26

Jane stand direkt vor dem Eingang zur Polizeiwache in Solna. Sie sah unverletzt aus, dachte Sara noch. Großer Gott, war es etwas mit den Kindern?

»Was ist denn passiert?« Sara musterte ihre Mutter von oben bis unten, um nach sichtbaren Verletzungen zu suchen, falls es doch um sie ging. »Sind es die Kinder? Olle? Ebba?«

»Es ist die Familie. Aber den Kindern geht es gut. Ich habe sie angerufen, bevor ich mich bei dir gemeldet habe.«

»Aber wen meinst du denn dann? Wenn es ihnen gut geht, ist doch nichts passiert?«

»Ich kann es nicht erklären.«

»Hast du dir einfach nur etwas eingebildet?« Sara seufzte, und ihre Schultern sanken nach unten. »Scheiße, du hast mich so erschreckt.«

»Ich habe es mir nicht eingebildet. Die Madonna hat es gesagt.«

»Maradona?«

»Die Madonna. Das Heiligenbild«, sagte Jane und betrachtete ihre Tochter.

»Hat so ein Gemälde mit dir gesprochen?«

»Nein, die Madonna, die Heilige Mutter Gottes, durch ihr Bildnis.«

»Und deswegen musst du mich zu Tode erschrecken, und ich laufe los und lasse den Sohn eines Ermordeten allein? Obwohl, wenn du anfängst, Stimmen zu hören, ist es schon ziemlich bedenklich«, sagte Sara und zog eine Grimasse.

»Hast du mit Martin gesprochen?«, fragte Jane und ignorierte den Kommentar ihrer Tochter.

»Gestern. Ich habe ihm gesagt, dass ich die Scheidung will. Und dann habe ich den Antrag im Netz ausgefüllt und an ihn geschickt.«

Sara dachte über das nach, was sie gerade gesagt hatte, und betrachtete ihre Mutter, während die Worte einsanken.

»Hat er dich angerufen?«, fragte Sara. »Hat er dich gebeten, mit mir zu reden?«

»Nein.«

»Und du schiebst es auf die Madonna. Mama, ich weiß, dass du gegen Scheidungen bist. Nur weil dein geliebter Papst auch dagegen war.«

»Martin ist ein guter Mann«, sagte Jane und legte eine Hand auf ihren Arm. »Besser als jeder, den ich getroffen habe.«

»Aber jetzt sind die Kinder groß, und Martin hat so viele grässliche Dinge getan, also geht es nicht mehr. Glaub mir, du hast keine Ahnung.«

Sara wurde von dem Gedanken heimgesucht, dass sie niemals jemandem von den Dingen erzählen konnte, die Martin getan hatte, nicht einmal ihrer Mutter. Sie hatte es bislang auch nicht tun wollen, wusste auch nicht, ob sie es jetzt wirklich wollte, aber diese Einsicht sorgte trotzdem dafür, dass sie sich plötzlich noch einsamer fühlte als bisher, wenn das überhaupt möglich war. Dieser verdammte Martin mit seiner Peepshow.

»Keine Scheidung. Das wird böse enden.«

»Mama, er nimmt Drogen.« Sara dachte, dass sie so viel durchaus verraten konnte. »Er braucht Kokain.«

»Weil er nicht bei seiner Familie sein kann«, kam die prompte Antwort von Jane.

»Also ist es mein Fehler?«

»Niemand ist schuld. Es ist eben so, wie es ist. Aber man kann alles ändern. Nimm Martin zurück, lass Ebba leben, wie sie will.«

»Ebba? Hat die Madonna auch über sie gesprochen?«, fragte Sara und zog die Augenbrauen hoch.

»Sie ist zu mir gekommen. Sara, sie liebt Tom.«

»Ich habe auch Christer Sandelin geliebt, als ich zwölf war«, seufzte Sara.

»Sie ist erwachsen. Und jetzt muss sie aus ihren eigenen Fehlern lernen. Nicht aus deinen.«

»Du hast immer alles getan, um mich zu schützen, das sagst du selbst immer.«

»Aber ich habe mich nie in dein Liebesleben eingemischt. Nicht einmal, als du in Christer Sandin verliebt warst.«

Jane sah sie mit ernster Miene an.

»Sandelin. Er war ein Popstar. Und ich habe Tom schon erklärt, dass er die Beziehung abbrechen muss, wenn er seinen Job behalten will.«

»Und du musst diese Drohung zurücknehmen, wenn du deine Tochter behalten willst.«

Sara musterte ihre Mutter. Als sie klein gewesen war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass Jane sich überhaupt nicht in ihr Leben einmischte. Als würde es sie nicht einmal kümmern. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass sie es die ganze Zeit tat. Wollte Jane damit die Kindheit kompensieren, indem sie jetzt so besessen davon war, ein Teil ihres Lebens zu sein, oder hatte sie damals gedacht, dass es das Beste für Sara wäre, wenn sie sich raushielt und die Tochter ständig mit den Broman-Töchtern herumhängen ließ? Und glaubte Jane wirklich, dass es jetzt das Beste für Sara und die Kinder wäre, wenn sie sich einmischte? Sara war davon überzeugt, dass ihre Mutter nur das Beste wollte, aber sie war sich nicht so sicher, ob sie auch wirklich wusste, was das Beste für die anderen war.

Ein unbehaglicher Gedanke überfiel Sara angesichts der Madonna, die zu ihrer Mutter sprach.

War das vielleicht ein frühes Anzeichen von Demenz?

Die Kirche und der damalige Papst waren immer schon wichtig für Jane gewesen, aber sie war trotzdem die ganze Zeit extrem rational geblieben. Jetzt klang sie mehr wie Anna, wenn die Freundin über Energien und Botschaften von den Toten losbrabbelte.

»Agneta lebt«, sagte Sara schließlich. Um das Thema zu wechseln, aber auch, weil ihr klar war, dass Jane es nicht wissen konnte. Und Agneta war eine wichtige Person in Janes Leben gewesen. Im Guten wie im Bösen, so hatte Sara es verstanden. Aber ohne Agneta hätte Jane hier heute nicht gestanden. Es fühlte sich gut an, wenn man ehrlich sein konnte, zumindest bei einem Teil dessen, was in den vergangenen Monaten passiert war.

Jane sah besorgt aus. Weder froh noch traurig. Weder skeptisch noch begeistert. Einfach nur besorgt.

»Sie hat anscheinend einen russischen Oligarchen in London getötet. Ich habe Bilder gesehen.«

»Wird sie hierherkommen?«, fragte ihre Mutter.

»Weiß ich nicht. Offiziell ist sie ja tot. Ich habe keine Ahnung, wie sie in London gelandet ist.«

»Ich dachte, der Teil meines Lebens wäre vorbei.«

Fünfzehn Jahre lang hatte Jane als Haushälterin bei der Familie Broman gearbeitet. Als Dank dafür, dass sie ihr Heim für sie geöffnet hatten, als sie als Sechzehnjährige aus dem kommunistischen Polen geflohen war, hatte sie wie eine Sklavin für sie gearbeitet und mit Sara im kleinen Gästehaus am Bootsanleger der Familie gewohnt.

Sara hatte jeden Sommer mit den Schwestern Lotta und Malin gespielt und war wieder ausgeschlossen worden, sobald deren feinere Freundinnen aus den Sommerferien in Torkov oder von der französischen Riviera zurückgekehrt waren. Als sie nicht in der Gemeinschaft dabei sein durfte, hatte sie ihren Zorn über die ungerechte Behandlung an ihrer Mutter ausgelassen.

Und Jane hatte sich niemals gewehrt.

Sie hatte nur gewollt, dass Sara es so gut wie möglich hatte.

Aber als Stellan Broman begann, lüsterne Blicke auf die dreizehnjährige Sara zu werfen, hatte Jane ihre Tochter genommen und war in eine gemietete Zweizimmerwohnung in Vällingby gezogen. Wegen dieses Umzugs hatte sich Sara maßlos über ihre Mutter geärgert, bis zum letzten Sommer, als sie den Grund für den Wegzug erfahren hatte.

Es sah fast so aus, als würde Jane davon ausgehen, dass sie irgendwie zurück in dieses Leben gezwungen wurde, solange Agneta noch lebte. Warum sollte sie sonst so besorgt aussehen?

»Aber Mama, du musst dir doch über sie keine Gedanken mehr machen«, sagte Sara und machte einen Schritt auf sie zu.

»Sara«, sagte Jane und sah ihrer Tochter direkt in die Augen. »Wenn du die Chance hast. Töte sie.«