Erst ließ sie die Finger an seinem Hals herabgleiten, und dann drehte sie ihn in die Bauchlage um, damit das, was nach oben kam, ihm nicht in der Kehle hängen bleiben konnte.
Ein bisschen Galle und eine halb verdaute Tablette.
Während sie Herz-Lungen-Wiederbelebung betrieb, rief sie erneut die 112 an.
Wo zum Teufel blieb der Rettungswagen?
Wenn Marie direkt an ihn gedacht hätte, wären sie wesentlich schneller hier gewesen.
Sara war davon ausgegangen, dass Martin einfach nur high war, und war zu Titus’ Haus gefahren, um die hysterische Marie zu beruhigen.
Aber Martin hatte offensichtlich versucht, sich das Leben zu nehmen.
Sara fand eine Packung mit roten Morphinkapseln, das hieß Zweihundert-Milligramm-Dosen, von denen ihr Mann so viele wie möglich verschluckt hatte.
Er hatte neues Morphin vom Familienarzt verschrieben bekommen.
Von diesem verdammten Etzner.
Vielleicht war Martin zum Morphin zurückgekehrt, weil sein Dealer sich nach dem Verbot von George geweigert hatte, ihm Kokain zu verkaufen.
Für einen erwachsenen Mann, der keine Toleranz entwickelt hatte, waren zweihundertfünfzig Milligramm eine tödliche Dosis. Die Frage, die Sara jetzt endlos im Kopf herumfuhr, lautete, wie viel Toleranz Martin mit seinem Missbrauch erarbeitet hatte und wie viel von dem, was er verschluckt hatte, er von selbst wieder ausgespuckt hatte.
Als Sara eintraf, lag ein Haufen Erbrochenes mit jeder Menge Pillen auf dem Bett neben seinem Mund. Aber waren das alle? Wie viele waren noch im Körper geblieben, und wie viele vertrug er?
Sara machte eine Pause und betrachtete Martin. Drückte die Angst und die Panikgefühle weg. Dafür gab es jetzt keine Zeit.
Atmete er?
Sara war sich nicht sicher.
Sie glaubte es, aber als sie jetzt zum ersten Mal Herz-Lungen-Wiederbelebung an einem Nahestehenden betrieb, fühlte es sich an, als könnte sie nicht klarsehen und richtig beurteilen, wie er reagierte.
Neben Martin lag auch eine ausgedruckte Kopie des Scheidungsantrags, den Sara ihm gemailt hatte.
Versuchte er, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen? Oder wollte er sie dazu bewegen, ihn zurückzunehmen? In diesem Fall wäre das eine höchst riskante Vorgehensweise.
Wie sollte sie es den Kindern erzählen?
Was sie ihnen sagen würde, hing ja davon ab, wie es lief.
»Euer Vater hat versucht, sich das Leben zu nehmen« oder »Euer Vater hat sich das Leben genommen«. Ein riesiger Unterschied.
In welchem Fall auch immer, sie musste von Martins Drogen erzählen, sonst würde sie selbst als vollkommen herzlos dastehen, weil sie sich scheiden lassen und ihn niemals zurücknehmen wollte. Ein Selbstmordversuch warf die Schuld immer auf den Partner, oder meistens jedenfalls. Und Sara hatte diese ganzen Lügen so bis ins Mark satt.
»Papa!«
Der Schrei war herzzerreißend, und bevor Sara sich umdrehen konnte, war Ebba in das Zimmer gestürmt und hatte sich neben ihren bewusstlosen Vater geworfen.
»Vorsicht«, war alles, was Sara sagen konnte, bevor sie ihre Tochter zur Seite schob und mit der Beatmung weitermachte. Während sie die Hände auf Martins Brust drückte und bis dreißig zählte, meldete sich eine Erinnerung. Eine Urlaubsreise nach Zypern, die Martin und sie unternommen hatten, als die Kinder ein paar Jahre alt gewesen waren. Der erste Urlaub, nachdem sie Eltern geworden waren, und es war ein einziges Chaos gewesen. Der Schlafrhythmus, der nicht passte, feiernde Nachbarn und kein Zugang zu einer Mikrowelle, um das mitgebrachte Essen aufzuwärmen. Trotzdem erinnerte sie sich mit Wehmut an die Reise. Sie hatten gemeinsam gekämpft. Und gerade weil es so anstrengend gewesen war, hatten sich die ruhigen Stunden in der Sonne am Pool in Saras Gedächtnis eingeätzt, mehr als bei allen superluxuriösen Urlauben, die sie später gemacht hatten. Kleine gestohlene Augenblicke des Glücks, in denen sie, vollkommen ermattet vom Schlafentzug, das Wunder in sich aufnahmen, das sie geschaffen hatten: ihre ganz eigene, wunderbare, chaotische, fantastische Familie.
»Was ist passiert?«, fragte Ebba weinend und nahm die schlaffe Hand ihres Vaters.
»Er hat die falschen Pillen genommen«, sagte Sara verbissen. Sie wollte ihre Tochter trösten, sagen, dass alles wieder gut würde, aber Martin schwebte immer noch in Lebensgefahr und brauchte ihre Hilfe.
Erst jetzt schien Ebba das Erbrochene aufzufallen. Sie zog eine Grimasse, schien in gleichem Ausmaß angeekelt und erschrocken zu sein. Dann hob sie die Pillenschachtel auf und sah sie an.
»Was ist das?«
»Morphin«, sagte Sara. Sie konnte nicht darüber nachdenken, ob sie besser lügen sollte. Sie konnte überhaupt nicht nachdenken.
»Wessen denn?«, fragte Ebba, bekam aber keine Antwort. Dann sah Sara, wie Ebba den ausgedruckten Scheidungsantrag hochhob. Er war von Sara unterschrieben, aber nicht von Martin. Ebba sah von dem Papier zu ihrer Mutter, bekam zuerst aber kein Wort heraus. Dann wuchs der Zorn in ihren Augen. »Wie ekelhaft!«, war alles, was sie schließlich ausspuckte.
Endlich traf der Rettungswagen ein. Ebba forderte, dass sie mitfahren durfte, und es wurde ihr gestattet. Sara hatte weder die Lust noch die Kraft. Sie konnte nicht einmal entscheiden, was sie wollte oder sollte.
Sara stand auf der Treppe des Hauses und sah dem Rettungswagen hinterher, als er mit ihrem Mann und ihrer Tochter verschwand. Ihr ganzes Leben bis zum heutigen Tag. Sie drehte sich um und wollte zu Marie hineingehen, doch ihr Blick blieb an der Haustür hängen und dem, was dort stand.
Der Name Titus.
Auch nach dieser Tragödie fuhr das Namensschild fort, mit seinem blanken Messing den Anschein zu erwecken, als würde hier eine rechtschaffene Familie wohnen.
Nichts konnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, dachte Sara, während sie das Heulen des Rettungswagens durch die Luft schneiden hörte.