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»Untersucht alle Kameras, alle Taxiunternehmen, Hotels, Jugendherbergen!«

»Hilfsorganisationen, sudanesische Vereine …«

»Alle afrikanischen Vereine!«

»Gehen wir in die Medien?«

»Noch nicht. Micke, sorg dafür, dass alle Beteiligten Ausdrucke der Bilder bekommen, damit sie sie den Leuten zeigen können.«

Als Sara in die Wache zurückkam, herrschte vollständiges Chaos. Alle schrien einander an, und Sebastian Moberg war offensichtlich gegangen, nachdem er auf die Empfangsdame gespuckt hatte, die er im Vorübergehen »verdammte Bolschewikenschlampe« genannt hatte. Unglücklicherweise hatte Svetlana einen hörbaren russischen Akzent und war jetzt außer sich über den Angriff, aber niemand hatte Zeit, sie zu trösten. Auf einer Passagierliste hatte Anna nämlich einen Sudanesen gefunden, der ein paar Tage zuvor am Flughafen Arlanda eingetroffen war und in der Organisation »Justice for Sudan« aktiv war. »JfS« kämpfte für die Anerkennung derjenigen, die Verstößen gegen das Völkerrecht zum Opfer gefallen waren, als die Einwohner von dem Land vertrieben wurden, für das die Ölfirmen Zugang beanspruchten. In den Texten auf der Homepage der Organisation gab es eine Liste von Firmen, die sie für die Morde und Übergriffe verantwortlich hielten. Und unter diesen Firmen fand sich auch Sandin Energy. Für die Ereignisse im Jahr 2005 .

Die Spur war natürlich extrem interessant. Nun galt es also herauszufinden, welchen Weg dieser Sudanese genommen hatte und wo er sich jetzt befand.

War er von jemandem empfangen worden? Und wenn ja, von wem?

Hatte er etwas mit den toten Aufsichtsratsmitgliedern zu tun? Wie war er in diesem Fall an sie herangekommen?

Sara erinnerte sich an alles, was sie über die schwedischen Mithelfer der deutschen Terroristen in den Siebzigerjahren gelesen hatte. Als sie die westdeutsche Botschaft besetzt und gesprengt hatten und als einer von ihnen geplant hatte, die sozialdemokratische Ministerin Anna-Greta Leijon zu entführen. Sie wies daher darauf hin, dass sie nach schwedischen Kontakten und Helfern suchen sollten. Welche Organisationen gab es? Hatte jemand schon Aktionen zu dem Thema unternommen? Demonstrationen? Sabotage?

Sara las auch über den Mann, den Anna gefunden hatte.

Omar Kush war ein ehemaliger Kindersoldat, der seine Familie bei den Vertreibungen 2005 verloren hatte und Offizier in der Guerillagruppe geworden war, die nach der Gründung des Landes im Jahr 2011 zur regulären Armee des Südsudans wurde. Dank einer humanitären Organisation hatte Omar Hilfe bekommen, seine eigene Brutalität zu bekämpfen, für die er als Kindersoldat berüchtigt gewesen war, berichtete er auf der Homepage. Jetzt stritt er stattdessen für die Anerkennung der Opfer von 2005 .

Über JfS hatte Kush versucht, die Welt auf das aufmerksam zu machen, was damals passiert war. Er hatte sich an die UN gewandt, an Amnesty International, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Und er hatte eine Reihe von Firmen angezeigt, die er für den Tod seiner Eltern und Geschwister verantwortlich machte, aber nichts war passiert. Die wenigen Untersuchungen, die eingeleitet wurden, kamen schnell zu dem Schluss, dass hier ein Wort gegen das andere stand und nichts bewiesen werden konnte. Viele Firmen, nicht zuletzt Sandin Energy, hatten Millionen von Dollar an Advokaten bezahlt, mit deren Hilfe diese Anklagen abgewehrt wurden.

»Ein ehemaliger Kindersoldat, der selbst sagt, dass er schrecklich gewalttätige Verbrechen begangen hat«, meinte Carro und breitete die Arme aus.

»Aber er sagt auch, dass er eine Behandlung gegen diese Brutalität bekommen hat«, wandte Anna ein.

»Aber auch, dass sich niemand in der westlichen Welt um diese extreme Gewalt im Sudan geschert hat. Er ist wütend, dass die Schuldigen nicht zur Verantwortung gezogen wurden.«

»Und dann ist er auch noch schwarz. Das ist ja verdammt praktisch.«

Eger Nilsson hatte kein Wort gesagt, seit Werkström Heidi ersetzt und die Richtung der Ermittlungen geändert hatte. Aber jetzt spuckte er seinen höhnischen Protest geradezu heraus.

»Was meinst du damit?«, fragte Werkström und runzelte die Stirn.

»Dass es der schwarze Mann ist, der die Schuld bekommt. Schon wieder. Ich schäme mich dafür, Polizist zu sein.«

Eger gestikulierte mit den Händen, als wollte er damit verdeutlichen, wie unglaublich diese Scham war.

»Niemand hat die Schuld bekommen«, sagte Werkström. »Aber wir müssen einen Mann untersuchen, der persönlich von den Übergriffen betroffen war, die den mittlerweile Getöteten zur Last gelegt werden sollten. Besonders dann, wenn es ein Mann mit erhöhtem Gewaltpotenzial ist.«

»Ja, natürlich müssen wir das. Denn dort haben wir ja einen Täter, wie wir ihn uns wünschen. Einen gefährlichen schwarzen Mann«, wiederholte Eger ironisch.

»Meinst du im Ernst, dass wir davon Abstand nehmen sollten, diese Spur zu verfolgen?«

»Um stattdessen nach den wahren Schurken zu suchen? Ja, das meine ich. Es geht hier um Gesellschaftsstrukturen. Und die hat sich bestimmt nicht dieser arme Kush ausgesucht.«

»Also wenn er auf irgendeine Weise in diese Todesfälle verwickelt ist, dann ist er trotzdem nicht verantwortlich für seine Handlungen?«

Werkström betrachtete mit kaum verhohlenem Widerwillen den schmierigen Mann vor sich.

»Er ist derjenige, zu dem wir ihn machen«, predigte Eger.

»Das heißt ja praktisch, dass wir ganze Volksgruppen als unmündig erklären?«

»Das heißt, dass wir die Verantwortlichen herausfinden müssen. Die wahren Schurken.«

»Wir Weißen?«

Inzwischen folgte die gesamte Ermittlungsgruppe dem Meinungsaustausch mit großem Interesse.

»Unser Wohlstand gründet auf der Unterdrückung und der Ausbeutung der Dritten Welt. All das hier …«, Eger deutete in alle Ecken des dürftigen Besprechungsraums, »… wird vom Blut der Dritten Welt finanziert. Kinderarbeit, Sklaven, Diebstahl und Plünderung der Bodenschätze.«

»Damit hast du bestimmt recht, aber das hat nichts mit diesen Ermittlungen zu tun«, seufzte ihre Chefin.

»Das hat verdammt noch mal alles mit diesen Ermittlungen zu tun. Als Polizisten sollten wir the good guys sein, wir sollten die Welt besser machen, nicht dafür kämpfen, die kapitalistische Unterdrückung aufrechtzuerhalten.«

»Wenn du die Prioritäten nicht akzeptierst, die ich als leitende Ermittlerin vorgebe, schlage ich vor, dass du deine Versetzung beantragst«, sagte Werkström. »Das hier ist ja ohnehin nur eine zeitweilige Zuordnung. Göteborg möchte dich bestimmt zurückhaben.«

»Ja, das ist eine verdammt bequeme Lösung!«, brüllte Eger. »Schüttelt den Verkünder der Wahrheiten einfach ab, damit ihr damit weitermachen könnt, euch in den Brotkrumen vom Tisch der Kapitalisten zu suhlen.«

»Gibt es hier noch andere Extremisten, die ein bisschen Propaganda loswerden wollen?«, fragte Werkström und sah sich im Besprechungsraum um. »Ein Libertärer vielleicht? Ein Flacherdler? Impfskeptiker? Abtreibungsgegner? Oder vielleicht auch nur ein alter, ehrenwerter Neonazi? … Nein? Dann schließen wir für heute die Speaker’s Corner und wenden uns wieder unserer Arbeit zu.«

Saras Handy brummte. Marie. Nicht jetzt, dachte Sara und drückte die Schwiegermutter weg. Die Ex-Schwiegermutter in spe.

Sollte Sara ihr Mandat bei Titus & Partners abgeben, wenn sie sich von Martin scheiden ließ? Sie glaubte nicht, dass Martin oder Marie dafür geeignet waren, die Verantwortung zu übernehmen, aber entweder konnten sie es ja so machen, wie Sara es tat, und einfach alle Papiere unterschreiben, die Tom ihnen vorlegte, oder Sara konnte sie bitten, die Vollmacht an Ebba zu geben.

Falls Tom Ebba behielt.

Tom und Ebba, ja.

Saras Forderung war bedingungslos gewesen. Konnte sie jetzt davon zurücktreten?

Oder machte es einen Unterschied, wenn Ebba nicht operativ arbeitete, sondern nur für die Eigentümerfamilie unterschrieb?

Sara sah ein, dass es eine idiotische Idee gewesen war, Tom mit dem Rauswurf zu drohen. Wer sollte den Konzern leiten, wenn Tom verschwand? Er war für mehr als ein Jahrzehnt Erics rechte Hand gewesen.

Marie rief erneut an, und Sara drückte sie erneut weg. Sie musste arbeiten, und nur weil die Schwiegermutter anrief, begann Sara an alle möglichen privaten Probleme zu denken, die ihr Kopfschmerzen bereiteten und den Fokus von den Ermittlungen zogen.

Das Dissen half nichts. Marie rief sofort wieder an.

Verdammt, jetzt war sie wirklich irre geworden.

Sara drückte sie erneut weg und dachte darüber nach, ob sie Marie nicht blocken sollte. Aber jetzt kamen keine weiteren Anrufe mehr.

Stattdessen rief nach wenigen Minuten Ebba an. Großer Gott, was war denn heute mit allen los, dass sie unbedingt mit ihr sprechen wollten? Sara drückte auch ihre Tochter weg.

Nach ein paar Sekunden kam eine SMS von Ebba.

»Oma hat angerufen. Papa ist tot!«