Sandin Energy war ein umstrittenes Unternehmen. Zu Beginn hatte es Sandin Oil geheißen und sich darauf spezialisiert, nach Öl und Gas in konfliktreichen Gebieten zu suchen, in die sich andere Firmen nicht begeben wollten, entweder um ihr Personal zu schützen oder weil sie es als unmoralisch ablehnten. Zumindest hatte man Angst, die öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen. Aber Sandin Oil hatte sich nicht um so etwas geschert. Ganz im Gegenteil hatte man mit Kusshand die Prospektionsgenehmigungen von Diktatoren und Kriegsherren erworben, vor allem in Afrika, aber auch in Asien. Wenn das Kriegsglück sich wendete, konnte die Firma ihre Rechte verlieren, aber im großen Ganzen war es eine äußerst lohnende Geschäftsidee, in diesen Gegenden tätig zu sein, und die Aktie war populär unter den Investoren, die sich nicht um die Ethik ihres Handelns kümmerten.
Der Gründer des Unternehmens mit dem vielsagenden Namen Adolf war in den Siebzigerjahren zum besten Freund der Machthaber in den zutiefst rassistischen Ländern Südafrika und Rhodesien geworden. Angeblich hatte er Millionen für die Bekämpfung der Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen gespendet, was seiner Firma lukrative Grabungsrechte beschert hatte. Zu dem Preis, dass es Kritik in seinem Heimatland Schweden gab, die er als linke Propaganda abtat.
Sandin Energy sah sich als späte Folge dieser Tätigkeit in Entwicklungsländern einer Anklage wegen Mittäterschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Die Staatsanwaltschaft warf der Firma vor, dass man geholfen habe, Sudanesen zu vertreiben und zu ermorden, die in den Gebieten gewohnt hatten, in denen das Unternehmen das Recht erworben hatte, nach Öl zu bohren. In den Teilen des Sudan, die mittlerweile ein eigenes Land waren, Südsudan. Man hatte Fahrzeuge an das Militär des Landes ausgeliehen, als sie ganze Städte dahinmetzelten, und sie hatten eine Straße gebaut, um es den Soldaten zu erleichtern, mit den schweren Fahrzeugen in die Konfliktgebiete zu gelangen. In Zeugenaussagen war von Vergewaltigungen, Morden, Verstümmelungen und Zwangsumsiedlungen in riesigem Ausmaß die Rede.
Der frühere Außenminister Jan Schildt lehnte in unzähligen Artikeln jede Verantwortung ab und ging mit seinem gewohnten Sarkasmus zum Gegenangriff über. Er war dafür bekannt, dass sämtliche Skandale an ihm abglitten, aber jetzt sah er zum ersten Mal wirklich angegriffen aus, bemerkte Sara, als sie sich die Videoausschnitte ansah, die auf Youtube über seine Beteiligung an dem Skandal vorhanden waren. Er war blitzschnell damit gewesen, seinen Aufsichtsratsposten loszuwerden und seinen Aktienbesitz an dem Unternehmen zu verkaufen, als der Wind zu scharf wurde. Und seitdem hatte er es zur Bedingung für alle Interviews und Auftritte im Fernsehen gemacht, dass keine Fragen zu seiner Zeit bei Sandin Energy gestellt würden.
Ein Kommentator merkte an, dass sich niemand um den Bürgerkrieg im Sudan gekümmert hätte, bei dem zwei Millionen Menschen im Laufe von zwanzig Jahren ums Leben gekommen seien. Erst als der Sudan begann, Öl in großem Maßstab zu verkaufen, begann die Welt sich zu engagieren, und da waren dreißigtausend Tote ein riesiger Skandal. Ökonomisch motivierte Mitmenschlichkeit.
Relativ schnell fand Sara auch eine Homepage, hinter der eine Gruppe von Hackern steckte, die sich X-Ray nannte. Den Namen hatten sie sich ausgesucht, weil sie angeblich »die Macht röntgen und hinter die polierten Fassaden sehen« wollten.
X-Rays normale Beschäftigung bestand darin, Sicherheitsfehler in den Datensystemen großer Unternehmen zu finden und sich dafür bezahlen zu lassen, sie nicht zu veröffentlichen. Das betrachtete man als rechtmäßige Finanzierung ihrer wichtigen gesellschaftlichen Tätigkeit. Ihr Hauptziel bestand darin, Korruption, Machtmissbrauch und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu entlarven.
X-Ray hatte unlängst erst die Server der CIA gehackt und einen als geheim gestempelten Bericht über Sandins Tätigkeit gefunden, den sie ins Netz gestellt hatten.
Sara rief die Datei mit dem Bericht auf und blätterte sich durch Tabellen von Toten und Verletzten, Zeugenaussagen von Überlebenden und Bildern von verstümmelten Körpern und niedergebrannten Dörfern.
Ein paar der Bilder zeigten Körper, die verbrannt und geköpft worden waren.
Genau wie Jan Schildt und Harald Moberg.
Sara druckte den kompletten Bericht aus und ging mit ihm zu Heidi Hitler. Sie konnte den Vergleich nicht unterdrücken, wie es gewesen wäre, wenn Bielke in dem Büro am Ende des Ganges gesessen hätte. Er fiel nicht zu Heidis Vorteil aus.
Wie gewohnt saß Eger Nilsson in Heidis Büro. Jetzt auf dem Sofa, aber wie immer mit den Füßen auf dem nächstgelegenen Tisch.
»Ein Massaker im Sudan«, sagte Sara und warf den Bericht auf Heidis Tisch. »Das in dem Jahr geschah, in dem die vier Toten im Aufsichtsrat von Sandin saßen. Und Sandin war daran beteiligt.«
»Hast du etwa damit weitergemacht?«, fragte Heidi und betrachtete sie misstrauisch. »Darum habe ich dich aber nicht gebeten.«
»Sieh nur«, sagte Sara und zeigte auf die Bilder der verbrannten und geköpften Körper.
»Was hat denn das mit den Morden zu tun?«
»Weiß ich nicht. Aber es ist unser einziger Anhaltspunkt. Hier haben wir schließlich zum ersten Mal ein Motiv, seit wir die Videos bekommen haben.«
»Warte mal, warte mal«, sagte Eger und hob eine Hand. »Zwei alte Chefs ermorden zwei andere und nehmen sich dann das Leben. Wo sind denn da die Bösewichte?«
»Der oder die, die gefilmt und das Video geschickt haben und die den Männern die Pistolen gegeben haben. Die müssen wir finden.«
Eger winkte Heidi zu, und sie hielt die Papiere mit den Opfern im Sudan so hoch, dass er sie sehen konnte. Er sah von den Bildern zu Sara.
»Was haben diese Bilder mit unseren Ermittlungen zu tun? Diese Menschen sind doch Opfer. Sie sind arm. Die können so etwas nicht machen.«
»Das habe ich ja auch nicht gesagt.«
»Du zeigst uns die Bilder und meinst, du hättest die Lösung gefunden, weil du so verdammt brillant bist, im Unterschied zu uns anderen.« Sara hatte keine Zeit, auf diese Dummheit zu reagieren, bevor Eger fortfuhr: »Du behauptest also, dass in den Slums von Afrika jede Menge krimineller Masterminds geboren werden? Du hörst doch selbst, wie absurd das klingt.«
»Ja, das klingt absurd, aber du hast es gesagt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Eger und strich sich erneut den viel zu langen Pony aus der Stirn.
Du lieber Gott, was war das hier für ein Niveau?
»Und diejenigen, die den Bericht veröffentlicht haben? X-Ray?«, sagte Sara in einem letzten Versuch, Gehör für ihre Theorie zu finden.
»Das sind Helden. Sie zeigen der Welt, wer die Kapitalisten wirklich sind, nämlich echte Schweine. Wir sollten ihnen applaudieren.«
»Heidi, stimmst du Egil zu, dass wir applaudieren sollten, wenn Leute ermordet werden?«
»Eger. Und so hat er es nicht gemeint.«
»Du«, sagte Eger und streckte Sara einen blassen, knubbeligen Zeigefinger entgegen. »Das hier ist eine Abrechnung in der Oberklasse. Wie Ratten, die übereinander herfallen, wenn die Welt untergeht, bringen sie einander um. Aber du, du siehst Mörder in allen Farbigen. Du stellst dich in den Dienst der Macht.«
»Fahr zur Hölle«, sagte Sara, nahm den Bericht und ging.
In ihrem Büro warf sie den Papierstapel gegen die Wand und trat ihren Schreibtischstuhl um. Sie schrie vor Zorn, und dann stand sie eine Weile herum und kochte innerlich.
Irgendetwas musste sie tun. Sie holte ihr Handy heraus und rief Brundin bei der Säpo an.
»Brundin.« Wie immer meldete sie sich nur mit dem Nachnamen. Nicht der geringste Versuch zu freundlicher Plauderei, obwohl sie und Sara schon so viel gemeinsam erlebt hatten.
»Sandin Energy. Alle vier Ermordeten aus den Videos saßen im Aufsichtsrat, als die schlimmsten Übergriffe im Sudan begangen wurden. Wissen Sie mehr darüber?«
»Kein Kommentar.«
»Kommen Sie«, seufzte Sara. »Es können noch mehr Leute bedroht sein. Und wenn Sie wissen, dass es die falsche Spur ist, dann wäre es verdammt überflüssig, wenn die Polizei ihre Ressourcen darauf verschwendet.«
»Ich verstehe Sie«, sagte Brundin.
»Also …?«
»Also kein Kommentar.«
»Und wenn sich herausstellt, dass jemand anderes darin verwickelt ist und die Vorstandsvorsitzenden dazu bewegt, sich gegenseitig zu ermorden, während gleichzeitig die Säpo die Zusammenarbeit bei den Ermittlungen verweigert, dann wäre echt die Hölle los.«
»Ich verstehe Sie«, sagte Brundin erneut. Dann schwieg sie.
»Brundin?«, sagte Sara.
»Ja?«
»Soll ich Ihnen sagen, was ich von Ihnen halte?«
»Tun Sie das«, antwortete die Säpo-Frau.
»Kein Kommentar.«
Sara drückte das Gespräch weg und rief Tore Thörnell an, den pensionierten Oberst, der bei der Spionageabwehr im Hauptquartier der Nato in Brüssel gearbeitet und ihr im letzten Jahr mit Informationen über Spione und Terroristen geholfen hatte. Grundsätzlich war er loyal zu seinen alten Arbeitgebern, aber er sollte ein bisschen das Gefühl haben, Sara einen Dienst schuldig zu sein, nachdem er Faust erlaubt hatte, ihr Gespräch abzuhören, was beinahe zu ihrem Tod geführt hätte.
Sie erzählte von dem unlängst geleakten Bericht und dass die mittlerweile vier Getöteten alle im Aufsichtsrat der Firma gesessen hatten, als sich die Gewalttaten im Sudan ereignet hatten.
»Ich werde es mir ansehen«, war alles, was er sagte, dann legte er auf.
Entweder war er mit anderem beschäftigt, oder er betrachtete den Auftrag mit allergrößtem Ernst.
Sara berichtete anschließend ihren Kollegen von X-Ray und dem Bericht und bat sie, nach irgendetwas zu suchen, das Verbindungen zum Sudan herstellte. Protestversammlungen, empörte Leserbriefe, Afrikagruppen, Exilsudanesen in Schweden sowie Reisen in den und aus dem Sudan.
Anna erklärte, dass sie lieber keine Überstunden machen wollte. Sie wollte nach Hause zu Lina.
»Es ist ja ohnehin schon alles geschlossen.«
»Okay, dann morgen«, sagte Sara und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.
So war es früher nie gewesen.
Damals waren sie immer auf die Ideen der anderen angesprungen.
Sie seufzte leise, versuchte aber, positiv zu denken. Die Fakten zu akzeptieren.
»Ja, ja«, sagte Sara und nahm ihre Jacke. »Es ist spät, und über Nacht wird wohl nichts Neues passieren.«