Sara machte einen Abstecher, als sie nach der Arbeit von der Tiefgarage am Schloss nach Hause ging. Über den Kungsträdgården, den Stureplan und die Drottninggatan zurück nach Gamla Stan. Jetzt war es abends wirklich dunkel. Auch wenn der Altweibersommer für einen angenehm temperierten Tagesausklang sorgte, so wussten doch alle, dass es nur ein vorübergehender Trost war. Bald kam der November, der dunkelste und düsterste Monat des Jahres. Wie eine wiederkehrende Depression für das ganze Land. Alle zogen die Decke über den Kopf und machten die Augen zu, bis es Dezember war und man sich auf Weihnachten freuen konnte. Sara fragte sich, wie Weihnachten in diesem Jahr für sie aussehen würde. Würden sie das große Fest als Familie feiern, alle zusammen? Sie und Martin und die Kinder? Sie hatte Weihnachten nie besonders geliebt, all die hochgeschraubten Erwartungen und dann noch Martin, der Ebba und Olle mit jeder Menge teurer Geschenke grenzenlos verwöhnte. Gleichzeitig war es gerade diese richtige Märchenweihnacht, die Sara lockte, ein Klischee, in das sie hineinsteigen und wo sie den ganzen Glanz und die strahlenden Augen hemmungslos umarmen konnte. Gemeinschaft, war es nicht das, worum sich alles im Endeffekt drehte? »Die größte Einsamkeit – nicht in den Gedanken von jemandem zu sein«, hatte Stig Johansson gesagt. In wessen Gedanken befand sich Sara?
Nach wie vor gab es Bars und Restaurants, die weiterhin draußen servierten, mit Wärmestrahlern und Decken für die Gäste, stellte sie fest, als sie sich wieder auf Gamla Stan zubewegte. Die Schweden taten alles, was sie konnten, um den hoffnungslos kurzen Sommer zu verlängern. Und der Mittwochabend war der kleine Samstag. Das Konzept überlebte auch in der Hauptstadt, obwohl die Stockholmer so verzweifelt versuchten, als europäisch und international dazustehen. Man sagte, dass man New York als seine zweite Heimat betrachtete, auch wenn es eigentlich Kumla war.
Der Tag war sehr intensiv gewesen. Erst nachdem alle Kollegen sie einstimmig unterstützt hatten, hatte Sara eine widerwillige Heidi davon überzeugen können, nach den anderen Mitgliedern im Aufsichtsrat des Jahres 2005 von Sandin Energy zu suchen und ihnen Polizeischutz anzubieten. Es waren insgesamt acht, und von den vieren, die noch lebten, hatte einer Todesangst, während ein anderer abwinkte und versuchte, den Schutz auszuschlagen. Die beiden anderen regten sich darüber auf, dass irgendeine Drohung gegen sie vorliegen könnte und dass die Polizei nicht schon die ersten Morde verhindert hatte, wie auch immer sie das geschafft haben sollten.
Sara, Anna, Peter und Carro hatten sich Sandin gewidmet, während Leo nach wie vor nach anderen Verbindungen suchte. Und in dem kleinen Ententeich, den das schwedische Wirtschaftsleben ausmachte, zeigten sich unzählige Verbindungen zwischen den vier Ermordeten. Aufsichtsräte, Vereine, Stiftungen, Jagdgesellschaften und geheime Herrenklubs. Man konnte gemeinsam auf einem Abendessen gewesen sein, um die Macht in einer Firma konkurriert haben oder in den feineren Vierteln der Stadt Nachbarn gewesen sein. Niemand auf der Polizeiwache in Solna glaubte allerdings etwas anderes, als dass Sandin Energy die Verbindung zwischen den Toten war, aber man wollte alle anderen Möglichkeiten ausschließen, um auf der sicheren Seite zu sein.
Alle in der Gruppe waren sich einig, dass das Video, das Moberg und Thun bekommen hatten, eine Warnung gewesen war. Die Frage war, ob noch mehr Personen dieses Video bekommen hatten. Und ob jemand das zweite Video bekommen hatte. Es war ein delikater Auftrag für die Polizei, sich im Wirtschaftsleben und in der Verwaltung umzuhören, ohne preiszugeben, worum es ging.
Um halb elf gaben sie für den heutigen Tag auf. Um diese Uhrzeit erwischten sie ohnehin niemanden mehr, und diejenigen aus dem damaligen Aufsichtsrat, die konkret bedroht waren, standen unter Polizeibewachung.
Es blieb nur zu hoffen, dass der Zusammenhang nicht noch mehr mögliche Opfer umfasste, Personen, von denen sie nicht vermuteten, dass sie sich in der Gefahrenzone bewegten.
Als Sara anhielt und den Code für die Haustür am Kornhamnstorg eintippte, spürte sie, wie jemand still hinter sie glitt und sie am Arm packte.
Instinktiv drehte sie sich zur anderen Seite und schickte einen Ellenbogen an den Schädel des Angreifers.
Ein Schmerzensschrei, und der Getroffene wich einen Schritt zurück, fiel aber nicht um, was normalerweise die Folge eines solch harten Schlags an die Stirn war.
Stattdessen kam sofort der Gegenangriff, auch wenn er ein bisschen nachlässig ausfiel. Sara ging auf, dass sie das Bewusstsein verloren hätte, wenn der Schlag konsequent ausgeführt worden wäre, und es lief ihr eiskalt durch den Körper. Hatte es mit Eric zu tun? Lotta? Wollte sich jemand rächen?
Sie wischte diese Gedanken zur Seite, warf sich nach vorn und griff die Gestalt am Nacken, um sie mit ein paar kräftigen Kniestößen in den Bauch zu Boden zu bringen.
Aber als sie die Arme um den Nacken des Widersachers schloss, bemerkte sie die Cornrows, die über den Kopf liefen, und erkannte, dass es sich um George Taylor Jr. handelte, mit dem sie gerade rang. Daraufhin hielt sie inne.
Ihre Blicke begegneten sich, und die Streitlust in seinem Gesicht wurde von einem Lächeln ersetzt. George legte seine Arme um Saras Taille, beugte sie leicht nach hinten und küsste sie.
Bevor sie reagieren konnte, hatte er sich schon wieder aufgerichtet und seine Arme weggezogen. Sara trat einen Schritt zurück und spürte einen Sog ganz tief im Bauch.
»Guter Zug im Ellenbogen«, sagte er beeindruckt. »Und danke für die Umarmung.«
»Warum schleichst du dich so ran? Stell dir vor, ich hätte dich erschossen!«, sagte sie und starrte ihn streng an.
»Das wäre es vielleicht wert gewesen. War es nicht ein bisschen sexy?«
»Nicht im Geringsten«, sagte Sara und meinte es beinahe auch.
»Du zierst dich.«
»Ich ziere mich nicht, ich bin außer Reichweite.«
»Glaubst du vielleicht.« Taylor sah ihr tief in die Augen. In der Dunkelheit sah sie nicht, wie jung er war. Oder vielleicht redete Sara es sich auch nur ein. »Wie ist es mit deinem Typen gelaufen?«, fragte er.
»Geht dich nichts an.«
»Ich habe meinen Kumpels gesagt, dass sie ihm nichts mehr verkaufen sollen.«
»Misch dich nicht in mein Leben ein«, sagte Sara leise.
»Doch, das habe ich aber vor.«
Er machte wieder einen Schritt nach vorn, legte die Arme um sie und küsste sie.
Und Sara spürte, dass sie es wollte.
Sie wollte mehr.
Aber Olle war oben in der Wohnung.
Er durfte seine Mutter nicht mit einem Kriminellen sehen. Musste nicht erfahren, dass seine Mutter untreu war, auch wenn die Ehe in ihren Augen auf dem Sterbebett lag.
»Komm«, sagte sie und zog George aus dem Torbogen heraus und um die Ecke in die kleine, schmale Torgdragargränd, in der der muskulöse Gangster kaum neben sie passte.
Sie drückte ihn gegen die Wand. Küsste ihn und spürte dann seine Zunge über ihren Hals wandern, weiter zum Schlüsselbein. Zielbewusst knöpfte sie seine Hose auf, bevor sie ihre eigene auszog, sich nach hinten lehnte und ihn in sich hineinkommen ließ. George stöhnte leise. Sie stemmte die Füße gegen die andere Wand und hielt die Arme um seinen Nacken. Lehnte den Kopf gegen den kalten Stein und hörte George etwas in ihr Ohr murmeln, spürte seinen festen Griff um ihre Hüften.
Ob diejenigen, die wenige Meter entfernt über den Bürgersteig gingen, etwas von dem mitbekamen, was in dieser engen Gasse stattfand, wusste Sara nicht, und es war ihr auch egal.
Was Olle sagen würde, wenn er es herausfinden sollte, daran dachte sie lieber nicht.
Oder wie ihre Kollegen reagieren würden.
Oder Martin.
Sie wollte gerade jetzt überhaupt nicht nachdenken.