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Olle schwor, dass Gabriel niemals mit ihm über den Sudan gesprochen hatte. Stattdessen aber darüber, dass die Dritte Welt im großen Ganzen vom Schurkenkapitalismus und dem Raubbau an der Erde geplündert wurde. All das brachte der Freund offensichtlich mit der geheimen Verschwörung in Verbindung, die zwischen Politikern, internationalen Konzernen und dem militärisch-industriellen Komplex geschlossen worden war. Sie hatten gemeinsam eifrig die Gesetzbücher von Schweden durchforstet, um etwas zu finden, was dem zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung entsprach, der allen Bürgern das Recht gab, Waffen zu tragen. Auf irgendeine Weise musste man sich gegen den Deep State und das Big Government schützen, meinte Gabriel.

Sara erzählte Olle keine Details, zum Teil durfte sie es nicht, aber vor allem war sie der Meinung, dass es nicht gut für ihn wäre. Ihr war natürlich klar, dass das Leben noch jede Menge ähnlicher Krisen für Olle bereithalten würde, genau wie für alle anderen. Sie wusste, dass das Dasein für viele eine lange Reihe von Schicksalsschlägen war, ein verzweifelter Spießrutenlauf zwischen inneren und äußeren Katastrophen. Das war gar nicht zu verhindern. Aber wenn sie seinen Start ins Leben etwas leichter gestalten konnte, dann würde er vielleicht auch ein bisschen weiter kommen. Wenn es denn gelang, die Widerstände und die belastenden Nachrichten zu portionieren und immer nur eine Hölle gleichzeitig zu durchqueren. Sie hatten gerade vom Krankenhaus gehört, dass Martin auf dem Weg war, sich nach seiner Überdosis zu erholen, und der Sohn hatte Pläne, seinen Vater so schnell wie möglich zu besuchen. Obwohl die Nachrichten von den Ärzten positiv waren, wusste sie, dass Olle viel über das nachdachte, was sein Vater getan hatte. Dass er nicht weiterleben wollte, obwohl er zwei Kinder hatte, die ihn über alles liebten. Natürlich tat es ihm weh, hinterließ Spuren bei ihm. Also sagte sie jetzt nur, dass Gabriel verhaftet worden sei, weil er an einem schweren Verbrechen beteiligt gewesen sei. Sie erklärte auch, dass er ihrer Meinung nach unter falschen Voraussetzungen zu dieser Mithilfe gelockt worden sei und nicht gewusst habe, wie ernst es in Wirklichkeit war. Er hätte sich außerdem der Polizei gestellt, was zu seinem Vorteil sprach.

Dann gab sie ihrem Sohn eine lange Umarmung und ließ ihn einsam in seinem Zimmer zurück, um ihm die Möglichkeit zu geben, alles zu verdauen, was er von ihr gehört hatte. Sie ging in das riesige Wohnzimmer, das sie so oft an ein Kirchenschiff denken ließ. Jedenfalls dann, wenn es so leer und still war wie jetzt. Vielleicht sollten sie gemalte Apostel an den Fenstern haben, dachte Sara und fragte sich dann, warum sie so dachte.

Es war spät, aber nicht zu spät für die beste Freundin, beschloss sie und rief Anna an. Sie dachte, dass sie zumindest tun würde, was sie tun konnte, um diese Freundschaft zu bewahren.

»Bist du hungrig? Ein etwas spätes Sonntagabendessen? Und ein paar Flaschen Wein dazu?«

»Ja, nein, aber ich habe schon gegessen. Werde bald ins Bett gehen.«

»Lässt die Mama dich nicht raus? Sag doch, dass du arbeiten musst.«

»Was meinst du damit?«, sagte plötzlich Linas Stimme in die Leitung.

»Hast du mich auf Lautsprecher?«, fragte Sara perplex.

»Ja, ich … konnte das Telefon nicht halten.«

Sara drückte sie weg, ohne sich zu verabschieden.

Sie kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie erwischt worden war, aber vor allem war es so traurig, weil sie ihre beste Freundin verloren hatte. Denn so fühlte es sich an. Jetzt waren nicht nur Ebba und Martin aus ihrem Leben verschwunden, sondern auch Anna, die sich ganz in der Beziehung zu Lina verloren hatte. Es war ganz deutlich, wer in ihrem Leben an erster Stelle stand. Sara war damit eine Stufe tiefer einsortiert. Olle war der Einzige, der noch übrig war, und als Teenager zog er auch schon an der Leine, um irgendwann loszukommen.

Sara legte sich auf das Sofa und schaute an die Decke. Versuchte sich davon zu überzeugen, dass einsam stark bedeutet, spürte aber, dass es einfach nicht stimmte.

Zum ersten Mal seit Langem hatte sie Lust, nach ihrer Geige zu greifen. Die Saiten zu spüren, unter den Fingern »Erbarme dich« hervorzuzaubern und mit den Tönen die große Leere zu füllen, die sie umgab.

Aber die Geige hatte sie kaputt geschlagen.

Und die Stereoanlage einzuschalten, würde nicht dieselbe Wirkung haben, obwohl sie drei unterschiedliche Einspielungen von Bachs Meisterwerk besaß, von denen sie eine aussuchen konnte. Obwohl Martin irgendwann im letzten Halbjahr seinen Verstärker gegen McIntoshs Monster MA 12000 eingetauscht und noch größere Lautsprecher von Cantons Reference-Serie angeschafft hatte, die groteske einhundertvierunddreißig Kilogramm pro Stück wogen. Es kam ihr beinahe so vor, als sollte die Anlage seinen inneren Alarm übertönen können.

Die Lautsprecher waren beinahe genauso groß wie Sara, stellte sie fest. Vielleicht wäre es ja trotzdem lustig, zu sehen, was sie so konnten?

Während Bachs Töne sie einhüllten und das Wohnzimmer in einen Konzertsaal verwandelten, kam Sara eine Idee. Ein plötzlicher Impuls, dem sie sofort nachgeben musste.

»Wo bist du?«, schrieb sie in eine SMS .

Die Antwort kam sofort.

»Arbeit.«

»Sex?«

Die nächste Mitteilung enthielt nur eine Karte mit einer Nadel, zu der sie navigieren konnte.

Der Freihafen.

Allein bei dem Namen drehte sich bei Sara der Magen um. Dort hatte Eric seine Peepshow veranstaltet, auf dem internationalen Gebiet, zu dem seine Logistikfirma Zugang hatte. Es war ein rechtsfreier Raum, und deswegen hatten sie die Schuldigen nicht zur Verantwortung ziehen können.

Jetzt war es vielleicht an der Zeit, den Freihafen mit besseren Erinnerungen zu füllen als gefolterten Männern, vergewaltigten Frauen und ihrem eigenen Kampf um Leben und Tod.

Nach dem Drama mit der Peepshow und dem Missbrauch der Zollfreiheit hatten die Behörden still und heimlich den Containerverkehr im Freihafen stillgelegt und stattdessen einen Hafen fünfzig Kilometer südlich von Stockholm in Norvik eröffnet. Sara musste sich also keine Sorgen machen, dass sie wieder auf solche brutalen Gorillas stoßen würde, die damals den Peepshowbetrieb am Laufen gehalten hatten.

Olle kam alleine zurecht. Aber sie selbst brauchte ein bisschen Zuwendung, nachdem Anna sie zurückgewiesen hatte und Martin in der Krise steckte. Also holte sie das Auto aus der Garage und fuhr los. Rief Jane an und bat sie, dem Sohn sicherheitshalber Gesellschaft zu leisten.

Der Pfeil auf der Karte führte sie an der Bananenkompanie vorbei, am Tallink-Terminal, dem riesigen Silo von Lantmännen und einem Straßenschild mit dem Text »Check-in St. Petersburg«. Das Gefühl war immer noch unwirklich. Die Herbstdämmerung ließ die Umgebung bedrohlicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit war, dachte Sara.

Ganz draußen auf dem großen Pier, hinter Magasin 4 , lag ein großer, beinahe leerer Parkplatz. Vereinzelte Lastwagen waren über die große Asphaltfläche verteilt, und eine Reihe von Baubaracken waren an einem Rand aufeinandergestapelt. Auf der anderen Seite des Wassers lagen die Hochhäuser in Bodal. Lidingös Schandfleck, laut strengen Kritikern.

Ein breitschultriger Mann trat zwischen zwei Lieferwagen hervor, als Sara angefahren kam. An seiner Seite glitt auch George ins Bild.

Zuerst machte Sara sich Sorgen. Warum hatte er andere Leute dabei? Sollte sie ein weiteres Mal erschreckt werden? Oder hatten sie noch Schlimmeres vor? Sie bereute, dass sie ihre Waffe nicht mitgenommen hatte. Aber dann erinnerte sie sich, dass er etwas von Arbeit geschrieben hatte. Er nahm wohl eine Lieferung oder so etwas für eines seiner Unternehmen entgegen.

Falls es nicht um eine ganz andere Art von Lieferung ging.

Sara blieb ein Stück vor den Männern stehen.

Sie durfte nicht direkt in so etwas wie ein Drogengeschäft hineinmarschieren. Als Polizistin durfte sie eine solche Transaktion nicht bezeugen, ohne etwas zu unternehmen.

Aber das musste George doch auch klar gewesen sein.

Er streckte verständnislos die Arme aus, dann winkte er ihr zu, dass sie näher kommen solle. Als Sara trotzdem in ihrem Auto blieb, kam George zu ihr rüber. Sie ließ das Seitenfenster herunter.

»Was macht ihr hier?«, fragte sie, als er bei ihr angekommen war. »Wenn das irgendeine Drogenlieferung ist, muss ich etwas dagegen unternehmen.«

George grinste über das ganze Gesicht.

»Ernsthaft? Glaubst du tatsächlich, ich würde dich zu einem Drogendeal einladen?« Er lachte. »Und du solltest ja inzwischen wissen, dass ich so etwas nicht mehr mache. Ich bin Geschäftsmann. Komm jetzt. Du kannst hinter diesem Sattelzug parken, dann stören wir meine Leute nicht.«

Sara fuhr an den beiden Lieferwagen vorbei zum besagten Sattelzug, der ganz hinten in Richtung Kaknästornet stand. Sie warf einen kurzen Blick auf Georges Truppe. Drei junge Männer, die sie von dem Zwischenfall im Wald wiedererkannte, und zwei muskulöse Typen von vierzig, fünfundvierzig Jahren, mit kurz geschnittener Frisur und grimmiger Ausstrahlung. Das Nummernschild ihres Lieferwagens war estnisch.

Sara parkte und stellte den Motor ab. Als sie gerade aus dem Wagen steigen wollte, kam George um den Sattelzug herum, ging auf Sara zu und küsste sie gierig. Er begann ihr direkt die Kleidung vom Leib zu reißen, wanderte mit den groben, allzu flinken Händen über ihren Körper.

»Hier?«, sagte sie und sah sich um.

»Du willst mich haben. Ich bin hier«, stöhnte er in ihr Ohr.

Sara antwortete nicht, sondern ließ sich weiter von ihm ausziehen, Stück für Stück. Wenn jemand sie mit einem Feldstecher aus den Hochhäusern von der anderen Seite des Wassers beobachtete, dann war es ihr scheißegal. Es war sogar ein erregender Gedanke.

»Jojje!«

Der Ruf klang dringend.

»Warte«, sagte George, ließ Sara los und ging. In der Hand hatte er ihre Unterhose.

»Einfach so?«, fragte die nackte Sara und breitete die Arme aus, damit er die ganze Herrlichkeit sah.

George blieb stehen, drehte sich um und starrte sie an. Und lächelte.

»Genau so. Bin gleich wieder da«, sagte er und ging.

Sara lehnte sich gegen die Motorhaube und dachte darüber nach, ob sie sich so etwas irgendwann für sich vorgestellt hatte. Dass sie nackt im Freihafen stand und auf ihren kriminellen Fickfreund wartete. Das Gefühl war beinahe berauschend, es kribbelte in ihr von den eifrigen Berührungen, die Georges Mund und Hände auf ihr hinterlassen hatten. Wie sehr er sie haben wollte.

Das Geräusch von Sirenen unterbrach ihre Gedanken.

Sie horchte ein paar Sekunden, während sie in der durchdringenden Oktoberkälte stand und bibberte. Sie hörte Autos, die mit kreischenden Reifen heranbrausten, und Sirenen, die immer näher auf sie zu kamen. Sie sah vorsichtig um den Sattelzug herum und entdeckte fast ein Dutzend Polizeifahrzeuge, die sich in einem Halbkreis um George und seine Männer herum aufgestellt hatten.

Aus drei geparkten Lieferwagen strömten Kräfte der Bereitschaftspolizei. Keiner der sechs Männer leistete Widerstand. Sie wurden zu Boden geworfen und mit Handschellen versehen. Neben Georges ausgestrecktem Körper war eine schwarze Spitzenunterhose zu sehen.

Der mutmaßliche Einsatzleiter zeigte in verschiedene Richtungen, und die Polizisten begannen auszuschwärmen. Sara zog schnell den Kopf zurück und hoffte, dass diejenigen, die in ihre Richtung liefen, sie noch nicht bemerkt hatten.

Was sollte sie tun?

Eine einsame Polizistin, nackt, bei einem Zugriff auf eine kriminelle Bande. Das sah nicht gut aus. Nicht im Geringsten.

Sie raffte die herumliegenden Kleidungsstücke zusammen und warf sich ins Auto, kroch in die Lücke vor dem Rücksitz, schaltete das Handy aus und legte die Kleidung auf sich. Sie hoffte, dass kein Teil ihres Körpers herausschaute. Und dass die Dunkelheit ihr half, unsichtbar zu bleiben.

Sie hörte Stimmen, die in kurzen Kommandos miteinander kommunizierten, das Geräusch entschlossener Schritte und stiefeltragender Füße.

Sara verfluchte sich selbst. Wie dumm konnte man eigentlich sein?

Sie war jedenfalls ganz offensichtlich nicht vernünftig, sondern zu allem in der Lage. In der Öffentlichkeit mit einem Gangster zu vögeln. Und das schon zum zweiten Mal.

Die Schritte näherten sich. Hände zogen an den Handgriffen der geparkten Autos und überprüften die Kofferraumklappen.

Womit konnte sie sich rausreden, wenn sie sie erwischten?