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Von den roten Ziegelbauten am Retzius väg, wo die Rechtsmedizin untergebracht war, ganz in der Nähe des Karolinska-Krankenhauses in Solna, bis zu einer Dachwohnung am Hornstull in Södermalm. Vom Ort, an dem der tote »Felix« obduziert wurde, bis zu dem, wo er gewohnt hatte, als er noch lebte.

Die Hornsbruksgatan lief dort an der Högalidskirche entlang, zwischen dem Kirchhof und der Hornsgatan. Ganz oben in der Nummer 13 wohnte die Journalistin Hanna Nilsdotter in einer renovierten Mietwohnung, zusammen mit ihrem dreiundzwanzigjährigen Sohn Sigge. Dieser Sigge war identisch mit dem Felix, der den Anruf bei Justice for Sudan – Schweden beantwortet hatte.

Als Eger Nilsson losgelegt und die Polizei beschuldigt hatte, diesen Fall als Entschuldigung dafür zu nehmen, Linksradikale aus dem Weg zu räumen, hatte Werkström ihn schließlich ausgesperrt. Deshalb waren sie ein Mann weniger, konnten im Gegenzug aber ungestört arbeiten.

Jetzt saßen Sara und Anna in einem großen Wohnzimmer mit einer Terrasse zum Garten und der Högalidskirche vor den Küchenfenstern. Sie hatten keinen Kaffee angeboten bekommen, und dafür waren sie dankbar.

Beim Verkünden der Todesnachricht war Hanna Nilsdotter vollständig zusammengebrochen. Sie hatte zwanzig Mal gefragt, ob sie sich wirklich sicher seien, und dann hatte sie die Jacke ihres Sohns aus dem Flur geholt und sie umarmt, während sie tonlos die Fragen der Polizistinnen beantwortete.

Dass sie sich bei Felix’ wirklicher Identität so sicher waren, lag an Sigges Fingerabdruck, der bei der Polizei registriert war, seit er bei einigen Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Neonazis festgenommen worden war. Sigge war aktives Mitglied der Antifaschistischen Aktion gewesen, und die Mutter erzählte ihnen, dass sie sich oft Sorgen gemacht habe, wenn er sich in seiner schwarzen Kleidung und einer Tasche, in die sie nicht hineinsehen durfte, auf den Weg gemacht habe. Gleichzeitig war sie unendlich stolz darauf gewesen, dass ihr Sohn den Kampf gegen die Nazis tatsächlich aufgenommen hatte. Sonst tat ja niemand etwas. Die Nazis wurden immer stärker, und jetzt bildeten sie praktisch die zweitgrößte Partei im Land, und als Sigge und seine Freunde versuchten, ihre Ausbreitung zu verhindern, seien oft sie diejenigen gewesen, die von der Polizei verhaftet wurden.

»Und jetzt haben sie ihn umgebracht«, sagte Hanna und weinte noch heftiger.

»Wir haben bis jetzt noch keine Anhaltspunkte, wer der Täter oder die Täter sind«, betonte Anna schnell. »Aber im Augenblick gibt es nichts, was auf Rechtsextreme hindeutet.«

»Wer sollte es denn sonst gewesen sein? Wie ist er denn ums Leben gekommen? Musste er leiden?«

»Er wurde erschossen«, sagte Sara und fragte sich, wie es sich für eine Mutter anfühlte, wenn man so etwas über ihren Sohn sagte. Wie hätte sie selbst reagiert, wenn Olle erschossen worden wäre? Im letzten August hatte jemand in die Wohnung geschossen, während Olle zu Hause war, und sie versuchte alles, um es zu verdrängen, aber die Erinnerung war höchst lebendig in ihr. Glassplitter auf dem Boden, die Erkenntnis, dass jemand ihrer Familie schaden wollte. Die Angst und die Machtlosigkeit, die sich ständig bemerkbar machten, und dann die zehrende Wut. Gefühle, die immer noch in ihr nachwirkten.

»Ihr Sohn hat sich für eine Organisation namens Justice for Sudan engagiert«, sagte Anna und warf ihrer Kollegin einen kurzen Blick zu. »Wissen Sie etwas darüber?« Jetzt hatte sie sich wieder an Hanna Nilsdotter gewandt.

»Nein. Es gab so viele Sachen, bei denen er aktiv war. Er hasste Ungerechtigkeit.«

»Wie kam es dazu?«

»Wie es dazu kam? Dass er reagierte, wie alle reagieren sollten? Ja, er hat wohl eine Erziehung genossen, die ihn gelehrt hat, dass alle Menschen gleich viel wert sind.«

Hanna Nilsdotter breitete die Arme aus, bevor sie hörbar in eine Papierserviette schnäuzte.

»Es gab kein besonderes Ereignis?«

»Wirklich ernsthaft begann es, nachdem Sigge ein Buch über die Göteborgskrawalle beim EU -Gipfel 2001 gelesen hatte. Da war er fünfzehn, glaube ich. Er war so wütend darauf, wie die Polizei sich benommen hatte. Ja, entschuldigen Sie, aber das waren ja nicht Sie. Oder waren Sie dabei?«

»Wir hatten dort keinen Dienst. Aber ich glaube, dass das Bild komplizierter ist, als viele es sich vorstellen«, sagte Sara, bevor Anna das Gespräch wieder auf das Opfer lenkte.

»Sigge hat in der letzten Zeit viele Anrufe aus dem Südsudan bekommen, hat er etwas darüber gesagt? Oder überhaupt etwas über den Südsudan?«

»Nein. Aber ich weiß, dass er mehrere Handys hatte. Und wenn es an einem von ihnen klingelte, ging er in sein Zimmer hinauf und redete dort.«

Hanna Nilsdotter zeigte zur Decke, und als sie der Geste mit den Blicken folgten, sahen sie eine kleine Holztreppe, die zu einer Öffnung in der Decke führte.

»Dort oben ist sein Zimmer?«

»Ja. Eine kleine Mansarde, die mein Ex-Mann gebaut hat, als wir Sigge ein eigenes Zimmer geben wollten. Damals war das hier schon zu einer Eigentumswohnung geworden, also konnten wir machen, was wir wollten. Und Anders sah es als eine Investition. Also, Anders ist mein Ex-Mann.«

»Haben Sie jemals gehört, dass Sigge den Namen Felix verwendete?«, mischte sich Sara ein.

»Nein. Für wen denn?«

»Für sich selbst.«

»Nein«, sagte Hanna Nilsdotter und schüttelte entschlossen den Kopf.

»Ich kann verstehen, dass es ziemlich aufwühlend sein kann, wenn man an die Umstände denkt, aber unsere Techniker müssen Sigges Zimmer durchsuchen. Und vielleicht auch den Rest der Wohnung«, erklärte Anna.

»Warum denn?«

»Um Spuren zu finden. Es könnte hier etwas geben, das zu seinem Mörder führt.«

»Aber sie räumen doch hoffentlich hinter sich auf? Sigge möchte nicht, dass man an seine Sachen geht.«

Auf dem Weg zurück zur Wache erfuhren Sara und Anna, dass Göran Antonsson gefunden worden war. Der verschwundene Vorstandsvorsitzende war vor seiner Bewachung geflohen und hatte sich in der Jagdhütte des Unternehmens in den Bergen versteckt. Dort war er von dem Hausmeister gefunden worden, den das Unternehmen angeheuert hatte, um nach dem Gebäude zu sehen, und der am Samstagvormittag seine Geliebte dorthin mitgenommen hatte für ein Wochenende im Zeichen der Liebe. Anna und Sara konnten ein bisschen durchatmen.

Als sie wieder in der Wache waren, berichtete Leo, dass sie vielleicht das Auto gefunden hätten, das Kush in Arlanda abgeholt hatte. Sara und Anna übernahmen die Aufgabe, denjenigen zu befragen, der das Auto geliehen hatte.

In einem charmanten roten Haus am Tistelvägen 34 in Enskededalen wohnte Fredrika Hagtoft mit ihren zwei Töchtern Thea und Ophelia, einundzwanzig beziehungsweise neunzehn Jahre alt. Fredrika war künstlerische Leiterin der Bühne des Stadttheaters in Skärholmen, und ihre älteste Tochter Thea hatte einen dunkelblauen Audi A6 Avant gemietet, bei dem Peter und Carro nach einer genaueren Besichtigung bei der Mietwagenfirma Schrammen an den Schrauben feststellen konnten, die die Nummernschilder festhielten. Als hätte sie jemand ausgetauscht und dann wieder zurückgeschraubt.

Fredrika ließ Anna und Sara mit Thea sprechen, aber nur unter der Bedingung, dass sie danebensitzen und alles aufnehmen konnte.

Die Tochter gestand, dass sie den Wagen gemietet hatte, leugnete aber, dass sie mit ihm in Arlanda gewesen war.

Und Fredrika sagte, dass die Polizistinnen damit die Antworten auf ihre Fragen bekommen hätten, also sollten sie jetzt nett sein und die Familie in Ruhe lassen. Ansonsten würde sie mit ihren Journalistenfreundinnen reden. Sie erklärte, dass sie Leute bei den Radionachrichten Ekot und bei Dagens Nyheter kannte.

»Ja, ja«, sagte Sara und ließ den Blick auf Thea gerichtet. »Warum hast du denn das Auto gemietet? Deine Mutter hat doch auch ein Auto.«

»Ich wusste nicht, ob ich es leihen durfte. Mama ist nicht ans Telefon gegangen, als ich anrief, um sie zu fragen.«

»Wozu brauchtest du denn das Auto?«

»Ich wollte zu Ikea fahren«, sagte die Einundzwanzigjährige und zog einen Schmollmund. Auffallend süß, und sie schien es auch zu wissen, dachte Sara.

»Zum Einkaufen?«, hakte Anna nach.

»Duftkerzen.«

»Dafür kann man den Ikea-Bus nehmen.«

»Ich leide unter Klaustrophobie. Ich kann nicht Bus fahren«, sagte Thea, und die Mutter legte eine beschützende Hand auf die Schulter der Tochter.

»Aha. Du hast also ein Auto gemietet, nur um zu Ikea zu fahren?«

»Ja«, sagte Thea, und es gelang ihr, in diese kurze Silbe einen triefenden Sarkasmus hineinzulegen.

»Und als du mit einem Mietwagen zu Ikea gefahren bist, um Duftkerzen zu kaufen, hast du einen Abstecher nach Arlanda gemacht?«

Fredrika stand auf.

»Jetzt reicht es.«

»Thea«, sagte Sara und ignorierte Fredrikas Ermahnung. »Sigge ist tot. Ermordet.«

»Wer?«

»Sigge. Du kanntest ihn vielleicht als Felix.«

Sara sah, dass die Worte einen Effekt hatten, aber Thea sagte nichts, sondern schob nur trotzig das Kinn vor.

»Bist du auch aktiv bei Justice for Sudan?«, fragte Anna.

»Ich sympathisiere mit ihnen. Aber was hat das damit zu tun?«

»Felix hatte Kontakt mit einem Mann namens Omar Kush, demselben Mann, den du in Arlanda abgeholt hast.«

»Ich habe niemanden in Arlanda abgeholt«, sagte Thea.

»Hast du jemandem den Wagen geliehen?« Das kurze Schweigen war vielsagend, die junge Frau sah ertappt aus. »Wem?«

»Ich bin zu Ikea gefahren und dann wieder nach Hause, anschließend habe ich den Wagen zurückgegeben.«

»Thea, jetzt hör mir mal zu«, sagte Sara und beugte sich vor. »Felix ist ermordet worden. Und vier weitere Personen sind auch tot. Hier sind gefährliche Menschen am Werk.«

»Die gefährlichsten Menschen sind die von Sandin Energy. Wie viele haben die denn ermordet?«

Sie gaben auf.

Sara bemerkte, dass Anna eine Aufnahme von Thea Hagtoft gemacht hatte, ohne dass die militante Mutter es bemerkt hatte. Gute Arbeit.

Auf dem Weg zurück in die Stadt beschlossen sie, dass sie beantragen sollten, Theas Handy abzuhören, weil es wahrscheinlich war, dass sie Kontakt zu anderen Aktivisten aufnehmen würde und die Spuren sie zu denjenigen führen würden, die hinter dem Ganzen steckten. Vielleicht auch zu Omar Kush.

Anna bog von der Centralbron ab, umrundete das Sheraton und nahm die Vasabron nach Gamla Stan. Sie ließ Sara am Kornhamnstorg aussteigen und fuhr anschließend nach Hause. Schon bevor Sara die Autotür zugeschlagen hatte, sah sie, wie Anna die Kurzwahltaste für Lina auf ihrem Handy drückte, das neben dem Radio befestigt war. Sara fragte sich, wie es zwischen den beiden eigentlich lief. Dann fiel ihr ein, dass sie im Grunde gerne etwas mit der Freundin an diesem Abend unternommen hätte, wo doch Samstag war, aber Anna hatte offenbar nicht einmal den Gedanken gehabt, Sara zu fragen. Sie hatte anscheinend nichts als Lina im Kopf.

Vielleicht war sie nur eifersüchtig. Vielleicht war das stechende Gefühl in der Magengrube nichts, worum man sich Sorgen machen sollte. Ein beginnendes Magengeschwür? Ja, das wäre wenig überraschend.

Sara kürzte auf dem Weg zur Haustür über den Platz ab. Sie fühlte sich total erledigt nach all den Katastrophen und Alarmmeldungen der letzten Zeit.

Sie wollte gerade die Hand in die Tasche stecken, um ihr Handy herauszuholen und die Mails zu kontrollieren, als jemand von hinten ihre Arme ergriff und ein anderer ihr einen Sack über den Kopf zog. Sie konnte weder schreien noch anfangen zu treten, bevor vier starke Arme sie in einen großen SUV oder Minivan warfen. Und ein sehr schwerer Körper setzte sich brutal auf sie drauf.

Sara bekam keine Luft und verlor das Bewusstsein.