Nachdem der Doppeldecker von der Sightseeingfirma Toot-Bus die Victoria Station passiert hatte, wurde er von einem provisorischen Verkehrsschild darüber unterrichtet, dass man im Augenblick nicht nach rechts von der Belgrave Road in die Ebury Street abbiegen durfte. Der Busfahrer Des hatte keine andere Wahl, als geradeaus über den Chester Square weiterzufahren.
Des fluchte vor sich hin. Sein Gehalt hing davon ab, dass er die Zeiten einhielt. Aber er konnte nicht viel tun. Die Touristen, die in seinem Bus saßen und auf London schauten, schienen die Verspätung nicht zu bemerken. So war es eben. An manchen Tagen ging alles schief.
Ganz hinten auf dem offenen Oberdeck saß eine ältere Frau mit einem Mantel, einem Hut und einer Handtasche. Mit der Kamera und dem Fernglas in der Hand und der Karte des Busunternehmens aufgeschlagen auf dem Schoß. Niemand beachtete Agneta, als sie dort saß und die Gebäude, an denen sie vorbeikamen, fotografierte und genauestens beobachtete. Niemand ahnte, dass sie das Schild aufgestellt hatte, das den Bus zu diesem Umweg zwang.
Während sie dort saß, dachte sie an die Nacht mit Jurij zurück. Das Gerücht um die Hoden hatte gestimmt, aber das hatte ihn nicht gehindert. Ganz im Gegenteil schien es genau das zu sein, was ihn anspornte, es mit allem, was ihm verblieben war, zu kompensieren. Ausnahmsweise fand Agneta, dass die Schmerzen im Körper ein billiger Preis waren, den sie für die körperliche Anstrengung bezahlen musste.
Dreißig Jahre waren vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Sie waren seitdem natürlich beide reichlich gealtert, trotzdem hatte er sich exakt so wie damals angefühlt. Dieselben starken Hände, immer noch ein durchtrainierter Körper, obwohl er nicht mehr so steinhart muskulös war. Die Art, sich zu bewegen, die Art, sie zu berühren. Alles war gleich geblieben. Gemeinsam war es ihnen gelungen, sich von den Fesseln der Zeit zu befreien. Und sie waren sich wie zwei freie Individuen begegnet.
Er war im Morgengrauen aufgestanden und verschwunden, wie immer rund um die Uhr beschäftigt. Genauso zielstrebig wie früher, obwohl er bereits über siebzig war. Aber seit dem Fall der Sowjetunion waren es Geschäfte anstelle der Verbreitung des Kommunismus, die auf der Tagesordnung standen, und das war tatsächlich bedeutend besser. Agneta war von Jurijs Personal, das ins Haus zurückgekehrt war, bevor sie erwacht war, ein überbordendes Frühstück serviert worden. Sie hatte die späte Morgenmahlzeit in aller Ruhe genossen. Danach hatte sie sich eine Massage von Jurijs persönlichem Masseur geben lassen und ein langes Bad in der riesigen Wanne genommen. Niemand hatte irgendwelche Fragen gestellt. Agneta hatte sich selbst gefragt, wie oft sie weibliche Nachtgäste von Jurij auf diese Weise versorgten. Wie oft diese Frauen in ihrem Alter waren und wie häufig doch bedeutend jünger.
Jetzt saß sie oben in dem Sightseeingbus und musterte die Häuser, an denen sie vorbeikamen.
Dort vorne lag es.
Sie sah sich in unterschiedliche Richtungen um, damit sie der Kameraüberwachung oder den bewaffneten Sicherheitsleuten nicht auffiel. Was sie interessierte, war das große weiße Haus am Ende der Baureihe auf der anderen Seite der Straße. Die Überwachungskameras und Sicherheitsleute, die stets alle beobachteten, die vorbeikamen, selbst auf der anderen Seite der Straße. Hoffentlich waren sie weniger misstrauisch gegenüber einem Bus voller Touristen. Der Umweg und die Autoschlangen gaben ihr genug Zeit, um sich einen ersten Eindruck von dem Haus zu verschaffen. Wie viele andere Gangstermilliardäre war das Objekt gezwungen, ein Haus für mehrere Millionen Pfund hier in Belgravia zu besitzen.
Niemand wusste, wann er dort war, so viel hatte sie verstanden. Aber es war das Haus, in dem er am längsten blieb, laut Schönberg. Manchmal ein paar Tage hintereinander. Das verschaffte ihr eine größere Chance, genau an diesem Ort erfolgreich zu sein. Die Frage war nur, auf welche Weise.
Als Scharfschützin?
Agneta drehte den Kopf und musterte die Dächer in der Umgebung. Wäre möglich. Auf der anderen Seite hatte er vermutlich überall Leibwächter um sich herum. So viele, dass es vielleicht nicht möglich war, sich bis zu ihm durchzuschießen. Die Fluchtwege von den Dächern waren ebenfalls nicht optimal.
Und auf die alte Tante mit der Handgranate würden sie seit gestern nicht mehr hereinfallen. Die Gerüchte um neue Angriffsformen verbreiteten sich sofort unter den bedrohtesten Objekten.
Das ganze Haus zu sprengen würde Schönberg niemals akzeptieren, dann bekämen die Deutschen bestimmt Ärger mit den Briten.
Anscheinend besuchte er auch niemals festliche Anlässe. Andere Gangsterkönige liebten es, sich mit königlichem Geblüt und Prominenten zu umgeben, er allerdings nicht.
Die Kinder zu entführen war auch keine Idee. Sie waren ihm egal. Und er hatte jede Menge.
Es würde viel schwerer werden als bei Romanowitsch.
Bedeutend schwerer.
Am Marble Arch stieg sie aus dem Bus, achtete darauf, niemandem in die Augen zu sehen und den Kopf gesenkt zu halten, um nicht von einer der Kameras erfasst zu werden, die überall in der britischen Hauptstadt herumstanden.
Agneta sah zum Hyde Park hinüber und zu den Rasenflächen, die von Laub bedeckt waren. Überall Menschen, mehrere mit dunkelgrünen Harrods-Tüten in den Händen.
Schönberg hatte erzählt, dass Agnetas kleines Täuschungsmanöver eine diplomatische Krise zwischen den USA und Großbritannien ausgelöst habe. Die Frau, die Agneta zu Vicky geschickt hatte, war eine Lady Edna Hawthorne, Gattin von Lord Hawthorne. Der eng mit dem englischen Königshaus befreundet war. Es war ein unglaubliches Chaos ausgebrochen mit offiziellen Protesten, angedrohten Ausweisungen und Handelsboykotten, bevor sie freigelassen worden war. Und davor war sie anscheinend noch übel behandelt worden. Die Russen sagten, dass Gangster dahintersteckten, über die sie keine Kontrolle hätten. Ein missglückter Überfall. Aber der Kreml hatte sie in weniger als einer Stunde freibekommen, als sie begriffen hatten, wer sie wirklich war. Und wenn ihr Mann nicht diese Verbindungen gehabt hätte, wäre sie wahrscheinlich niemals freigekommen.
Diese Vicky, die Schönberg sich geliehen hatte, um Agneta nach dem Mord an Romanowitsch bei der Flucht zu helfen, hatte offensichtlich ein Doppelspiel getrieben und auch für die Russen gearbeitet. Schönberg hatte ihr erzählen können, dass es der militärische Geheimdienst GRU war, der sie beschäftigte. Ein kleines Spezialkommando, 11955 , das ausschließlich für sogenannte nasse Jobs im Ausland zuständig war. Sie wollten sich offensichtlich gerne als Spezialeinheit sehen, waren aber nicht so kompetent, wenn es darauf ankam. Brutal, aber amateurhaft. Sie waren offensichtlich auch ganz scharf darauf, sich das Attentat auf Romanowitsch anzuheften. Agneta war nämlich das geglückt, was ihnen mehrere Male misslungen war. Vier Mal hatten sie versucht, an den zum Tode verurteilten Oligarchen heranzukommen. Jetzt liefen sie Gefahr, vor ihren Auftraggebern im Kreml als unfähig dazustehen, und nach dem Debakel mit Lady Edna sah die Lage noch finsterer aus. Also wollten sie sich rächen und hatten einen Preis auf Agnetas Kopf ausgesetzt. Zehn Millionen Pfund an denjenigen, der sie ihnen übergab. Glücklicherweise war Jurij viel zu reich, um an diesem Geld interessiert zu sein. Ansonsten hätte Agneta sich nicht ganz sicher sein können, dass ihre jahrzehntelange Beziehung mehr wog als die Belohnung.
Der einzige Lichtblick bestand darin, dass Agnetas am Tatort hinterlassene Perücke zumindest die britische Polizei getäuscht hatte. Ihre Theorie lief darauf hinaus, dass eine jüngere Kraft sich als ältere Dame verkleidet hatte, und man suchte die Auftraggeber unter den Konkurrenten des Opfers.
Und Agneta hatte es trotz allem geschafft, nach dem Anschlag auf Romanowitsch unterzutauchen. Das war ein echter Sieg.
Ein deutlicher Beweis dafür, dass sie nach wie vor ihren Beruf beherrschte.
Sie hatte das Gefühl, dass Schönberg sie testen wollte. Dass er sehen wollte, in welcher Form sie nach all diesen Jahren war. Und weil sie nicht die geringsten formalen Anknüpfungspunkte an den deutschen Geheimdienst BND hatte, war es für den Deutschen risikolos, sie zu benutzen. Sie hinterließ keine Spuren. Nach dreißig Jahren Inaktivität existierte sie in keiner Datenbank. Sie war unsichtbar.
Und jetzt hatte sie sich würdig erwiesen, den großen Auftrag zu übernehmen.
Der Werwolf.
Der Mann, der unmöglich zu töten war.
Hunderte von Menschen arbeiteten daran, ihn um die Ecke zu bringen. Sowohl Geheimdienste als auch Söldner, angeheuerte Terroristen genauso wie politische Gruppierungen.
Aber Schönberg hatte das Gefühl, dass Agneta den Eingang finden konnte, den kein anderer entdeckte. Genau wie bei Romanowitsch.
Und Agneta hatte akzeptiert.
Zu Beginn hatte sie sich gefragt, warum sie dabei eigentlich mitmachte. Aus Berufsstolz? Oder war ihr Ego einfach so groß, dass sie glaubte, außer ihr würde es ohnehin niemand schaffen? Oder lediglich aufgrund fehlender Alternativen? Denn sie hatte ja sonst nichts, was sie sich vornehmen konnte. Als offizielle Tote, die nicht wiedererweckt werden konnte. Vielleicht war es ein Protest gegen das Altern an sich, vielleicht weigerte sie sich einfach nur, ihre Grenzen zu akzeptieren.
Nach so vielen Jahren in der Warteschleife lag, warum auch immer, eine gewisse Faszination darin, in den aktiven Dienst zurückzukehren.
Und ganz egal, was sie dazu antrieb, sie hatte zu dem Auftrag Ja gesagt.
Einem reinen Selbstmordkommando.
Wenn sie Glück hatte, würde sie zumindest schnell sterben.