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»Hinein mit euch, rückt zusammen, wir brauchen Platz! Schließt die Türen, alle Handys aus! Okay, alle Augen zu mir!«

Der Oktobermorgen bot unerwartet viel Sonne, die schüchtern durch die Jalousien hereinsickerte, vielleicht als Kompensation für das deprimierende Szenario, das sich in dem Zimmer abspielte.

Heidi Dybäck hatte sich auf einen Stuhl vor dem Whiteboard im Besprechungsraum geworfen. Sie streckte die Arme vor sich aus und wedelte etwas planlos mit den Händen herum, als wollte sie die schlechte Imitation eines Chorleiters hinlegen. Neben ihr stand ein verschwitzter und übergewichtiger Mann in einem ungebügelten, fleckigen Hemd und einem zerknitterten Anzug. Mit einem Pony, der ihm ständig in die Augen fiel und den er deshalb auf eine Art zur Seite wegstrich, die er seiner Miene nach zu urteilen sinnlich fand.

Als der letzte Polizist im Raum war, schloss jemand die Tür, und Heidi ließ einen verbissenen Blick über die Versammelten schweifen.

Etwas sehr Ernstes musste passiert sein.

Anna und Sara zischten einander Vermutungen zu. Terroranschläge, Politikermorde, Atomkatastrophen.

Heidi hielt eine Ausgabe des Aftonbladet in die Luft, deren Vorderseite von der Schlagzeile »Direktor ermordet Ex-Außenminister« dominiert wurde. Die beiden ersten Worte waren natürlich bedeutend größer als die folgenden, und die Vorsilbe »Ex« so klein, dass sie kaum zu sehen war. Unter der Überschrift sah man ein körniges Standbild aus dem Video mit Sandin und Schildt, bei dem der Erstgenannte eine Motorsäge an den Hals des anderen legte.

»Wie ist die Zeitung an dieses Video gekommen?«

Heidi ließ die Worte in der Luft hängen, während sie mit einer anklagenden Miene die Polizisten musterte.

»Dieselbe Person, die es an Moberg geschickt hat, hat sich auch an die Presse gewandt?«, schlug Anna vor. Heidi schüttelte abweisend den Kopf.

»Warum sollte sie damit bis jetzt gewartet haben?«

»Frag sie.«

Heidis Augen feuerten Blitze auf Peter, der natürlich derjenige war, der einen solchen Scherz riskierte.

»Dass das Video draußen ist, ist hier nicht das Wichtigste«, fuhr der Duce der Solnapolizei fort. »Sondern dass ein Polizist geheimes Ermittlungsmaterial an die Presse herausgegeben hat.«

»Wenn es so wäre«, sagte Sara und nahm die verbissenen Mienen im Raum auf.

»Der Journalist hat mich angerufen und versucht, ein Zitat zu bekommen, das er drucken könnte, aber ich habe nur ›kein Kommentar‹ geantwortet. Absolut keine Kommentare, weder zu den Massenmedien, den Freunden oder den Kollegen. Unsere Juristen konnten die Veröffentlichung nicht stoppen, also hat derjenige, der das Video dem Aftonbladet zugespielt hat, einen riesigen Schaden angerichtet.«

»Auf welche Weise?« Sara fragte sich aufrichtig, worüber sich Heidi Hitler so aufregte.

»Auf welche Weise?« Heidi starrte sie an. »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Stellst du das gesamte Polizeiwesen infrage? Erklärst alle deine Kollegen zu Idioten?«

»Nein. Ich fragte nur, wie dieser Riesenschaden entstanden sein soll, nur weil das Video an das Aftonbladet gegangen ist.«

»Ich habe gehört, was du gesagt hast«, grummelte die leitende Ermittlerin.

»Und warum bist du so überzeugt davon, dass einer oder eine von uns dieses Video weitergegeben hat?«

»Ich werde dieser Sache auf den Grund gehen. Undichte Stellen zur Presse sind vollkommen unakzeptabel. Das hier ist Eger Nilsson.« Heidi ignorierte Saras Frage und zeigte auf den mittlerweile noch verschwitzteren Mann neben sich. »Er ist aus Göteborg ausgeliehen, um der Sache nachzugehen. Es ist wichtig, dass es jemand von außen ist, ein unabhängiger Polizist ohne Loyalitäten oder Freundschaften, der sich um das Problem kümmert.«

Sara dachte im Stillen, dass dieser Eger tatsächlich wie jemand aussah, dem Loyalitäten und Freunde fehlten. Wie war es überhaupt möglich, in einem Oktober so verschwitzt auszusehen?

»Können wir nicht einfach an dem Fall weiterarbeiten?«, schlug Anna vor, während die Kollegen zustimmend nickten.

»Jetzt, wo das Video draußen ist, werden die Zeitungen schreien, warum wir den Fall noch nicht gelöst haben«, sagte Sara.

»Man muss sich zu zweihundert Prozent auf die Polizei verlassen können«, lautete Heidis Antwort. »Unsere Ehre ist hier das Wichtigste.«

Eger räusperte sich und ergriff das Wort, ohne jemandem in die Augen zu sehen.

»Ich muss eure Computer und eure Handys durchgehen. Niemand von euch darf irgendwelche elektronischen Apparate benutzen, bevor ich sie durchgesehen habe.«

»Wir werden diesen Papierkorb herumschicken«, sagte Heidi und hielt einen der Papierkörbe aus grauem Plastik aus dem nichtssagenden Besprechungsraum hoch, allerdings hatte sie die Mülltüte herausgenommen. »Alle legen ihre Handys hier herein. Schreibt den Namen, die Codes für das Telefon und die Passwörter für eure Computer auf den Block, den ich euch geben werde. Dann warten wir gemeinsam in diesem Zimmer hier, bis Eger die Untersuchung durchgeführt hat. Wer gecleart ist, bekommt sein Handy zurück und kann auf seinen Platz gehen.«

Ein langes Schweigen, während alle Polizisten darüber nachdachten, ob Heidi Dybäck es wirklich ernst meinte.

Sie tat es.

Der Reihe nach resignierten sie, legten ihre Handys in den Papierkorb, schrieben ihre Angaben auf Zettel und setzten sich wieder hin, um zu warten. Auf die unbequemen Plastikstühle am Besprechungstisch, solange sie reichten, und dann auf den Fußboden.

Eger verschwand nach draußen. Sara ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich an die blassgelbe Wand. Ein tiefes Seufzen. Dann wandte sie sich an Anna.

»Du, tut mir leid, dass ich gestern ein bisschen langweilig war. Mich hat einfach nur eine Sache gestört.«

Sara hatte die verschwundenen Fotos nicht vergessen können, und obwohl sich alle drei mit viel Wein, Gerede und Lachen einen gemütlichen Abend im Turmzimmer gemacht hatten, ließen sie diese zwei Fragen nicht los: Wann war es passiert, und wer hatte sie genommen?

Das Foto auf dem Flurboden deutete an, dass jemand erst vor Kurzem das Album durchwühlt hatte. Sonst hätte Sara es bestimmt früher entdeckt.

»Kein Problem«, sagte Anna und brachte damit Sara zum Blinzeln. Sie hatte fast vergessen, dass sie sich miteinander unterhielten. »Lina fand es total gemütlich. Sie hat so viel nach dir gefragt, ich bin beinahe eifersüchtig geworden.«

Anna lächelte, um zu zeigen, dass sie scherzte, aber Sara war nicht überzeugt. Lina hatte über alles von Toxoplasmose (apropos Walter) bis zu ihrem Wunsch, irgendwann Quidditch zu spielen, gesprochen, bis sie gegen elf aufgebrochen waren, aber was auch immer sie gesagt hatte, stets hatte Anna eifrig und zustimmend mit glänzenden Augen genickt. Ihre Freundin war wirklich abgrundtief verliebt in die hübsche Kellnerin, dachte Sara, bevor ein Muskel im Kreuz, der gegen die harte Wand gedrückt wurde, sie vor Schmerz das Gesicht verziehen ließ.

Was sollten sie jetzt tun? Niemand wusste, wie lange Eger Nilsson für seine Dummheiten brauchte. Sara beugte sich behutsam vor und schnappte sich die Zeitung, mit der Heidi gewedelt hatte. Anna las über ihre Schulter mit.

»Vielleicht hat sie in einem Punkt recht«, sagte Anna, und Sara warf ihr einen Blick zu. »Ja, sieh mal, wenn es niemand von uns war, sondern beispielsweise dieselbe Person, die das Video an Moberg geschickt hat, auch die Presse kontaktiert hat, warum hätte sie dann so lange warten sollen, bis sie das Video an die Zeitung schickt? Wenn sie unbedingt Aufmerksamkeit haben will?«

»Es könnte ja jemand anderes sein, der ebenfalls das Video bekommen und es dann an die Presse weitergegeben hat. Ein anderer Vorstandsvorsitzender, den sie erschrecken wollten.«

»Vielleicht wollten sie auch Geld von Sandins Familie erpressen?«, dachte Anna laut nach. »Weil dieses Video einen ziemlichen Skandal auslösen würde, wenn darin einer der Eigentümer eines großen Konzerns einen ehemaligen Außenminister ermordet. Man könnte sich ja denken, dass die Familie vermeiden wollte, dass es herauskommt.«

»Oder die anderen Eigentümer der Firma.«

»Dir gehört doch so eine Riesenfirma. Was hättest du denn getan?«

»Ich besitze gar nichts. Mein Ex-Mann und meine Schwiegermutter besitzen sie«, sagte Sara und stand auf, um das Fenster zu öffnen und ein bisschen frische Luft hereinzulassen. Heidi Hitlers Schweineäuglein folgten jeder kleinsten Bewegung, die sie machte, als hätte sie Angst davor, dass Sara aus dem Fenster springen und direkt zur Redaktion des Aftonbladet laufen könnte, um von dieser unwürdigen Behandlung zu erzählen.

»Ihr seid noch nicht geschieden. Und du kümmerst dich schließlich an ihrer Stelle um das Unternehmen«, wandte Anna vom Boden aus ein.

»Ich unterschreibe die Papiere.«

»Was hättest du getan, wenn jemand drohen würde, euch in einen Skandal zu verwickeln? Wenn Eric zum Beispiel ein Mörder wäre, und sie hätten ein Video, das es dokumentieren könnte?«

Die Worte taten Sara körperlich weh. Zum einen erweckten sie ihre mit Abstand schrecklichsten Erinnerungen zum Leben, zum anderen wurde sie daran erinnert, dass sie Geheimnisse hatte, die sie Anna, ihrer besten Freundin, niemals erzählen durfte. Sie fasste sich an den schmerzenden Rücken und holte ein paarmal tief Luft, um den Schmerz unter Kontrolle zu bringen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Sara schließlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Die Leute um sie herum begannen zu meckern, noch war niemand herausgelassen worden, und sie hörte mehrere Male das Wort »Toilette«.

»Vielleicht gibt es ja keinen Schurken, den man jagen muss«, sagte Anna.

»Warte nur«, sagte Sara und betrachtete die Zeitung, die vor ihr auf dem Boden lag. »Sieh mal, hier. Hat Hitler das gelesen? Und nicht begriffen, dass es wichtig ist? Oder hat sie nur die Titelseite gelesen?«

Sara deutete auf einen Abschnitt im Artikel, in dem der Reporter eine Mitteilung wiedergab, die bei der Lieferung des Videos über den Mord dabei gewesen war. »Kharma is a bitch.«

»Das Video ist eine Botschaft. Da steckt jemand dahinter.«

»Jemand, der nicht gut Englisch kann. Oder Religion. Karma wird ohne H geschrieben, wenn man die Art meint, die sagt ›what you give is what you get‹«, sagte Anna neunmalklug, während der Kollege Leo Heidis Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte.

»Vielleicht wollen sie international zur Geltung kommen? Das finden sie möglicherweise noch erschreckender.«

»Oder sie finden es einfach nur cool auf Englisch. Eine Überdosis Tarantino.«

»Aber jemand scheint ja Sandin dazu gebracht zu haben, Schildt zu ermorden. Oder?« Sara setzte sich wieder und runzelte die Stirn. »Es war noch jemand in dem Raum, man sieht es daran, wie die Waffe ins Bild gereicht wird.«

»Und es hat jemand das Video geschickt, sowohl an Moberg als auch ans Aftonbladet

»Aber warum? Was soll uns das sagen? Wofür ist der Mord ein Karma? Und …«

Der Gedankengang wurde unterbrochen, als ein hochroter, nach vorne gebeugter Leo aus dem Raum stürzte, die Hände auf den Bauch gedrückt, dicht gefolgt von einer schreienden Heidi Dybäck.