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Warum hatte sie Anna und Lina zu sich nach Hause eingeladen?

Eigentlich wollte sie jetzt ihre Ruhe haben.

Sie musste alles erst verdauen, das Geschehene einordnen. Vieles schwirrte ihr im Kopf herum, als Sara vom Parkplatz unter dem Slottsbacken nach Hause ging.

Martin und das Kokain. Sollte sie ihn anzeigen? Ihm die Drogenfahndung auf den Hals hetzen? Reichte es nicht, dass sie schon seinen Job auf dem Gewissen hatte?

Aber sie musste etwas gegen seinen Drogenkonsum unternehmen, auf irgendeine Weise. Ihre Kinder sollten keinen Kokser als Vater haben.

Ebba und Tom. Ging sie das etwas an? Wenn Tom sich einfach nur eine Weile mit einem jungen Mädchen amüsieren wollte, war das dann nicht ein Teil der Schattenseiten des Lebens, die Ebba damit kennenlernen würde? Sara konnte ihre Tochter nicht vor allem schützen. Und vor allem wollte gerade Ebba das auch gar nicht.

Die Verantwortung für Erics gesamten Konzern zu übernehmen, war ebenfalls schwer. Sie verstand nicht viel vom Geschäftsleben und hatte das Gefühl, dass sie sich zumindest die Grundlagen beibringen sollte. Aber momentan war sie dankbar, dass sich Tom um alles kümmerte. Hauptsache, er kam nicht auf die Idee, die Firma zu verlassen, wenn Sara wegen Ebba ein ernstes Wort an ihn richtete.

Verdammt, jetzt müsste sie davor auch noch Angst haben. Zwei schwarze Punkte tanzten am Rand ihres Sichtfelds. Sara erkannte sie sehr gut als erstes Anzeichen beginnender Kopfschmerzen wieder.

Außerdem verspürte sie das Bedürfnis, für sich selbst herauszufinden, ob nicht eine kleine Spur Eifersucht auf Ebba irgendwo in ihr begraben lag.

Auf das junge Alter der Tochter, auf Toms Liebe oder darauf, dass sie so viele Männer in ihrem Leben hatte, die ihr helfen wollten. Erst Martin und Eric, jetzt kam noch Tom dazu. Sara hatte niemals Hilfe von einem Mann bekommen. Jedenfalls nicht, ohne dass der Mann dabei Hintergedanken gehabt hatte.

Sara betrachtete die Menschen, die ihr entgegenkamen. Eine Mischung aus ausländischen Touristen, die der schwedischen Herbstdunkelheit trotzten, bildungshungrigen Rentnern, die sich Stadtführungen angeschlossen hatten, und hippen Bürohockern, deren bald insolvente Agenturen ihnen Firmenräume in diesem historischen Teil der Stadt beschafft hatten. Menschen ohne Sorgen. Sie wusste natürlich, dass es nicht so war. Die allermeisten verbargen ihre Nöte tief in ihrem Inneren und zeigten der Umwelt eine unbekümmerte Fassade. Weil Menschen, die offen ihre Sorgen teilten, als unerträgliche Querulanten erlebt wurden. Aber welche Leiden diese Menschen auf der Straße auch immer durchlitten hatten, das Leben ging doch weiter. Die Jahre rannen vorbei, bald waren die Gequälten fort und damit auch ihr Schmerz. Es gab etwas Wohltuendes in der schwindelerregenden Perspektive, die dieser Stadtteil bot. Etwas Verzauberndes an der Zeitreise, die eine Wanderung durch Gamla Stan bot. Sara überquerte den Stortorget und dachte an das Blutbad von Stockholm, als Hunderte von Bewohnern aus reiner Willkür vom dänischen König Kristian II . hingerichtet worden waren. Abgetrennte Köpfe waren zu Hügeln gestapelt worden. Angehörige hatten aus Verzweiflung geschrien. Das Blut war in Strömen über den Marktplatz geflossen, nun aber seit einem halben Jahrtausend weggespült. Sie dachte an die Hunderttausende von Menschen, die den Marktplatz seitdem überquert hatten. Gelebt, gestorben und vergessen, während die Häuser stehen blieben und die Pflastersteine der Straße dieselben blieben.

Dann machte sich die Neuzeit wieder bemerkbar. Sara erinnerte sich, dass auch Mazzella angerufen hatte. Der Kollege von der Citywache, der seine Ermittlungen über Saras Einbruch beim Escortmädchen Nikki X eingestellt hatte. Jetzt fand er, dass Sara ihn vielleicht an einem Abend auf ein Glas Wein einladen könnte, als verspäteten Dank. Er hatte sogar ein »Ich habe gehört, dass du dich getrennt hast« eingeflochten. Sara fühlte sich wie eine Sterbende in der Wüste, über deren sechsundvierzigjährigem Körper die Geier lustvoll kreisten.

Und dann noch George. George Taylor Jr. »Jojje«. Der niemals aufgab. Was glaubte er eigentlich? Dass alle Frauen auf Gangster ansprangen?

Hatte er über Martin und das Kokain gelogen, nur um ihn anzuschwärzen und sich an Saras Unterwäsche zu schmuggeln? Das wäre in dem Fall eine idiotische Taktik.

Aber warum gab er nicht auf? Sara war keines der Mädchen, mit denen er sich vermutlich in Schwärmen umgab. »Von denen habe ich schon Hunderte gehabt«, hatte er über diese Art von Mädchen gesagt. Und das stimmte wohl auch. Aber warum hatte Sara es sich gemerkt? Und warum machte seine Sturheit sie an und nicht wütend?

Scheiße. Sie kam mit ihren eigenen Gedanken nicht zurecht. Vielleicht war es gut, dass die Mädchen zu ihr kamen und sie dazu brachten, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ein Bechdelabend, bei dem sich kein Gespräch um Männer drehen würde.

Dass sie im vergangenen Halbjahr mehrere Male so nahe am Tod vorbeigeschrammt war, hatte sie vielleicht mehr beeinflusst, als sie zugeben mochte.

Sie war krankgeschrieben gewesen, hatte meditiert, sich ausgeruht, mit einer Therapeutin gesprochen, aber es saß tiefer, als sie gedacht hatte. Vielleicht würde sie nie wieder dieselbe werden?

Nein, wie sollte sie auch?

Die Frage war nur, was sie stattdessen werden sollte.

Sara ging am Vapiano in der Munkbrogatan vorbei und kaufte sich drei Campanelle mit Crema di funghi. Sie konnte gerade kein Essen kochen, und Anna war kein anspruchsvoller Gast. Lina war als Kellnerin vielleicht schlimmer. Sie hatte sich womöglich an ein gewisses Niveau von Kochkunst und Bedienung gewöhnt. Aber scheiß drauf.

Oben an der Wohnungstür sah sie, dass das Haar, das sie mit Labello über dem Türspalt befestigt hatte, verschwunden war.

Jemand musste die Tür geöffnet haben.

Seit Eric alias Faust in ihre Wohnung geschossen und eine Leiche vor der Tür hinterlassen hatte, sorgte sie dafür, dass verschiedene Sicherheitsmaßnahmen eingehalten wurden. Eine von ihnen war es, die Kontrolle darüber zu behalten, ob jemand in die Wohnung gegangen war. Eine gewöhnliche Überwachungskamera wäre natürlich einfacher, aber die konnte man überlisten.

Sie stellte den Pastakarton ab und legte die Hand auf die Dienstpistole.

Dann schob sie die Tür langsam auf und ging so leise wie möglich in die Wohnung. War jemand hier gewesen?

Das Rätsel fand schnell seine undramatische Lösung.

Im Wohnzimmer saß Olle mit seinem Laptop auf dem Schoß, so absorbiert von dem, was auf dem Bildschirm zu sehen war, dass er nicht antwortete, als Sara ihn grüßte. Sie ging nach draußen und holte die Pasta herein. Der Sohn war immer noch vollkommen abwesend.

»Hast du gelesen, dass man LSD in Zeckenimpfstoff gefunden hat?«, fragte Sara.

»Was?« Olle sah von dem Bildschirm hoch. »Ist das wahr? Hat etwa die Regierung …«

Die Finger ratterten eifrig auf der Tastatur. Das war anscheinend hochinteressant.

»Es war nur ein Witz«, sagte Sara. »Ich wollte nur deine Aufmerksamkeit.«

Olle sah seine Mutter an.

»Oder hast du zu viel erzählt und bereust es jetzt? Als Polizistin könntest du so etwas ja wissen.«

Olle sah todernst aus.

»Jetzt ist aber mal gut. LSD in Zeckenimpfstoff? Warum sollte …«

»Ich habe auch nur einen Witz gemacht.«

Olle lächelte, und Sara atmete erleichtert aus. Irgendeine Grenze musste es schließlich auch für Verschwörungstheorien geben. Dann ließ sie sich auf das Sofa sinken und warf die Pastaschachteln auf den Couchtisch.

»Ich wusste nicht, dass du zu Hause bist, deswegen habe ich nur drei gekauft. Anna und Lina kommen.«

»Schon okay. Ich habe ein paar Butterbrote gegessen. Das Brot ist jetzt alle.«

»Hatten wir heute Morgen nicht einen ganzen Laib?«

Olle zuckte mit den Schultern, starrte weiter auf den Computer.

»Wie viele Butterbrote hast du eigentlich gegessen?«, wollte Sara wissen.

»Weiß nicht, vielleicht fünf oder zehn. Zwölf. Ach so, der Käse ist auch alle.«

Sara betrachtete ihren allem Anschein nach unterernährten Sohn. Wie würde er es aufnehmen, wenn er erfuhr, dass sein Vater nicht nur Morphin, sondern jetzt auch Kokain missbrauchte? Martin, der immer Olles bester Kumpel gewesen war, eher ein großer Bruder als ein Vater. Olle schien bereits ziemlich mitgenommen davon, dass Martin nicht zu Hause wohnte, was sie damit erklärten, dass Marie, die in Rente war, mehr Zeit als Sara hatte, sich nach seinem nervlichen Zusammenbruch um Martin zu kümmern. Aber wie würde er seinen Vater betrachten, wenn er als Junkie entlarvt wurde? War es da nicht besser, dass Olle ein falsches Bild seines Vaters behielt, wenn er sich damit besser fühlte?

Und warum mussten alle anderen Sara das Leben schwer machen? Reichte es nicht, was sie selbst damit anstellte?

Es klingelte an der Tür, und Sara ging hin, um Anna und Lina einzulassen. Sie hatte das Gefühl, dass Lina sie und Anna sehr eingehend musterte, als sie ihrer Freundin eine Begrüßungsumarmung gab. Aber das war bestimmt Einbildung.

Anna hatte ihren Stil geändert, bemerkte Sara. So war die Liebe. Zumindest zu Beginn.

Lina, die die Jüngste in der Gesellschaft war, trug Stiefel von Dr. Martens und eine Camouflagehose. Anna hatte ihre gewohnte braune Cordhose und den blauen Collegepulli gegen schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit Ruby-Rose-Aufdruck getauscht.

Und dann trugen beide eine glänzende, weinrote Pilotenjacke von Alpha Industries.

»Ich weiß«, sagte Anna. »Die gleiche Jacke. Cheesy. Aber sie war so hübsch, dass wir sie beide haben wollten.«

»Also ich finde das ein bisschen süß«, sagte Lina.

»Auf jeden Fall«, sagte Sara, ohne es zu meinen. »Abholessen, ich hoffe, das ist okay. Ich schaffe es einfach nicht, zu kochen.«

»Kein Problem. Hauptsache, du hast Wein«, sagte Anna mit einem Lächeln.

»So viel du willst.«

Besser gesagt, Martin hatte so viel sie wollte.

Sie legten ab, und Anna zitterte ein bisschen, als sie die Schuhe auszog.

»Brr. Es wird jetzt wirklich kalt.«

»Ja, du fängst ja schon im September mit einer Mütze und langen Unterhosen an«, sagte Sara und grinste.

»Super. Danke schön. Zerstör einfach mein Image als Sexobjekt.« Anna spielte die Verletzte.

»Du bist ausgesprochen hübsch in langen Unterhosen«, sagte Lina und gab Anna einen Kuss.

»Ihr wohnt aber cool«, sagte sie schließlich und sah sich um. »Du hast Mann und Kinder, oder?«

»Zwei Kinder. An der Männerfront sieht es eher unsicher aus.«

»Okay?«

»Lange Geschichte.«

»Und du bist angeschossen worden.«

»Lina!«, rief Anna aus.

»Das macht doch nichts«, sagte Sara beruhigend. »Es stimmt ja auch. Ich habe jede Menge ziemlich unangenehmer Sachen erlebt.«

»Auch mit einem Spion?«

»Nein, lasst uns doch über etwas Lustigeres sprechen«, mischte sich Anna ein.

»Ja. Kommt rein!«, sagte Sara und nickte zum Wohnzimmer, während sie die identischen Jacken aufhängte.

»Können wir im Turmzimmer sitzen?«, fragte ihre Freundin.

Einen kurzen Moment stutzte Sara.

Ganz oben in der Wohnung gab es einen Turm mit einer Aussicht in alle Himmelsrichtungen. Dort oben pflegten Sara und Anna sonst zu sitzen, wenn sie einen Wein tranken und über das Leben redeten. Mit allen Dächern um sich herum, dem Wasser von Slussen unter ihnen und der Tyska Kyrkan direkt nebenan, schenkte einem dieses Turmzimmer das Gefühl, dass einem die Welt gehörte. Es wurde erzählt, dass ein früherer Besitzer nach dem Zweiten Weltkrieg hier oben Nazis auf der Flucht versteckt hatte. Und Anna sagte immer, dass sie die Energien spürte, die durch diesen Raum flossen, womit Sara sie aufzog. Eigentlich gehörte das Turmzimmer nur Sara und Anna, weder Martin noch die Kinder durften es benutzen. Aber jetzt hatte Anna sich in eine feste Beziehung begeben, aus zwei waren drei geworden, dachte Sara. Also schön …

»Natürlich«, sagte sie. »Wo sollten wir denn sonst sitzen? Kommt.«

»Wartet«, sagte Anna plötzlich und blieb mitten im Gehen stehen. »Hier ist etwas anders. Eine andere Energie.«

»Hör jetzt auf, Dostojewski«, meinte Sara.

»Ha, ha«, antwortete Anna ironisch.

»Wieso Dostojewski?«, fragte Lina mit gerunzelten Augenbrauen.

»Ich nenne Anna Dostojewski, weil sie mit Verbrechen und Strafe arbeitet und überall böse Geister spürt. Und in solchen Situationen lässt sie mich an den Idioten denken.«

»Sehr witzig«, brummte Anna schmollend.

»Aber hallo«, sagte Lina, bückte sich und tätschelte Walter, der um ihre Beine strich. »Habt ihr eine Katze?«

»Walter.« Sara nickte. »Vielleicht hast du ja ihn gespürt?«

»Walter ist keine fremde Energie«, sagte Anna in dem schnuckeligen Babyton, den die meisten benutzten, wenn sie mit einem Haustier redeten.

Dann wurde sie von einem Akkord übertönt, der die Scheiben zum Erzittern brachte, gefolgt von einer rauen Stimme, die gequält herauskrächzte: »It’s been seven hours and fifteen days …«

»Verdammt, wie klingt das denn«, sagte Anna und hielt sich die Ohren zu.

Walter rannte davon, um dem Lärm zu entkommen, und Sara ging zum Fenster und sah auf den Kornhamnstorg herunter.

Vor einem großen Kastenwagen mit offenen Hintertüren standen ein paar ordentliche Verstärker, ein Schlagzeug und eine Hammondorgel mitten auf dem Platz. Und das komplette Ensemble von C.E.O. Speedwagon, Martins drollig benannter Garagenband, die aus ihm selbst und seinen alten befreundeten Geschäftsführern bestand.

Nicke, Stoffe und Robban misshandelten Sinéad O’Connors alten Hit mit ihren Instrumenten, während Martin den Text herausbrüllte und seine Augen auf das oberste Stockwerk gerichtet hielt, in dem Sara stand.

»Ist das Martin?«, fragte Anna mit mitleidigem Blick.

Sara nickte grimmig.

»Nooothing compares, no-thing compares – to youuuuu …«, schepperte es durch das schusssichere Glas.

»Du musst runtergehen. Er wird nicht von selbst aufhören.«

»Doch«, sagte Sara, nahm das Telefon und rief die Polizei an. »Hallo, ich heiße Sara Nowak und wohne am Kornhamnstorg. Da haben ein paar Leute unten auf dem Platz die Idee gehabt, sich als Beatles aufzuspielen, falls Sie deren Auftritt auf einem Hausdach kennen. Scheißegal, jedenfalls stören sie das gesamte Viertel, es wäre schön, wenn sich jemand darum kümmern würde.«

Irgendwann in früherer Zeit hätte sie vielleicht gedacht, dass eine solche Geste romantisch wäre. Jetzt aber nicht mehr. Zum einen näherte sich Martin mit Überschallgeschwindigkeit dem fünfzigsten Geburtstag, zum anderen glaubte Sara, dass George in puncto Kokain die Wahrheit gesagt hatte. Und in diesem Fall war das Konzert nur ein Ausschlag der künstlichen Energie, die ihm das Schnupfen eingab.

»Kommt jetzt«, sagte Sara. »Ich bin hungrig. Und durstig.«

Sie gingen los, aber Anna hielt erneut inne, beugte sich hinunter und hob etwas vom Boden auf.

»Hier«, sagte sie und reichte es Sara, die es anschaute. Ein Foto von ihr als Jugendliche.

»Wartet mal«, sagte sie zu den Frauen und ging ins Wohnzimmer. »Olle, hast du ein Bild von mir aus dem Fotoalbum genommen?«

»Was? Warum sollte ich das tun?«

»Was weiß ich?«

Sara ging ins Büro und zog das Fotoalbum heraus, das ihre Kindheit und Jugendjahre dokumentierte. Sie besaß nicht viele Bilder aus dieser Zeit, und diese wenigen lagen ihr sehr am Herzen.

Sie schlug das Album auf, um das Bild zurückzustecken, und bemerkte dabei, dass es ganz viele leere Stellen gab.

Jemand hatte mehrere Fotos aus dem Album genommen.

Bilder von einer jungen Sara.

Wer hatte das getan?

Und warum?