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Alle waren früh vor Ort, obwohl es Sonntag war.

Denn auf zwei Polizisten war geschossen worden.

Und sie waren ernsthaft verletzt.

Andreas Carlsson und Jaromir Beciljevskij waren mit einem Schrotgewehr aus nächster Nähe beschossen worden. Beide hatten sich zur Seite geworfen und waren deswegen nur in den Rücken und die Beine getroffen worden, zum Glück. Die Verletzungen waren trotzdem lebensbedrohlich.

Die Täter waren vom Ort des Geschehens in einem schwarzen Dodge Ram verschwunden, und abgesehen von den verletzten Polizisten hatten sie sechs Leichen zurückgelassen, die in schwarze Plastikmüllsäcke eingewickelt waren.

Die Leichen waren auf dem Bürgersteig vor dem schwedischen Hauptsitz von Sandin Energy abgelegt worden. Jemand wollte eine nicht besonders diskrete Botschaft übermitteln.

Von den Toten konnten Harald Moberg, Lars-Erik Thun, Jan Schildt und August Sandin schnell identifiziert werden. Etwas länger dauerte es bei der Leiche, die sich als der verschwundene Gustav Sjökant herausstellte, Sandins junger Liebhaber. Der folglich kaum der Schuldige an den Morden sein konnte.

Die sechste Leiche erstaunte die ermittelnden Polizisten. Eine Frau im Alter von etwa neunzig Jahren. Weder ihre Fingerabdrücke noch ihre DNA waren registriert, und niemand, der während all der Jahre in Sandins Aufsichtsrat gesessen hatte, stimmte in Geschlecht und Alter mit dem Opfer überein. Nach einer Weile kam man über die zahnmedizinischen Daten zu einem Erfolg. Die tote Frau hieß Ulla Thun und war die Mutter des ebenfalls toten Lars-Erik Thun.

Was Ulla gegen die Bevölkerung des Sudans verbrochen hatte, blieb unklar, aber die Polizisten beschlossen zu untersuchen, ob sie Anteile an dem Unternehmen hielt. Vielleicht war sie Großaktionärin.

Oder es hatte einfach gereicht, dass sie mit Lars-Erik Thun verwandt war. In diesem Fall mussten alle Angehörigen von allen, die jemals einen verantwortungsvollen Posten bei Sandin Energy eingenommen hatten, Polizeischutz bekommen.

Schildts Kopf war abgesägt, und Mobergs Körper hatte heftige Verbrennungen. Von den anderen vier Körpern zeigten Gustavs und Ullas schwer erträgliche Folterspuren durch eine Schleifmaschine. Lars-Erik, August, Ulla und Gustav hatten außerdem einen Schuss in den Kopf bekommen.

Der große Polizeiandrang auf dem Blasieholmen am Abend zuvor hatte natürlich auch die Presse angelockt, die jetzt mit ihrem größten Schriftbild verkündete:

»Massenmord an Top-Managern«

»Schüsse auf Polizisten in der City«

»Schlacht an der Macht«

Die Artikel boten darüber hinaus Zitate von Polizeibeamten im Stil von »Geisteskrank«, »Eine Tragödie« oder »Das Schlimmste, was ich je gesehen habe«.

Jemand hatte auch ausgeplaudert, dass die Hauptspur sich auf die Geschäfte von Sandin Energy im Sudan bezog und dass ein Sudanese unmittelbar vor den Morden in Schweden eingeflogen sei. Das brachte die Vertreter der braunen Partei und all ihre wohldressierten Netztrolle vollständig auf die Palme.

Ein Beitrag, der unangenehm oft geteilt wurde, lautete schlicht und ergreifend:

»Das hier ist das linksliberale Schweden. Wo Eingeborene aus Afrika hereinströmen und Polizisten und Anführer aus unserem Wirtschaftsleben erschießen, ohne bestraft zu werden. Wir müssen zum Gegenangriff übergehen. White Lives Matter.«

Werkström legte einen höheren Gang bei den Ermittlungen ein. Es wurde eine landesweite Fahndung herausgegeben, und gegen Mittag tauchte Brundin von der Säpo auf, mit ausgedruckten Listen von Tausenden von Mitgliedern und Sympathisanten von diversen Unterstützungs- und Hilfsorganisationen, die sich auf Afrika ausgerichtet hatten. Sie versah die Ermittlungsgruppe auch mit Namenslisten von über hundert militanten Aktivisten aus dem linken Spektrum. Weil dies ein Fall war, der auch die Sicherheit des Staates berührte, hatte sich die Säpo zur Zusammenarbeit entschlossen. Die Bedingung für die Überlassung der Daten war, dass die Register nicht kopiert oder aus der Wache herausgeführt werden durften. Oder irgendjemandem gezeigt.

Sara blätterte durch die Listen. Sah viele Namen. Meistens von jungen Menschen, aber ein Teil war auch schon gehobenen Alters. Zwischen dreißig und fünfzig schien man allerdings keine Zeit für Solidaritätsarbeit zu haben.

»Wie habt ihr die rausbekommen?«, fragte Sara.

»Kein Kommentar«, sagte Brundin. »Nehmen Sie es einfach mit einem Dankeschön entgegen. Und zeigen Sie sie um Gottes willen nicht diesem Nilsson.«

»Personennummern, Adressen, bekannte Decknamen, welche Aufträge sie haben, Karten über soziale Netzwerke«, murmelte Anna, während sie las. »So viel zum Thema Großer Bruder.«

»Nein, genau darüber wollen wir nicht reden«, sagte Sara mit einer Grimasse.

»Schließt sie einfach weg«, sagte Brundin, drehte sich um und wollte gehen.

»Die Listen oder die Aktivisten?«

Brundin antwortete nicht, sondern verschwand einfach.

»Okay«, sagte Sara und seufzte. »Dann lasst uns mal alle verdächtigen, die eine bessere Welt wollen.«

Anna lächelte.

»Warum sperren wir nicht einfach alle auf einen Schlag ein? Wie damals in Chile ’73 . Genau das will doch Brundin. Sie in einen Sack stecken und tothauen.«

»Ja, irgendein Hobby muss man ja haben.«

Sara begann, die Listen sorgfältig durchzulesen. Vielleicht gab es dort einen Namen, auf den sie in einem anderen Zusammenhang schon gestoßen war. Das könnte ein guter Start sein.

»Was ist eigentlich gestern passiert?«, fragte Anna. »Du hast nur gesagt, dass dieser George Taylor Jr. dich mehr oder weniger gekidnappt hat. Aber du klangst beinahe so, als hättest du es genossen?«

»Ich bin ein bisschen amüsiert darüber, wie frech er sich benommen hat. Obwohl es zu Beginn ziemlich gruselig war«, sagte Sara und wunderte sich im selben Moment über die Worte, die ihren Mund verließen, und darüber, was sie über sie aussagten. Stand sie jetzt auf Angst, auf den Adrenalinrausch? Wie krank wäre das in diesem Fall. War sie in einer Art von Psychose gelandet?

»Meinst du das ernst? Wir fanden, es klang ziemlich schrecklich.«

»Wir?«

Anna stockte und sah ertappt aus.

»Entschuldige.«

»Wir?«

Sara konnte es kaum glauben.

Ihre BBF . Beste Bullenfreundin forever.

Hatte es brühwarm weitererzählt, Saras Geheimnis.

Anna war die Einzige, der Sara sich anvertrauen konnte, die einzige Freundin, auf die sie sich verlassen konnte, selbst wenn sie ihr nicht alles erzählen durfte. Besonders nicht das, was von ihrer Absprache mit den deutschen Geheimdiensten geregelt wurde. Aber all die privaten Dinge. Die teilte Sara mit Anna. Weil sie wusste, dass die Freundin nichts weitererzählte.

Und als Anna ihrem Chef Bielke über Sara berichtet hatte, hatte sie Annas Erklärung akzeptiert, dass es zu Saras Bestem gewesen war, dass es die Bedingung dafür gewesen war, dass sie nach Solna versetzt wurde. Dass sie sich Sorgen um sie gemacht hatten, nachdem sie zuerst von einem Freier, der sich an ihr rächen wollte, fast getötet und anschließend bei einer Auseinandersetzung mit Abu Rasil und Geiger fast erschossen worden war.

Aber jetzt das.

George Taylor Jr. war geheim aus zwei Gründen. Zum einen, weil er in Saras Liebesleben verwickelt war, was sehr privat war, und zum anderen war er als Krimineller extrem unpassend. Als Schwerkrimineller. Sara wollte wirklich nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass sie eine Beziehung zu einem Gangster hatte, wie seltsam und kurz diese Beziehung auch war oder werden sollte.

»Sara, entschuldige. Ich war dazu gezwungen.«

Sie sah Anna nur an.

»Lina war zu Hause bei mir. Und als ich nicht erzählen wollte, worüber du und ich geredet hatten, wurde sie eifersüchtig. Sie war richtig fies, als sie sauer war. Also erzählte ich es ihr, nur damit sie sich beruhigte.«

»Was ist denn das für eine verdammte Freundin, wenn sie sich so benimmt? Schreit sie dich an, damit du deine Freundinnen verrätst?«, fragte Sara und runzelte die Stirn.

»Ich weiß nicht. Also, sie ist vollkommen wunderbar. Und so schön. Mir fällt es nur schwer, mit dieser Eifersucht umzugehen. Und ständig fragt sie nach dir. Ich weiß gar nicht, warum. Okay, wenn du hübsch wärst …«

Anna lachte über ihren eigenen Witz, und Sara konnte nicht an sich halten.

»Das ist nicht okay. Ich finde, das ist ziemlich gemein von dir. Wer weiß denn, mit wem sie redet? Das kann ein echtes Problem für mich werden.«

»Nein, sie sagt nichts. Es ist einfach nur ihre Eifersucht«, sagte Anna und senkte die Stimme, als ein Kollege in das Zimmer kam.

»Du musst ihr sagen, dass sie daran arbeiten soll.«

»Ja. Besonders wenn wir beide so viel zusammenarbeiten müssen, um diesen Fall zu lösen.«

Saras Handy brummte, sie hatte eine Nachricht vom Empfang bekommen.

»Du hast Besuch.«

Sara rief Jesper an, der zusammen mit Svetlana den Empfang betreute.

»Mein Besuch. Worum geht es?«

»Ein Gabriel. Er sagt, dass er mit deinem Sohn befreundet ist.«

»Ich schaffe es nicht. Richte ihm aus, dass er bei mir zu Hause vorbeikommen soll.«

»Okay. Eine Sekunde.«

Sara wartete am Handy. Es vergingen vierzehn Sekunden, dann war Jesper wieder da.

»Er sagt, dass er dabei war, als gestern auf die Polizisten geschossen wurde.«