Göran Antonsson war sechsundfünfzig und Vorstandsvorsitzender des Maschinenbaukonzerns Hittarps. Er war für einige Monate im Jahr 2005 Ersatzmann im Aufsichtsrat von Sandin Energy gewesen, und jetzt war er verschwunden.
»Wie zum Teufel haben sie ihn erwischt?«
Nina Werkström sah auf die versammelten Polizisten. Die ursprüngliche Truppe und die vier neuen, die als Verstärkung dazugekommen waren. Ihre Mundwinkel zuckten vor Frustration.
»Es saßen den ganzen Tag Polizisten vor seiner Tür, und als seine Sekretärin mit ein paar Papieren hineingehen wollte, war er einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt.«
Sara überlegte, ob ihr graues Haar gefärbt oder natürlich grau war. Werkström konnte nicht viel älter sein als vierzig. Sie hatte das graue Haar zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden, trug ein Front-242 -T-Shirt, eine Jeans-Latzhose und robuste Stiefel. Eine Chefin nach Saras Geschmack.
»Es gab da eine kleine Hintertür, die wir nicht bewacht haben«, sagte Leo. »Sie führte in ein anderes Treppenhaus. Dort müssen sie hereingekommen sein.«
»Und diese Tür hatten wir nicht entdeckt?«
»Doch, ich habe mit denen gesprochen, die dort Wache hatten. Eine Sicherheitstür mit doppeltem Schloss und einer zusätzlichen soliden Gittertür. Sie wurde als sicher eingestuft.«
»Sie war auch mit einem Alarm versehen.«
»Also ist es ihnen gelungen, den Alarm abzustellen und an zwei Schlössern und einer Gittertür vorbeizukommen, um Antonsson zu holen, und niemand hat etwas davon bemerkt? Was sind das für Leute? Gespenster?«
»Er muss sie hereingelassen haben«, sagte Leo und betrachtete ihre neue Chefin hingerissen. Er wirkte fast ein bisschen verzaubert von ihrer tatkräftigen Erscheinung, und Sara fragte sich, ob er der Latzhose oder der selbstbewussten Stimme verfallen war.
»Vielleicht wurde er hereingelegt?« Peter sah sich unter den Kollegen um, wie sie auf seinen Vorschlag reagierten. »Hat diesen Eingang überhaupt gelegentlich jemand verwendet? Handwerker? Heimliche Liebschaften?«
»Das müssen wir kontrollieren«, sagte Carro.
»Und dann noch eine Sache.«
»Ja?«, sagte Leo hoffnungsvoll.
»Jemand von euch sagte, Antonsson hätte ›sie hereingelassen‹.«
»Das war ich.« Leo nickte so eifrig, dass der kleine Porkpie-Hut zu Boden fiel.
»Wer zum Teufel sollen denn ›sie‹ sein?«
Die Chefin ließ die Frage in der Luft hängen, und Sara fand, dass es eine ausgezeichnete Frage war. Nina Werkström war eine Kommissarin mit besonders gutem Ruf. Hart und kantig, aber routiniert und effektiv. Sie hatte die Verantwortung für die Ermittlungen von Heidi Hitler übernommen. Mit wem auch immer Thörnell gesprochen hatte, es hatte seine Wirkung erzielt. Eine neue leitende Ermittlerin und vier zusätzliche Polizisten. Und die Sandin-Spur sollte priorisiert werden.
Heidi war komplett durchgedreht. Hatte alle Leute der alten Gruppe versammelt und gefragt, wer diesen Mist über sie verbreitet hätte. Dann hatte sie abwechselnd geschrien und geheult. Hatte verkündet, dass derjenige, der ihr in den Rücken gefallen sei, sie wie eine schlechte Polizistin aussehen ließe, vielleicht sogar ihre Karriere zerstört habe. Sara und die Kollegen hatten zu Boden geblickt, an die Decke, auf die hässliche Kunst an den Wänden – überallhin, nur nicht auf Heidi Hitlers Waschbärengesicht mit Mascarastreifen.
Dann war Brundin aufgetaucht und hatte mit der erweiterten Gruppe gesprochen. Jede Information sollte auch direkt an die Säpo weitergeleitet werden. Dies sei ein Fall, der die Sicherheit des Staates betreffe, weil ein ehemaliger Minister zu den Mordopfern gehöre. Die Säpo übernahm nach einer Analyse der Bedrohungslage auch den Personenschutz für gefährdete Personen aus dem Wirtschaftsleben sowie für das Königshaus und die ganze Regierung.
Brundins Linie lief darauf hinaus, dass man die sogenannten »Linkselemente« in X-Ray und mögliche schwedische Hacker und Aktivisten jagen sollte, die mit ihnen in Verbindung standen.
Und jetzt, wo ein weiterer Vorstandsvorsitzender trotz intensiver Polizeiüberwachung verschwunden war, wurde alles auf den Kopf gestellt.
Jetzt war es eilig, ein Leben war in Gefahr.
Sie hatten bislang keine Antwort darauf, wie diejenigen, die dahintersteckten, diese Wirtschaftsbosse dazu brachten, sich gegenseitig zu ermorden.
Fanden sie schwelende Konflikte und boten ihnen die Möglichkeit, Rache zu üben?
Oder spritzten sie ihnen anabole Steroide oder GHB oder irgendetwas anderes, was sie aggressiv machte?
Wenn man die Antwort darauf herausbekommen könnte, würde das seinerseits vielleicht zum Täter oder zu den Tätern führen.
Alle begannen sich um das zu kümmern, was Sara von Beginn an als die Hauptspur gesehen hatte, statt über Sexskandale in der Oberschicht zu spekulieren. Jetzt setzte man alles daran, Überwachungskameras in der Umgebung des Büros abzuchecken, aus dem Antonsson verschwunden war. Man kontrollierte auch Solidaritätsgruppen, Linkssympathisanten, Entwicklungshelfer.
War früher schon mal etwas Ähnliches passiert?
Hatte jemand über so etwas im Internet diskutiert?
Man suchte sowohl in offenen Foren als auch in geschlossenen Gruppen, im Internet und im Darknet.
Mittlerweile war das Video mit Moberg und Thun auch an all diejenigen geschickt worden, die jetzt im Vorstand von Sandin Energy saßen, und im selben Augenblick war die Hölle losgebrochen. Die Videos waren in den heimischen Briefkästen der Vorstandsmitglieder gelandet, also fühlten sich jetzt auch alle bedroht und verlangten Schutz. Und brauchten ihn wahrscheinlich auch.
Jemand der aktuell Bedrohten hatte die Zeitungen angerufen, die mit der Nachricht groß herauskamen: »Noch mehr Direktorenmorde«, »Polizei ohne Anhaltspunkte«, »Mehr Opfer zu erwarten«.
Mitten im Chaos rief Ebba an und war außer sich über das, was Sara zu Tom gesagt hatte.
»Du kannst uns nicht aufhalten! Du bist nur neidisch!«, schrie die Tochter in den Hörer.
»Ich muss an das Beste für den Konzern denken. Und an das Beste für dich. Glaub mir, Ebba. Aber jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss arbeiten.«
»Du brauchst überhaupt nicht an den Konzern zu denken. Gib mir die Vollmacht, dann kann ich übernehmen. Ich bin auch Familie. Opa wollte ohnehin, dass ich übernehme.«
»Was hätte er deiner Meinung nach denn dazu gesagt, dass du als Empfangsdame ein Verhältnis mit dem verheirateten Vorstandsvorsitzenden eingehst und kurz darauf zur Vorstandsassistentin befördert wirst?«, fragte Sara mit einem Seufzer.
»Nichts! Er hat an mich geglaubt!«
Damit hatte sie an und für sich recht, Eric hatte eine enorm hohe Meinung von Ebbas Fähigkeiten gehabt. Die Frage war nur, ob es Sara war, die sich weigerte, das Potenzial ihrer Tochter zu sehen, oder ob Eric sein Enkelkind idealisiert hatte.
Als Ebba das Gespräch wütend wegdrückte, kam Anna zu Sara herein und berichtete ihr, dass die Techniker in Mobergs Haus Tabakkrümel von Zigaretten gefunden hatten. Dank des Drucks von der Säpo, die es zu einer Frage der Sicherheit des Staates machten, hatten die Kriminaltechniker Hilfe von Interpol bekommen und daraufhin feststellen können, dass sie von einer Zigarette der Marke Captain stammten. Diese Sorte wurde nur im Sudan verkauft.
Also kamen der Gesuchte oder die Gesuchten gebürtig aus dem Sudan?
Die Karma-Mitteilung, die das erste Video begleitet hatte, war in englischer Sprache geschrieben, aber Sara hatte gedacht, dass dahinter Schweden steckten, die international wirken wollten.
Da hatte sie sich wohl geirrt.
Jetzt waren alle darauf angesetzt, Informationen über Flüge, Hotels, Jugendherbergen, Mietwagen, Busse und Zugreisen einzuholen. Man suchte nach politischen Aktivisten, sowohl aus Schweden als auch aus dem Ausland, die in die Sache verwickelt sein könnten.
Sara bekam einen Anruf von einer unbekannten Nummer.
»Ja?«
»Hallo, hier Adnan Westin. Wie läuft es denn gerade mit den Ermittlungen? Habt ihr die leitende Ermittlerin ersetzt? Warum denn?«, fragte der Journalist.
»Warum fragst du danach? Du weißt doch offenbar alles, was bei diesen Ermittlungen passiert«, konterte Sara und fragte sich erneut, wie das sein konnte.
»Kannst du bestätigen, dass ihr die leitende Ermittlerin ersetzt habt? Warum? Habt ihr eine neue Spur gefunden?«
»Frag doch deine übliche Quelle.«
»Kann ich nicht. Sie …« Westin zögerte, »… weiß es nicht mehr.«
Der Inhalt dieser Worte ging Sara ganz langsam auf.
»Was zum Teufel?«, sagte sie.
»Kannst du es bestätigen?«, hörte sie Westin sagen.
»War Heidi diejenige, die dir Informationen gegeben hat?«
»Ich kann keine Quellen preisgeben, das weißt du doch«, sagte der Journalist schnell.
»Und dann hat sie so einen riesigen Aufstand veranstaltet. Aber warum denn bloß?«
»Also, ich habe hier nichts bestätigt.«
»Nur um diesen blöden Eger hier zu uns zu holen!«
Sara fluchte vor sich hin. Als sie gerade gedacht hatte, dass Heidi Hitler nicht noch tiefer sinken könnte, erreichte diese ein bislang ungeahntes Bodenniveau.
»Richte es bitte Heidi aus. Dass ich nichts bestätigt habe«, sagte Westin.
»Mach es doch selbst!«, brüllte sie und beendete das Gespräch.
Was für eine dumme Kuh, dachte Sara. Zu ihrer eigenen Verwunderung war sie aber eher amüsiert als sauer.
»Sara?«
Werkström sagte es ein bisschen zögerlich, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie den Namen mit dem richtigen Gesicht verknüpft hatte, als sie sich in den Raum beugte.
»Ja?«
»Harald Mobergs Sohn ist hier. Du bist bei seiner Frau gewesen, oder?«, fragte die Chefin.
»Ja. Anna und ich waren bei ihr.«
»Er möchte mit dir reden. Und er ist wütend.«
Sara traf Sebastian Moberg an der Rezeption. Fünfundzwanzig Jahre alt. Zurückgekämmtes Haar, ein Jackett mit Taschentuch in der Tasche und eine Breitling Superocean Heritage B20 am Handgelenk. Und eine Miene voller Verachtung für die Umwelt. Wie die Parodie eines verwöhnten Flegels. Sie führte ihn in einen der Besprechungsräume und konnte noch nicht einmal fragen, ob er einen Kaffee wollte, bevor er schon zu schreien begann.
»Wie um alles in der Welt glauben Sie, fühlt sich meine Mutter, wenn sie das Gesicht ihres Mannes auf dem Titelblatt einer Boulevardzeitung sieht?«
»Das ist leider sehr unglücklich gelaufen. Wir hatten keine Ahnung, dass sie …«, begann Sara, wurde aber sofort von Moberg junior unterbrochen, der in einem gellenden Tonfall das Wort wieder an sich zog.
»Unglücklich? Das ist mehr als unglücklich. Das ist eine verdammte Katastrophe! Was, glauben Sie, fühlt man, wenn man erfährt, dass der eigene Vater bei lebendigem Leib verbrannt wurde? Und zu wissen, dass ganz Schweden sich daran ergötzen kann? Dass die Leute grinsen und sich sagen, ›ja, so sind sie eben‹. Haben Sie überhaupt irgendwelche Spuren?«
»Wir haben Spuren. Wir haben gerade einen Durchbruch in den Ermittlungen geschafft. Das bringt zwar Ihren Vater nicht zurück, aber …«
»Nein, das tut es nicht! Und dass er tot ist, ist in jeder Hinsicht Ihr Fehler. Er ist mit dem Video zu Ihnen gekommen. Sie wussten, dass er bedroht war. Was haben Sie getan, um ihn zu schützen? Nichts!«, brüllte Sebastian Moberg, während er im Besprechungsraum hin und her lief.
»Er hat sich geweigert, unseren Schutz anzunehmen«, sagte Sara.
»In dem Fall wäre es Ihre verdammte Pflicht gewesen, ihn dazu zu zwingen! Oder finden Sie, dass diejenigen, die im Leben Glück gehabt haben, ihren Tod verdienen? Sind Sie eine neidische kleine Sozi-Kommissarin?«
»Wir tun alles, um den Fall zu lösen«, sagte Sara und schenkte sich selbst und Sebastian ein bisschen Wasser ein. »Derjenige, der Ihren Vater ermordet hat, ist ja selbst tot, aber wir sind auf dem Weg, herauszufinden, wie es so weit kommen konnte. Es scheint mehrere Beteiligte zu geben.«
»Wir sind lächerlich gemacht worden, begreifen Sie das nicht? Wissen Sie etwas über die Topschicht in diesem Land? Dort werden nur Gewinner akzeptiert. Und wer ermordet wird, ist kein Gewinner, und seine Kinder auch nicht. Es wird sich auch auf meine Karriere auswirken. Ich bin der Vorstandsvorsitzende des heißesten Start-ups von Schweden, und jetzt werden alle Investoren abspringen. Alles geht den Bach runter. Ich werde Sie deswegen verklagen.«
Plötzlich fühlte sich Sara lange nicht mehr so schuldig wie vorher.
»Papa war doch zu Hause«, sagte Sebastian, jetzt zum ersten Mal mit so etwas wie Trauer in der Stimme, beinahe schon Verzweiflung. »Und dann ist er einfach verschwunden. Wie zum Teufel konnten sie an ihn herankommen?«
»Genau das untersuchen wir.«
Boney M.s »Ma Baker« unterbrach sie, und Sara sah sich irritiert um. Sie brauchte eine Sekunde, bevor sie sich erinnerte, dass sie »Ma Baker« als Klingelton für ihre Mutter eingestellt hatte. Aber Jane musste warten. Sara holte das Handy heraus und drückte den Anruf weg. Worauf Jane direkt noch einmal anrief. Sara drückte sie wieder weg, doch Jane rief ein weiteres Mal an.
»Entschuldigen Sie«, sagte Sara zu Sebastian, der jetzt dasaß und antriebslos vor sich hin starrte. »Mama, ich bin beschäftigt.«
»Es ist etwas passiert. Etwas ganz Schreckliches.«
»Was denn?«
Sara runzelte die Stirn. Jane klang aufgeregt, beinahe ängstlich. Und sie hatte ihre Mutter noch nie zuvor ängstlich erlebt.
»Komm einfach.«
»Wo bist du?«
»Draußen.«
Sara lief los.