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»Du fährst in der falschen Spur.«

»Mach ich gar nicht.«

»Doch, du sollst geradeaus fahren. Das hier ist für Rechtsabbieger.«

»Und?«

»Du kommst nach Solna, wenn du hierbleibst.«

Widerwillig wechselte Ebba die Spur, allerdings ohne in den Rückspiegel zu sehen, was dazu führte, dass ein grüner Peugeot 508 hinter ihnen in die Eisen steigen musste.

Sara sah über den breiten Bürgersteig des Karlbergsvägen. Mit ihrer Tochter Übungsfahrten zu machen, war eine Herausforderung. Sie hatte Schwierigkeiten, die Ruhe zu bewahren, wenn Ebba Fehler machte. Sie hatte ihr mehrere Male erklärt, dass sie sich nur aufregte, weil sie wirklich wollte, dass Ebba die Fahrprüfung bestand, aber sie wussten beide, dass es an ihrem Temperament lag. Und an den überhöhten Ansprüchen an die Tochter.

Die Situation wurde nicht besser davon, dass Ebba ihre Übungsfahrten vorher mit Eric gemacht hatte. Oder dass Sara jetzt übernehmen musste, weil sie ihren Schwiegervater erschossen hatte. Den Großvater, dem sowohl Ebba als auch Olle nahegestanden hatten, über den sie nach wie vor fast jeden Tag sprachen. Sara konnte ihnen ja nicht einfach erzählen, dass sie ihn vergessen sollten, dass er ein böser Mann gewesen sei, der ihren Vater während seiner ganzen Kindheit und Jugend gequält habe, und dass es ihr jedes Mal körperlich wehtat, wenn sie seinen Namen aussprachen. Der liebe Opa Eric . Sara wollte nichts anderes, als einfach weiterzumachen, aber gerade jetzt machte die Trauerarbeit der Kinder es unmöglich. Der einzige Trost war, dass sie Eric hatte töten müssen, dass sie keine Wahl gehabt hatte, sich anders zu entscheiden.

»Du dumme Fotze, wie fährst du denn?«

Ebba hupte und zeigte einem Volvo XC 90 , vor dem sie in die Eisen steigen musste, den Mittelfinger.

»Rechts vor links«, sagte Sara. »Er hatte Vorfahrt. Und verwende nicht Fotze als Schimpfwort. Warum sollte eine Fotze etwas Negatives sein?«

»Nicht so eine Fotze. Keine Muschi-Fotze, sondern eine Hurenbocksfotze. Ein Idiot. Ein Fotziot.«

Ebba wendete, bevor sie die Norra Stationsgatan erreichten, und bog nach rechts in die Norrbackagatan ab. An der Kreuzung mit der Tomtebogatan hatte der erste 7 -Eleven von Schweden gelegen. Jemand hatte einmal gesagt, dass es vor genau diesem 7 -Eleven gewesen war, wo Mauro Scocco auf seine Sarah gewartet hatte. Anna hatte dort zur Untermiete gewohnt, schräg über die Straße in der Nummer 38 , als sie auf die Polizeihochschule gegangen waren. Sie waren oft nach unten gelaufen und hatten in dem Lebensmittelkiosk eingekauft, wenn sie bei Anna zusammen gelernt, vorgefeiert oder ihren Kater auskuriert hatten.

So war es, wenn man älter wurde, so viele Orte in der Stadt, die mit Erinnerungen verbunden waren. Aber man kam an das Verflossene nicht mehr heran, das gleichzeitig so lebendig und doch entfernt wirkte. Erinnerungen, die sich rücksichtslos aufdrängten, wenn man einen bestimmten Eingang oder Park oder eine bestimmte Pizzeria sah.

»Und jetzt?«, fragte Ebba irritiert vor der Kreuzung mit der Rörstrandsgatan.

»Wir müssen tanken. Bieg nach rechts in die Sankt Eriksgatan ein, dann fahren wir zu der Tankstelle am Norr Mälarstrand.«

Als sie Stockholms Tankstelle mit der besten Aussicht erreicht hatten, stieg Sara aus, nahm ihr Gucci-Portemonnaie, das sie von Martin bekommen hatte, und ging zum Automaten. Als sie gerade die Bankkarte in das Terminal stecken wollte, entschied sie sich um und ging zurück.

Ebba saß wie gewöhnlich mit dem Handy da und wartete wie immer darauf, dass sie von ihrer Mutter bedient wurde. Sara nahm das Handy aus Ebbas Hand und sah ihr in die Augen.

»Tank selbst«, sagte Sara.

»Ich?«

»Bezahlen kannst du auch. Du hast einen Job, und es ist deine Übungsfahrt.«

Ebba seufzte und knallte demonstrativ die Autotür hinter sich zu.

Während die Tochter mit gespreizten Fingern tankte, um keinen Benzingeruch an die Hände zu bekommen, begann Sara über all die guten Orte nachzudenken, an denen man Übungsfahrten machen konnte.

Oben auf dem Essingeleden? War Ebba dafür bereit? War Sara dafür bereit?

Durch die Innenstadt?

Oder so ein bisschen halbherzig nach Drottningholm hinaus? Gerade Strecken und Schlangen und ein paar anstrengende Kreisverkehre, in denen niemand einen Blinker benutzte?

Ebbas Handy war nach wie vor entsperrt, also beschloss Sara, die Kartenapp zurate zu ziehen, um sich ein Bild von der Verkehrslage zu machen. Da sah sie, dass Ebba die App »Hitta« aufgerufen hatte, mit der man sehen konnte, wo sich das eigene iPhone befand. Seltsam. Sie hatte doch ihr Handy dabei. Beziehungsweise, im Augenblick hatte Sara es, aber trotzdem. Dann sah sie, dass der runde Ring mit einem iPhone-Bild sich gar nicht am Norr Mälarstrand befand, wo es sein sollte, sondern draußen auf der Insel Kastellholmen. Und als sie die Liste mit den »Einheiten« kontrollierte, sah sie, dass das Handy »Toms iPhone« hieß. Und die anderen Einheiten »Toms iPad«, »Toms MacBook Pro«, »Harriets iPhone« und »Cocos iPad«.

Ebba war in Toms iCloud eingeloggt.

Du lieber Gott.

Sie behielt ihn im Auge.

Sara sah durch den Rückspiegel an der Seite zu ihrer Tochter. Eben noch ein Kind, jetzt eine junge Frau. Fixiert auf einen Mann. Offensichtlich schon bereit dazu, die Selbstständigkeit aufzugeben, für die sie so hart ihr ganzes Leben lang gekämpft hatte. So hatte sie ihre Tochter wirklich nicht erzogen.

Als Ebba sich wieder in das Auto setzte, konnte Sara es nicht lassen, sie davor zu warnen, von einem Mann so besessen zu sein. Das war kein gesundes Verhalten.

Die Tochter flippte aus, riss ihr Handy an sich und beschuldigte Sara, eine Psychopathin, total verbittert und eine Stalkerin zu sein.

Dann zankten sie den ganzen Weg bis nach Östermalm, wo Sara entschied, dass es genug war, und Ebba anwies, zur Slussen zu fahren, wo Sara sie aussteigen ließ. Die Tochter konnte gerne zu Fuß das kurze Stück nach Hause zum Mosebacken zurücklegen.

Sara holte tief Luft, bevor sie zur Garage unter dem Slottsbacken fuhr, um zu parken. Sie versuchte sich einzureden, dass es nur eine Phase sei. Ebba war immerhin frisch verliebt. Aber als sie Martins knallgelben Lamborghini Urus auf seinem Platz neben Saras stehen sah, wurden die Bauchschmerzen von einer eisigen Sorge ersetzt. Was machte er denn hier?

Sie stieg aus dem Wagen und wanderte an der Storkyrkan vorbei nach Hause, während sie ihren Mann anrief.

»Wo bist du? Warum steht dein Auto in der Garage?«

»Ich warte auf dich«, sagte Martin. »Vor der Wohnung«, betonte er schließlich.

»Warum? Ist etwas passiert?«

»Ich komme ohne dich nicht zurecht. Nimm mich zurück.«

Bei diesen Worten platzte Sara der Kragen.

»Du nimmst Drogen, Martin«, sagte sie. »Ich weiß, was du getan hast, du verdammter Fotziot!«

»Was?«

»Du läufst auf Kokain, daher bekommst du deine tolle neue Energie. Die ganzen Joggingrunden, mit denen du auf den sozialen Medien angibst, hast du mit dem verdammten Pulver in der Nase zurückgelegt.«

»Wer hat das gesagt?«, fragte Martin, mittlerweile weniger selbstsicher.

»Ich bin Polizistin. Wie konntest du glauben, dass ich dich zurückhaben will, wenn du anfängst, Kokain zu nehmen?«

Es tutete im Hörer. Ein eingehendes Gespräch. Sie sah aufs Display. George Taylor Jr. Verdammt noch mal … Gespräch ablehnen .

»Martin. Es hätte vielleicht eine Chance für uns gegeben, zueinander zurückzufinden. Etwas Neues aufzubauen. Aber nicht, wenn du zu Kokain greifst. Dass du überhaupt auf die Idee kommst, so etwas Idiotisches zu tun, nach allem, was bereits passiert ist.«

»Ich weiß …«, sagte er, aber Sara hatte jetzt keine Lust mehr, zu diskutieren.

»Ich dachte, irgendwo ganz tief in dir drin gibt es einen gesunden Kern, aber jetzt ist mir klar, dass es den nicht gibt.«

»Doch, er ist dort!«, rief Martin trotzig in den Hörer.

»Ich will nie wieder etwas mit dir zu tun haben. Ich werde sofort die Scheidung beantragen. Ich war wirklich dumm genug, es nicht schon im August zu tun. Damals hatte ich idiotischerweise geglaubt, dass es noch irgendeine Chance für uns beide geben könnte. Aber das ist jetzt endgültig vorbei. Hast du mich verstanden?«

Sara drückte das Gespräch weg, ließ sich an die gelbe Fassade der Storkyrkan sinken und weinte.

Sie weinte einfach nur.

Leute kamen vorbei, Touristen mit Kameras in den Händen. Einige betrachteten sie unsicher, aber das kümmerte sie nicht.

Jetzt wusste sie es.

Es war vorbei.

Sie hatte die Hoffnung auf ihren Mann nicht aufgeben wollen, aber wenn er nicht einmal zugeben konnte, dass er ein Problem hatte, dann gab es kein Zurück mehr. Im Augenblick war das Wichtigste für Sara, dass sie sich auf diejenigen verlassen konnte, die ihr nahestanden. Ohne Vertrauen keine Beziehung, so einfach war das.

Schließlich wischte sie die Tränen ab, stand auf und rief Tom Burén an.

»Hallo, Sara«, sagte er fröhlich.

»Tom, als Repräsentantin der Eigentümer muss ich darauf hinweisen, dass es in höchstem Grade unangebracht ist, dass der Vorstandsvorsitzende des Konzerns ein Verhältnis mit einer Angestellten hat. Ebbas schnelle und unüberlegte Beförderung beweist gerade das Unpassende daran. Du hast dich bei deinen beruflichen Entscheidungen von deinen Gefühlen lenken lassen. Du musst diese Beziehung abbrechen oder gehen.«

Tom war eine Weile still, als müsste er darum kämpfen, diese vermutlich unerwartete Botschaft zu verarbeiten.

»Nein«, sagte er schließlich. »Das ist keine Eigentümerfrage. Die Beziehung von Ebba und mir gehört zu meinem Privatleben, und für das, was du sagst, gibt es keine Belege in unseren Grundwerten oder unseren Statuten. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich werde zu einem wichtigen Treffen erwartet.«

Tom drückte das Gespräch weg, und Sara wusste nicht, was sie als Nächstes machen sollte.

Es blieb eigentlich nur eine Sache.

Nach Hause zu gehen und etwas Bequemes über sich zu ziehen. Sich auf das Sofa zu legen, die Augen zu schließen und zu hoffen, dass sie einschlafen und alles vergessen würde.

Als sie im obersten Stockwerk aus dem Fahrstuhl stieg, sah sie, dass etwas in den Briefschlitz gestopft worden war. Und auf der Matte darunter lagen jede Menge abgerissene Blätter wie kleine blutige Flecke.

Er war gründlich misshandelt worden, aber immer noch als ein Blumenstrauß erkennbar.

Von Martin.

Ein großes Bukett aus roten Rosen, das nicht mehr zu retten war.