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Achtzehn Jahre.

Das hätte sie nicht gedacht.

In Saras Augen war Gabriel genauso alt gewesen wie Olle, und für sie war der bald fünfzehnjährige Olle nur ein Kind. Also hatte sie Gabriel auch als Kind gesehen, aber er war offensichtlich vor Kurzem achtzehn geworden. Als Sara ihn jetzt näher betrachtete, sah sie, dass es tatsächlich eher ein junger Mann war, den sie da vor sich hatte. Er war größer als sie, hatte kleine Wunden von der Rasierklinge am Hals und eine Dose Snus vor sich auf dem Tisch im Vernehmungsraum stehen.

Und gerade hatte er erzählt, dass er dabei war, als auf die beiden Polizisten geschossen wurde.

Dass er also dabei war, als sechs Leichen nach Blasieholmen transportiert wurden.

Er war jetzt die Hauptperson in der größten Polizeiermittlung seit Jahren, eine der wenigen, in denen die gewöhnliche Polizei und die Säpo zusammenarbeiteten.

Der kleine Gabriel. Olles Freund. Der Uncle-Scam-Bewunderer, Verschwörungstheoretiker und jetzt auch Mörder.

Oder?

Das Erste, was Sara ihn fragte, war, ob er Olle mit hineingezogen hatte, aber Gabriel hatte ihr zum Glück schnell versichert, dass sein jüngerer Freund nichts von den Morden wusste, und im Grunde hatte sie auch nie etwas anderes geglaubt. Sie konnte durchatmen.

Als Sara etwas später in den Vernehmungsraum kam, in dem Gabriel saß und wartete, stand er auf, ging auf sie zu und warf sich auf sie. Die anderen Polizisten schienen zu glauben, dass er Sara angreifen wollte, und hielten ihn sofort fest. Aber er wollte sie nur umarmen.

Nachdem er sie eine Weile krampfhaft festgehalten hatte, konnte sie sich vorsichtig von ihm lösen und ihn auf der einen Seite des Tisches platzieren, bevor sie sich auf die andere setzte.

»Möchtest du es mir erzählen?«, fragte Sara und sah ihn an, während Anna sich neben sie setzte.

»Mhm.« Gabriel sah auf die Tischplatte hinunter.

»Du willst nicht deine Eltern dabeihaben?«

»Nein, ich möchte nicht, dass sie es erfahren. Und ich bin volljährig.«

»Ich werde das Gespräch aufzeichnen, denn es ist am besten, gleich eine vorschriftsmäßige Vernehmung durchzuführen, wenn man bedenkt, wie ernst die Vorfälle sind. Ist das okay für dich?« Gabriel nickte. »Aber denk nicht darüber nach, dass wir alles aufnehmen. Denk einfach daran, dass du mit mir und Anna sprichst.«

»Okay.«

»Erzähl mir jetzt bitte, was passiert ist«, sagte Sara und nickte aufmunternd.

»Also, ich habe nicht auf die Polizisten geschossen. Okay? Das war Linus.«

»Und was hast du getan?«

»Also«, sagte Gabriel und wand sich im Stuhl, »ich wollte einfach nur, dass diejenigen, die bei dem Völkermord mitgemacht haben, ihre Strafe bekommen.«

»Warst du dabei, als die sechs in den Plastiksäcken ermordet wurden?«

»Nein, sie haben sich ja gegenseitig umgebracht. Und sich selbst. Linus hat mir Videos gezeigt.«

»Wer ist Linus? Wie heißt er weiter?«

»Weiß ich nicht.«

Sara musterte sein Gesicht. Sagte er die Wahrheit? Es sah so aus, aber in diesem Fall hatte es schon so viele seltsame Überraschungen gegeben, dass natürlich auch die Möglichkeit bestand, dass Gabriel von irgendeiner Organisation vorgeschickt worden war, um sie noch weiter zu verwirren. Gleichzeitig wollte sie Olles Freund glauben, dass er nur hier war, um die Dinge richtigzustellen nach all dem Schrecklichen, was passiert war.

»Woher kanntest du ihn?«, schaltete sich Anna ein.

»Vom JfS.«

»Justice for Sudan.«

»Ja. Ich bin auf ihre Homepage gekommen, und dann mailte ich ihnen, dass ich hoffte, sie würden die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Und dann antwortete Linus und fragte mich, ob ich nicht bei ein paar kleinen Sachen helfen könnte.«

»Bei was, zum Beispiel?«, fragte Sara.

»Herausfinden, welche Gewohnheiten sie haben und so«, sagte Gabriel.

»Bei wem?«

»Bei denen, die im Aufsichtsrat gesessen hatten, als alle Kinder im Sudan ermordet wurden. Und er sagte, dass jemand aus dem Sudan kommen würde, der sich an ihnen rächen wollte.«

»Sagte er, wie? Wie sich dieser Jemand aus dem Sudan rächen wollte?«

»Ne-e.« Gabriel zog die Antwort in die Länge. »Aber sie wollten ihn in Arlanda abholen.«

»Wer sagte das?«

»Weiß ich nicht, aber Embla sollte ein Auto besorgen.«

Sara hatte so eine Idee, wer Embla sein könnte.

»Ist das ihr richtiger Name?«

»Ne.«

»Sondern?«

»Weiß nicht.«

Anna rief ein Bild auf, das sie heimlich von Thea Hagtoft aufgenommen hatte, und zeigte es Gabriel.

»Ja«, sagte er. »Das ist Embla.«

»Was weißt du noch über Linus?«

»Nichts. Er ist wahrscheinlich auch noch nicht so lange dabei. Er redete darüber, dass der Bericht von X-Ray ihn dazu gebracht habe, sich zu engagieren, und das ist ja gerade so ein Jahr her, dass sie damit herauskamen. Sonst weiß ich nichts, aber vielleicht hat derjenige, der aus dem Sudan kam, Linus weiter radikalisiert, denn ich glaube, in der letzten Zeit hat er sich sehr verändert.«

»Auf welche Weise?«, wollte Anna wissen.

»Also, der alte Linus hätte niemals auf zwei Polizisten geschossen. Er redete ständig von Frieden und Gewaltfreiheit und so.«

»Du sagtest doch, dass du ihm dabei geholfen hast, die Leichen auf dem Blasieholmen abzulegen. Du warst aber doch gestern noch bei uns?«, sagte Sara und runzelte die Stirn.

»Ja. Linus hat mich direkt danach zu euch gefahren. Das beste Alibi, das ich bekommen könne, sagte er, zu Hause bei einem Freund zu sein.«

Gabriel legte eine Pause ein. Sara schenkte ihm Wasser ein, und er trank einen großen Schluck.

»Und warum bist du heute hierhergekommen?«

Gabriel holte tief Luft, als hätte er kurz vergessen, warum er dort war, würde sich jetzt aber erinnern.

»Weil er zu weit gegangen ist.«

»Linus?«

»Ja. Als er auf die Polizisten geschossen hat. Wir wollten ja keine Menschen umbringen. Die haben Menschen umgebracht. Sandin.«

»Kennst du Felix? Er heißt eigentlich Sigge Nilsson, aber ich glaube, dass er sich bei JfS Felix nennt«, sagte Anna und wippte ein bisschen auf dem Stuhl, bevor sie sich über den Tisch beugte, der zwischen ihr und Gabriel stand.

»Ja.«

»Weißt du, dass er tot ist?«

Gabriels schockierter Blick verriet ihnen, dass er es nicht gewusst hatte.

»Erschossen«, sagte Sara und warf ihrer Kollegin einen Blick zu. »Wir wissen nicht, von wem. Glaubst du, dass Linus dahinterstecken könnte?«

Gabriel schüttelte den Kopf, offensichtlich erschrocken.

»Weißt du noch mehr über denjenigen, der aus dem Sudan kam?«

»Ne.«

»Sagt dir der Name Omar Kush etwas?«

Ein weiteres Kopfschütteln.

»Felix hatte Kontakt mit ihm. Wir glauben, dass dieser Omar vielleicht die Spuren beseitigt«, erklärte Sara.

»Warum denn?«, fragte Gabriel mit ängstlicher Miene.

»Gute Frage. Wir glauben, dass er hinter alldem steckt. Auf irgendeine Weise hat er zwei der Opfer dazu gebracht, zwei der anderen zu töten und anschließend sich selbst zu erschießen. Aber wir wissen nicht, wie er es gemacht hat. Und wir müssen ihn wirklich finden.«

»Also, es war ja Felix, der den Kontakt zum JfS im Sudan hatte.«

»Nicht Linus?«

»Ne.«

»Und jetzt? Wo Felix tot ist?«, fragte Anna.

»Ich weiß nicht.« Gabriel sah aus, als würde er eine Weile nachdenken. »Es war ja Felix, der unser, wie sagt man, Ideologe war. Aber für mich war er ein bisschen zu militant. Irgendwie kein Humor, es ging immer nur um den Kampf. Wir wollen ja alle, dass die Gerechtigkeit siegt, aber für Felix war es irgendwie so, als wäre es das Wichtigste, dass man überhaupt kämpfte. Es spielte fast keine Rolle, wofür. Mir kam es so vor, als hätte er genauso gut Islamist oder Nazi sein können.«

»Aber er war derjenige, der euch anführte?«, hakte Sara nach, während Anna mitschrieb.

»Ja. Er hatte Kontakt zu vielen Organisationen, seit mehreren Jahren schon, seit er vierzehn, fünfzehn war. In Palästina, in Afrika und anderswo. JfS war nur eine von vielen.«

»Aber er war der Anführer?«

»Ja, ich weiß, dass Justice for Sudan im Südsudan Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, weil sie Hilfe brauchten.«

Sara und Anna horchten auf.

»Wobei?«, hakte Sara schnell nach.

»Sie sagten, dass sie einen Auftrag auszuführen hätten, der darauf hinauslief, gefährliche Männer zu stoppen, die dem Sudan geschadet hatten.«

Die Polizisten in dem Raum nahmen die Worte auf und sahen die Bedeutung dieser Formulierung.

»Und Linus war nicht so ideologisch wie Felix?«, fragte Anna schließlich.

»Ne. Oder doch. Aber der alte Linus hätte niemals auf jemanden geschossen.«

»Hast du ein Bild von Linus?«

»Nein, auf keinen Fall. Keine Bilder. Niemals.«

»Waren das eure Regeln?«

»Wir wussten, wie es läuft. Face Recognition. Sie holen sich die Bilder praktisch direkt aus den Handys, über das Netz. Man hat nicht die geringste Chance. Deswegen würde ich niemals auf meinem eigenen Rechner surfen. Aber …« Jetzt betrachtete Gabriel Sara mit einem jämmerlichen Blick. »Wenn sie Olles Computer untersuchen, werden sie bestimmt ein paar Suchen finden, die ich zum Aufsichtsrat von Sandin durchgeführt habe.«

Sara musste eine Pause einlegen. Sie ging in die Kaffeeküche und trank ein Glas kaltes Wasser.

Okay, selbst wenn sie etwas auf Olles Rechner fanden, hatte sie eine Erklärung auf dem Band. Und sie glaubte Gabriel, wenn er sagte, dass er seinen jüngeren Freund nicht in das hier hineingezogen hatte.

Soweit sie wussten, waren keine anderen Vorstandsvorsitzenden entführt worden, die den Tod erwarteten. Und alle, die sich in der Gefahrenzone befanden, hatten Polizeischutz. Vielleicht war die Aktion gegen Sandin damit beendet, dass sie die Leichen ausgelegt hatten.

Sie mussten Linus finden, der auf die Polizisten geschossen hatte, und Omar Kush, um genau herausfinden zu können, welche Rolle er bei dem Ganzen spielte. Alle Flughäfen, Fähranleger und Bahnhöfe waren überwacht. Die Straßen waren schwieriger zu kontrollieren, aber dort suchte man nach allen Nummernschildern, die als gestohlen gemeldet wurden, ganz egal, ob es nur die Schilder oder das ganze Auto betraf.

Andere Polizisten kümmerten sich um die Fahndung. Vielleicht konnte Sara sich tatsächlich ein bisschen entspannen. War es eine gute oder eine schlechte Idee, sich bei George Taylor Jr. zu melden?