Dass zwei Menschen immer wieder auf dem Bildschirm auftauchten, nahm sie gar nicht wahr.
Sie konnte nur an Ebba und Tom denken.
Mehr als zwanzig Jahre Abstand zwischen ihnen, er verheiratet und Vater dreier kleiner Kinder.
Jetzt hatte er seine Familie wegen Ebba verlassen und war in die Zweizimmerwohnung der Tochter am Mosebacken gezogen.
Warum?
Midlife-Crisis? Musste er sich wieder jung fühlen? Wie lange würde der gut vierzigjährige, steinreiche Vorstandsvorsitzende eines internationalen Konzerns brauchen, bis er einer egozentrischen Teenagergöre nicht mehr zuhören konnte? Und wie würde Ebba es verkraften, wenn er zur Familie zurückkehrte?
Er hatte wirklich sehr verschämt ausgesehen, und das zu Recht, fand Sara.
Für eine Sekunde stellte sie ihre eigene Reaktion infrage, während sie in ihrem Büro in der Polizeiwache von Solna saß. Fühlte sie sich vielleicht nur übergangen? Ständig waren ihr irgendwelche Männer hinterhergehechelt. Hatte jetzt Ebba diese Rolle übernommen, war Sara zu alt, um noch als attraktiv empfunden zu werden? War sie deswegen verbittert? Nein, denn in dem Fall war es einfach eine schöne Entwicklung, stellte sie fest und sah durch das ungeputzte Fenster in den Herbstregen, der dort draußen fiel. Stattdessen hatte sie Mitleid mit Ebba, die noch ein paar Jahrzehnte voller geiler Blicke und aufdringlicher Männer vor sich hatte, von denen man nie wusste, ob sie gewalttätig wurden, wenn man sie abspeiste.
Und wenn Sara ganz nüchtern über die Situation nachdachte? Dann war es keine ganz passende Idee, dass ein Vorstandsvorsitzender mit seiner eigenen Assistentin zusammen war. Zu Zeiten des Kinnevik-Chefs Jan Stenbeck hatten die Angestellten in seinem Konzern die Kündigung erhalten, wenn sie mit einer Kollegin angebändelt hatten. Und dafür gab es auch einen Grund, dachte Sara und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Es war natürlich schwer, den Umgang rein professionell zu halten, wenn man miteinander bumste.
Sie startete das Video erneut, nahm aber immer noch nicht richtig auf, was sie dort sah.
Carro und Peter waren zu Gustav Sjökant gefahren, der, wie Sandins Frau erklärt hatte, der Liebhaber ihres Mannes gewesen war. Drei Sachen hatten sie herausgefunden: Er war dreiundzwanzig, finanziell abhängig von August Sandin und verschwunden.
Die Frage, die sich damit ergab, war, ob er etwas mit Sandins Schicksal zu tun hatte.
Ein Dreiecksdrama?
Oder hatte Gustav August verlassen, der danach psychotisch wurde und Schildt ermordete, oder so verrückt, dass er sich vorstellte, es wäre Schildts Fehler gewesen? Hatte Sandin Gustav verletzt?
Sara fror das Bild auf dem Computer ein. Sie hatte trotz allem eine Sache bemerkt. Sie spulte ein Stück zurück und sah sich den Schluss noch einmal an. In Zeitlupe.
Als sich Schildts Kopf gerade löste, zuckte Sandin zusammen.
Fast unmerklich, aber trotzdem.
Und dann, als er sich umdrehte, um die Pistole zu nehmen, kam es tatsächlich ins Bild. In einer ganz kleinen Ecke des Videoausschnitts.
Es gab jemanden, der ihm die Waffe reichte.
Es befand sich noch ein Mensch in diesem Raum.
Aber wer?
Gustav?
War er darin verwickelt?
Wenn die beiden Toten gekidnappt worden waren, wie waren die Schuldigen dann an Sandin und Schildt herangekommen? Sandins Liebhaber konnte Sandin in eine Falle gelockt haben, aber Schildt?
Sie mussten so schnell wie möglich Bilder von Gustav besorgen, um sie Schildts Familie vorzulegen. Dann konnten sie sie fragen, ob sie diesen Mann schon einmal in der Nähe ihres Hauses gesehen hatten. Wer auch immer der Schuldige war, er musste sich die Zeit genommen haben, die Gewohnheiten der Opfer zu studieren, um an sie heranzukommen, ohne dass es jemand merkte.
Das Handy vibrierte, und auf dem Display stand »Unbekannte Nummer«. Mit dem Gedanken an die beiden toten Männer und dass sie den Kollegen davon berichten musste, antwortete Sara mit einem kurzen: »Ja?«
»Bist du auf der Arbeit?«
Sara erkannte die Stimme sofort wieder.
Taylor.
George »Jojje« Taylor Jr., der Anführer des kriminellen Netzwerks »Thugz« in Botkyrka. Mit einem Vater aus Südafrika und einer Mutter aus Kungsör. Der sich während der Ermittlungen zum Mord an Cesar Bekas ganz ungeniert an Sara herangemacht hatte, obwohl er beinahe zwanzig Jahre jünger war als sie.
Weil Sara nach der Konfrontation mit Eric zusammengebrochen war, war sie in dieser Hinsicht nicht ansprechbar gewesen. Als sie sich aber erholte und nach wie vor schwach war, sah die Lage anders aus. Der Durst nach ein bisschen körperlicher Wärme war größer als seit Langem. Und da sie sich gegen ihren Willen von Taylors Selbstsicherheit, seinem durchtrainierten Körper und dem totalen Verbot, als Polizistin überhaupt an Sex mit einem Schwerkriminellen zu denken, in Versuchung geführt fühlte, nahm sie die Gespräche gar nicht erst an, wenn er sie anrief.
Der Botkyrkagangster hatte noch einige Wochen von sich hören lassen, hatte Nachrichten und Mitteilungen geschickt. Aber schließlich hatte er aufgegeben. Seitdem waren ein paar Monate vergangen, aber jetzt rief er wieder an, von einer unterdrückten Nummer, um seine Chancen zu erhöhen. Oder er hatte etwas Wichtiges mitzuteilen. Er hatte Sara schließlich auch mit Informationen über Bekas und die Peepshow geholfen.
»Ja«, sagte Sara nach einer ungewöhnlich langen Pause, von der sie nicht wusste, wie Taylor sie deuten würde.
»Komm raus.«
»Nein.«
»Dann komme ich rein. Ich habe Infos für dich.«
»Ich komme.«
War sie dumm, weil sie sich darauf einließ? Aber einen Informanten, bei dem sich bereits herausgestellt hatte, dass er zuverlässige Nachrichten lieferte, konnte man doch treffen, oder? Obwohl er bei der Polizei Gegenstand etlicher Ermittlungen war?
Sie beschloss allerdings, ihn sicherheitshalber nicht innerhalb der Wache zu treffen.
Sara wusste, dass Jojje Taylor seine kriminelle Karriere fortgesetzt hatte, nachdem sie den Mord an Cesar Bekas aufgeklärt hatte, und obwohl er sein legales Imperium mit Pizzerien und Bauunternehmungen stetig ausweitete, kletterte er auch in der kriminellen Hierarchie weiter nach oben. Sie beschloss, dass sie ihn näher untersuchen würde, bevor sie den Informationen nachging, die sie jetzt von ihm bekam.
Sie ging kurz zur Toilette und betrachtete sich im Spiegel. Sollte sie sich schminken? Sobald ihr der Gedanke gekommen war, wurde sie wütend auf sich selbst. Warum sollte sie sich schminken, um einen Gangster zu treffen? Und mitten in diesem Zorn über ihre Eitelkeit konnte sie nicht leugnen, dass ihr Haar jedenfalls gut aussah. Wenn auch zweifarbig.
Sara nahm den Ausgang zur kleinen, kurzen Hedvigsgatan, die an der Polizeiwache entlanglief, und schaute zuerst über den Sundbyvägen zu den Parkplätzen vor den Mietshäusern, dann nach rechts zum Amtsgericht. Aber sie entdeckte nichts. Bis sie zum Parkplatz vor dem Huvudsta-Grill und dem kleinen Park mit der Statue »Schwanger« ging, vor der sie häufig saß und nachdachte.
Das Hupen von einem metalliclila Bentley Bentayga zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und als sie zum Auto kam, wurde die Tür zum Beifahrersitz aufgestoßen. Auf dem Fahrersitz saß George Taylor Jr. in einem dreiteiligen mittelblauen Anzug mit einer glänzenden roten Krawatte. Genauso durchtrainiert wie zuletzt, genauso selbstsicher, mit denselben Cornrows im Haar, aber zur Abwechslung mit einem großen Verband um den Hals.
»Diskretes Fahrzeug«, sagte Sara, während sie einstieg. »Perfekt für einen geheimen Informanten. Was ist mit deinem Hals passiert?«
»Laser.«
»Okay. Hast du dich mit Darth Vader geprügelt?«
»Ich habe Tätowierungen entfernen lassen. Du weißt ja, man kann nicht in einer Besprechung mit Investoren sitzen, wenn ›Thug life‹ auf der Hand steht und eine AK -47 auf dem Hals sichtbar ist. Das wirkt nicht seriös.«
»Du willst also seriös sein?«
»Weißt du, was meine Firma umsetzt?«, sagte er und legte seine Hand wie zufällig auf Saras Oberschenkel. »Sechzig Millionen.«
»Und wie viel davon geht auf Drogen zurück?«, fragte Sara und wischte Taylors Hand weg.
»Nichts. Alles weißer Umsatz. Du weißt schon, Restaurants, Taxiunternehmen, Chemische Reinigungen.«
»Wolltest du mir das erzählen? Dass du jetzt ein anderer Mensch bist? Du bist immer noch zwanzig Jahre jünger als ich.«
Georges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Ich wusste, dass du an mich gedacht hast! Aber du weißt ja, ich kann vorsichtig sein. Smooth, damit keine Hüfte ausgerenkt wird. Achte auf den Oberschenkelhals. Weißt du, was eine MILF ist?«
»Weißt du, was NFAG bedeutet? Never fuck a gangster.«
»Du weißt gar nicht, was dir entgeht«, sagte George und sah ihr tief in die Augen.
»Jetzt reiß dich mal zusammen, du notgeiler Bock. Wolltest du auch irgendetwas von mir, was meinen Job betrifft?«
»Es geht eher um deine Familie.«
»Okay?«
Sara war sofort auf der Wacht. Wenn ein Krimineller anfängt, von deiner Familie zu sprechen, sollten alle Warnglocken klingeln. Sie würde nie mehr irgendeine Drohung gegen sie akzeptieren. Der Gedanke an Erics Schuss in die Wohnung in Gamla Stan, als Olle zu Hause gewesen war, machte sie immer noch rasend vor Wut. Aber der Tod des Schwiegervaters war bei dieser Erinnerung gleichzeitig leichter zu ertragen. Weil sie in Selbstverteidigung gehandelt hatte.
»Oder eher um deinen Mann.«
Sara entspannte sich ein wenig.
»Martin?« Sie sah ihn fragend an.
»Ja, oder wie viele hast du?«
Überhaupt keinen, dachte Sara, sagte aber nichts.
»Du weißt es ja vielleicht schon«, sagte George. »Aber meine Erfahrung ist, dass die Familie oft keine Ahnung hat.«
»Ahnung wovon?«
»Dein Macker hat gestern ziemlich viele Waren gekauft.«
Sara wusste, was Taylor mit Waren meinte.
»Drogen? Martin?« Sie runzelte die Stirn. »Was für Drogen?«
»Koks. Jede Menge Koks. So viel, dass es für den ganzen Stureplan reicht.«
In Saras Kopf wurde es vollkommen schwarz. So fühlte es sich jedenfalls an. Schwarz und leer, ein großer, wohlbekannter Abgrund, der sich öffnete und sie verschlucken wollte. Die Übelkeit stieg ihr den Hals hinauf. Der Vater ihrer Kinder.
Kokain.
Falls George die Wahrheit sagte. Aber immerhin würde es Martins seltsame neu entwickelte Energie erklären.
»Lange Spaziergänge.«
Mit weißem Pulver in den Nasenhöhlen.
»Woher weißt du das?«, fragte Sara nach einer langen Pause. »Hat er es von dir gekauft?«
»Von mir? Soll das ein Witz sein? Ich deale doch nicht. Ich habe eine Firma, ich bin auf dieser Seite des Gesetzes. Aber ich habe Freunde, die Freunde haben, also erfahre ich das meiste. Du weißt ja, die Leute aus den Vorstädten verkaufen auch in der Stadt, und in den feinen Quartieren sind die Leute immer scharf darauf. Er hängt jetzt in Bromma, oder?«
George musterte Sara mit einer interessierten Miene, den Kopf leicht geneigt. Dann legte er seine Hand auf ihre, und sie machte keine Anstalten, sie wegzustoßen.
»Habt ihr euch gestritten? Ihr wohnt nicht zusammen.«
»Das geht dich nichts an.«
Sara zog ihre Hand so schnell weg, dass auch Georges Hand verschwand.
»Ich dachte nur, dass du vielleicht manchmal Hilfe brauchst«, sagte er und lächelte sie an. »Beim Heben schwerer Sachen oder wenn das Wi-Fi streikt. Technische Dinge. Da kann man einen Mann gebrauchen. Und auch für andere Dinge, die man so braucht. Ich bin bei allem sehr gut.«
»Es gibt nur eine Sache, die du nicht kannst.«
»Okay?«
»So leben, wie du lebst, ohne mich zu verachten.«