Glaubte er ihr nicht?
Agneta sah ihm tief in die Augen.
Doch. Bestimmt glaubte er ihr.
Morosow verstand, dass sie ihn töten würde, wenn er nicht auspackte.
Er hatte allerdings mehr Angst vor seinem Chef.
Dem Werwolf.
Warum der Koffer mit einer Million Pfund ihn auch nicht gelockt hatte, begriff sie jetzt.
Der gefesselte Wassilij Morosow hatte Agneta von seinem Chef erzählt. Wie Dmitrij Zerkowskij, der Mann, der der Werwolf genannt wurde, enttarnte Verräter am Leben erhielt, um sie so lange wie möglich foltern zu können. Der aktuelle Rekord lag angeblich bei zwei Wochen.
Und dann ließ er die gesamte Familie des Verräters töten. Damit sich alle im Klaren darüber waren, was passierte, wenn man ihm zu trotzen versuchte. Zuletzt war sogar ein Cousin von jemandem, der den Werwolf zu betrügen versucht hatte, in den USA umgebracht worden. Ein Cousin, den der Enttarnte noch nicht einmal gekannt hatte. Kinder, Frauen, Eltern, Großeltern, Kindheitsfreunde. Alle, die auf irgendeine Weise mit einem Verräter verbunden waren, wurden ausgerottet. Und das hatte anscheinend den beabsichtigten Effekt.
»Niemand wird Ihnen helfen«, sagte Morosow jetzt mit einer rauen Stimme. Seine Haut war blassgrau, als hätte er seit vielen Monaten kein Tageslicht mehr gesehen. »Und wenn Sie versuchen sollten, irgendwelche Informationen aus mir herauszupressen, lassen Sie mich zuerst sagen, dass ich keine Ahnung habe. Es gibt nichts, was Sie aus mir herausfoltern können. Es gibt niemanden, der weiß, wo er ist.«
»Er wird nie erfahren, dass Sie etwas gesagt haben. Innerhalb einer Woche ist er tot. Und Sie sind ein reicher Mann«, sagte Agneta, die ein Stück entfernt in der Dunkelheit saß.
»Ein toter reicher Mann. Aber zuerst ein sehr leidender Mann. Und Sie würden ohnehin keinen Nutzen von etwas haben, das ich Ihnen erzählen könnte. Sobald ich etwas sagen würde, wären es nichts als Lügen. Denn niemand weiß etwas.«
»Irgendjemand muss etwas wissen. Seine Piloten müssen doch wissen, wohin er fliegt.«
Agneta betrachtete den Mann, der sich in dem Sitz vor ihr wand. Sie sprachen Russisch, und sie hatte sofort bemerkt, dass der Moskauer Morosow eine verächtliche Grimasse zog, als er ihre ukrainische Aussprache hörte. Er unterschätzte sie. Diesen Fehler hatten schon einige gemacht.
»Er erzählt niemandem etwas im Vorhinein. Erst wenn sein Flugzeug abgehoben hat, erfährt der Pilot, wohin es geht.«
»Aber dann weiß der Pilot es.«
Agnetas Stimme war ruhig, der Ton beinahe gleichgültig.
»Aber er wird während der ganzen Reise bewacht. Bis sie irgendwo anders hinreisen, mit einem anderen Piloten, der das Ziel erst erfährt, wenn sie abgehoben haben.«
»Aber sie müssen die Genehmigung zur Landung einholen. Und das Kennzeichen des Flugzeugs angeben.«
»Er hat drei Flugzeuge gleichzeitig in der Luft«, kam die schnelle Antwort von dem blassen Russen. »Und sie geben sich ständig falsche Kennzeichen. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Flugzeuge jeden Tag eine Landegenehmigung haben wollen?«
»Man könnte ihm nachfliegen?«, schlug Agneta vor.
»Sein Flugzeug hat Raketen, die er jederzeit gegen eine Maschine abfeuern kann, die ihn verfolgt. Geben Sie besser gleich auf.«
»Ich dachte, Sie hassen ihn.«
»Das tue ich auch. Er ist ein brutaler Sadist. Eine Bestie, der Teufel selbst. Ich will nichts mehr, als dass ihn jemand umbringt. Aber niemand kann es«, sagte Morosow und schluckte. »Kann ich ein bisschen Wasser haben?«
»Das Personal in seinem Haus hat doch bestimmt den Befehl, das Sicherheitsniveau zu erhöhen, wenn er kommt?«, sagte Agneta und ignorierte seine Bitte.
»Erst eine Stunde vorher. Und sie erhöhen sie immer an mehreren Orten gleichzeitig, in unterschiedlichen Teilen der Welt. Niemand weiß, zu welchem Haus er will. Und selbst wenn es jemand erführe, wäre es nicht sicher, dass man rechtzeitig hinkommen würde. Er bleibt fast nie länger als eine Nacht an derselben Stelle. Ständig gibt es Täuschungsmanöver und Doppelgänger, die zu anderen Häusern fahren. Er ist ein Gespenst, das niemand fangen kann.«
»Bis jetzt.«
»Sie sollten sich herausziehen, solange Sie es noch können«, sagte der Russe und schüttelte den Kopf. »Wenn er erfährt, dass Sie nach ihm suchen, wird er Sie foltern lassen. Da wird es keine Rolle spielen, dass Sie eine alte Schachtel sind. Sie werden Ihre eigenen Därme essen müssen. Sie sollten hoffen, dass die GRU Sie vorher findet.«
»Die GRU ?«, wiederholte Agneta mit etwas ungeduldiger Stimme.
»Sie suchen nach einer alten Schachtel, die Romanowitsch getötet hat. Irgendetwas sagt mir, dass Sie es waren. Es kann ja nicht so furchtbar viele alte Besen geben, die Oligarchen ermorden, oder? Und es gibt bestimmt viele, die scharf auf die Belohnung sind.«
Morosow lächelte vor sich hin, offensichtlich ganz zufrieden damit, wie gut er informiert war.
Mist. Die GRU hatte Informationen über sie herausgegeben. Obwohl sie nicht wussten, wer sie war, wussten sie auf jeden Fall, was sie war. Mittlerweile wusste wohl jeder Russe in London, das der russische Nachrichtendienst nach einer alten Frau suchte und gut für sie bezahlen würde.
Sie musste eine Weile untertauchen. Das hier war gar nicht gut für den Auftrag.
Wohin konnte sie gehen?
Es fühlte sich ungewohnt an.
Sie war es gewohnt, zu jagen und nicht selbst die Gejagte zu sein.
Agneta klebte Morosows Mund zu und kletterte aus dem geschlossenen Lieferwagen auf dem Langzeitparkplatz des Flughafens. Die ganze Zeit mit gesenktem Kopf, um die Überwachungskameras zu überlisten, soweit es ging. Sie hatte sich diesen Parkplatz ausgesucht, gerade weil er überwacht wurde. Darum hatte sie sich auch einen falschen Vollbart angeklebt und auf die Hand einen Stern gemalt, der so aussehen sollte wie eine Tätowierung, die auch russische Gangster, Vory, normalerweise hatten. Bei dem Abstand, den sie zu den Kameras hatte, konnte das durchaus funktionieren. Sie versuchte, sich auf eine männliche Art zu bewegen, und stellte sich sogar vor ein geparktes Auto und tat so, als würde sie pinkeln, indem sie eine Flasche Zitronensaft ausleerte, die sie in der Tasche hatte. Sie hoffte auch, dass die Wächteruniform für Verwunderung sorgte.
Agneta musste nachdenken. Sie betrachtete eine Weile die Flugzeuge, die ein Stück weit entfernt starteten und landeten, während sie überlegte.
Ein tiefes Seufzen glitt aus ihrer Kehle. Sie hatte alles herausgefunden, was sie über den Werwolf herausfinden konnte: seinen Hintergrund, sein Imperium, wie es heute aussah, und sein Weg an die Macht. Alles über seine Familie und die Verbündeten, alte und neue. Aber niemand konnte ihr helfen, näher an ihn heranzukommen.
Aber dann dachte sie plötzlich an Mohammed.
Und sofort wusste sie, was sie tun musste.
Dem Beispiel des Propheten zu folgen, war die einzige Möglichkeit.
Damit konnte sie genauso gut direkt anfangen.
Sie ging in den Lieferwagen und erschoss Morosow mit zwei Kugeln in die Stirn.
Schließlich hatte sie einen Ruf, um den sie sich kümmern musste.
Es war nicht möglich, diejenigen überleben zu lassen, die nicht reden wollten, dann würde ihr niemals irgendwer irgendetwas erzählen.
Jetzt, wo er gestorben war, würden die Männer des Werwolfs auch nicht glauben, dass er etwas erzählt hatte.
Und Morosow konnte sie niemals identifizieren.
Win-win.
Der Körper würde wahrscheinlich erst in Wochen gefunden werden, und wenn es so weit war, wäre sie längst nicht mehr hier. Aber sie wollte nicht als ältere Frau identifiziert werden, das würde ihre zukünftigen Aktivitäten erschweren.
Sie griff nach ihrer Tasche, verließ den Langzeitparkplatz und nahm den Transferbus nach Stansted, nach wie vor mit gesenktem Kopf und einem so männlichen Bewegungsmuster, wie es ihr möglich war.
Vor dem Terminal wählte sie ein Taxi mit einem Chauffeur, dessen Hautfarbe komplett weiß war, und drückte die Daumen, dass seine Reaktion diejenige wäre, die sie sich vorgestellt hatte. Als sie während der Fahrt die Uniform auszog, sie in die Tasche stopfte und stattdessen einen ganz geschlossenen Niqab überzog, erklärte sie dem Fahrer, dass sie mit einem Muslim verheiratet sei, der niemals zulassen würde, dass sie sich unter Leuten bewegte, ohne einen vollständigen Schleier zu tragen. Da sie allerdings Wert auf ihre Unabhängigkeit lege, müsse sie eine Art Doppelleben führen. Der Fahrer schluckte die Geschichte mit Haut und Haar. Schüttelte den Kopf und bedauerte, was aus Good Old England geworden sei.
Agneta stieg in Tower Hamlets aus, auf der Brick Lane. Hier verschmolz sie mit ihrem Schleier mit den übrigen Passanten, und ihr Gesicht könnte sich niemand merken, selbst wenn eine Kamera sie einfangen würde.
Als sie sich ausreichend unsichtbar fühlte, holte sie das Handy heraus und rief Schönberg an. Sie erklärte, dass sie mit dem Leibwächter des Werwolfs nicht weitergekommen sei und dass sie das Gefühl habe, eine Weile untertauchen zu müssen, weil die GRU eine Meldung herausgegeben hatte, dass sie nach einer alten Frau suchten.
»Ich mache einen kurzen Urlaub auf dem Land«, sagte Agneta. »Aber vorher brauche ich noch Hilfe bei einer Sache.«
Dann sagte sie ein einziges Wort. Ein Wort, das Schönberg eine sehr lange Zeit zum Schweigen brachte.
»Bist du dir sicher?«, sagte er schließlich.
»Ganz sicher.«
»Weißt du, wie gefährlich das ist?«
»Das ist mir sehr bewusst.«
»Und es kann unmöglich offiziell gemacht werden.«
»Dann mach es inoffiziell.«
Darauf beendete sie das Gespräch, wischte das Handy ab und ließ es diskret auf den Bürgersteig fallen. Es wäre gut, wenn jemand es finden und benutzen würde. Das würde die Spuren ein bisschen verwischen, falls Schönberg oder jemand anderes vorhätte, sie anhand des Handys ausfindig zu machen.