»Spasiba.«
Agneta nahm ihr halbes Pint Guinness und wandte sich ab, um zu ihrem Tisch zurückzugehen.
»Vy russkij?«, sagte eine ältere Frau, die direkt hinter Agneta stand. »Bist du Russin?« Sie sagte es mit gleichzeitig neugieriger und mitleidiger Stimme.
»Ja, aber das ist lange her«, sagte Agneta und lächelte. »In einem anderen Leben.«
»Hier dasselbe. Ludmila.«
Ludmila streckte ihre Hand aus, und Agneta schüttelte sie.
»Ilena«, sagte sie.
Ludmila war klein gewachsen, mit munteren braunen Augen. Die Haare lagen in einem Pagenschnitt um ihr Gesicht. Sie trug einen grauen Hut und behielt den moosgrünen Mantel auch im Pub an. Klassische Kleidung, klassische Frisur. Ihre Erscheinung wäre genauso gut in die Sechziger- oder Dreißigerjahre geschmolzen wie in die Gegenwart.
»Was machst du hier in Fen Ditton?«, fragte Ludmila. »Ich glaube, ich habe hier noch nie eine Russin gesehen.«
»Und trotzdem haben sie Borschtsch auf der Speisekarte.«
»Das liegt an mir und meinem Mann. Borschtsch ist das Einzige, was ich aus Russland vermisse.«
»Ihr wohnt also hier?«, fragte Agneta und betrachtete die andere Frau interessiert.
»Seit dreißig Jahren. Und du, was führt dich hierher?«
Ludmila war offensichtlich sehr neugierig. Agneta dachte darüber nach, wie man seine Neugierde in einem so winzigen Kaff wie diesem befriedigen konnte, aber vielleicht war es gerade der Mangel an Ereignissen, der dafür sorgte, dass alles, was passierte, so viel interessanter wirkte.
»Ich wollte einfach mal nur für eine Weile weg. Ein bisschen durchatmen«, sagte sie nach einer kurzen Pause.
»Da bist du ja an den richtigen Ort gekommen. Hier findet dich niemand.«
»Gut.«
»Bist du allein? Möchtest du dich zu uns setzen? Oder lieber ungestört bleiben?«
Als Ludmila sie anlächelte, erschien eine kleine Lachfalte auf der einen Wange.
»Ich bin schon die ganze Zeit so ungestört. Es wäre nett, mit jemandem zu plaudern, noch dazu mit Landsleuten im Exil.«
Ludmila führte Agneta zu einem Tisch in der Ecke des kleinen Pubs Kings Head. Dort saß ein Mann, der ebenfalls ein gutes Stück über siebzig sein musste. Er hatte nicht das freundliche Lächeln seiner Frau, sondern sah eher düster aus. Er hatte ebenfalls den Mantel anbehalten, die Mütze allerdings auf den Tisch gelegt. Ludmila stellte die zwei Gläser mit Bier, die sie gekauft hatte, auf den Tisch. Ein ganzes und ein halbes Pint. Lager. Keine Chips.
»Maksim, ich habe eine Russin getroffen«, sagte sie. »Ilena.«
»Ehemalige Russin«, sagte Agneta auf Englisch. »Meine Familie ist ins Ausland gezogen, als ich klein war. Mein Russisch ist also nicht so gut.«
»Schade. Es ist so eine hübsche Sprache«, sagte Maksim und streckte die Hand aus.
»Auch hübsche Sprachen können schreckliche Dinge ausdrücken.«
»Wie wahr.«
Agneta setzte sich zu dem Paar, sah aber zu, dass hinter ihrem Rücken eine Wand war und sie gute Sicht auf die Church Street vor den Fenstern hatte. Es gab nur eine Tür, aber sie hatte den Eindruck, dass man auch durch die Küche nach hinten herauskommen konnte. Dort streckten sich die Gärten und die Äcker auf eine Weise aus, die eine freie Flucht ermöglichte. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme hatte sie ein Fahrrad hinten am Stanbury Close abgestellt.
Aber sie glaubte nicht, dass man sie hier finden würde. Fen Ditton hatte siebenhundertsiebenundvierzig Einwohner und war der Umwelt unbekannt. Sie konnte durchatmen.
Agneta hatte sich ein Zimmer im Pub Ancient Sepherds für einen ganzen Monat gemietet. Sie hatte gesagt, dass sie um ihren Mann trauere und für eine Weile Ruhe und Besinnung bräuchte, und dafür hatte das freundliche Personal volles Verständnis geäußert. Daraufhin hatte Agneta ihr Zimmer mit Bewegungsdetektoren, Kameras und leicht zugänglichen Waffen ausgerüstet, die gleichzeitig nicht mit dem Zimmerservice kollidierten. Sie wusste nicht, ob ein Monat hier reichen würde, aber es wäre eine einfache Sache, den Aufenthalt zu verlängern, wenn es nötig wäre.
»Ich wollte länger hierbleiben«, erzählte sie ihren neu gefundenen Freunden. »Was gibt es denn für Sehenswürdigkeiten? Am liebsten würde ich nicht nach Cambridge hineinfahren.«
»Hier im Dorf haben wir … ja, das Kriegerdenkmal vom Ersten Weltkrieg, direkt hier vor dem Pub. Die Kirche auf der anderen Seite der Straße, und … dann ist es wohl der Fluss, die Cam. Der ist sehr hübsch«, sagte Ludmila und warf einen Blick zu ihrem Mann, der bekräftigend nickte.
»Ihr habt hier nie irgendwelche Russen gesehen? Kommen denn andere Touristen hierher?«
»Ein paar lokale Touristen aus Städten in der Nähe. Aber meistens sind es Leute, die Cambridge besuchen wollen und hier ein Zimmer buchen, weil es so nah ist.«
»Also kaum Leute, die ihr nicht kennt?«, fragte Agneta und trank einen Schluck Bier, während sie die Tür im Auge behielt.
»Nein. Aber wir grüßen auch die. Das ist der Vorteil bei einem so kleinen Dorf. Alle sind freundlich und grüßen einander.«
Und kannte man ein lokales Paar, hatte man den Vorteil, es sofort zu erfahren, wenn Fremde ins Dorf kamen.
Eine gute Sicherheitsmaßnahme. Man fühlte sich behütet.
Hier könnte sie eine Weile bleiben.
Richtig lange sogar, wurde Agneta bewusst.
Für immer?
Hier würde niemand sie finden.
Und Ludmila könnte ihre Freundin werden. Sie hatte noch nie eine Freundin gehabt.
Agneta lachte in sich hinein, als ihr dieser ungewohnte Gedanke kam, aber als er sich erst einmal festgesetzt hatte, ließ er sie nicht mehr los.
Ja, warum denn nicht, überlegte sie. Warum nicht hier in Fen Ditton bleiben? Genug Geld hatte sie zur Seite geschafft.
Wenn sie sich entschied, hierzubleiben, brauchte sie einfach ihren deutschen Führungsoffizier nicht mehr zu kontaktieren, und wenn sie sich entschied, weiterzumachen, hatte sie alles, was sie brauchte. Ihre schreckliche Waffe und ihren Plan.
Agneta hatte niemals geglaubt, dass sie diesen Gedanken denken könnte, aber jetzt war die Idee geboren. Sie versprach sich selbst, ihn nicht fallen zu lassen, sondern gründlich zu überdenken.
Aber erst nach einem gemütlichen Abend mit den Popows.