Sara antwortete nicht. Ausgerechnet jetzt, wo Ebba sie ausnahmsweise wirklich einmal sprechen wollte .
So typisch für sie.
Jetzt, wo Ebba ihre Mutter wirklich brauchte. Sie wusste natürlich, was Sara sagen würde, aber sie musste es von ihr hören.
Vergiss ihn.
Mach dich nicht lächerlich.
Wenn ihr zwei wirklich füreinander bestimmt seid, dann wird es auch so kommen. Aber erniedrige dich nicht.
Denn das tat sie, wie sie sich eingestehen musste. Sie erniedrigte sich. Verringerte ihren eigenen Wert.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie einem Jungen vollkommen verfallen.
Einem Mann.
Ebba konnte Tom einfach nicht loslassen. Sie hatte es versucht, aber es ging nicht. Er war alles, wovon sie jemals geträumt hatte: hübsch, erfolgreich, witzig und groß gewachsen. Gute Garderobe, gut im Bett. Vor allem akzeptierte er ihre Launen nicht, wie so viele andere Jungen es getan hatten. Die vor ihr durch den Staub gekrochen waren, einfach alles getan hatten, um ihre Gunst zu gewinnen. So war es mit Tom nicht gewesen, und sie hatte es geliebt, dieses Spiel zu spielen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihn schließlich, endlich, zu verführen. Die Jagd auf ihn hatte sie verrückt vor Begierde gemacht. Und am Ende nur noch verrückt.
Er hatte gesagt, dass sie vielleicht eine Pause machen sollten, wie Sara es vorgeschlagen hatte. Sie hätte im Grunde ja recht mit ihrer Bemerkung, dass man keine Beziehung unter Kollegen eingehen sollte. Aber das machte Ebba nur noch verrückter.
Und weil es Saras Schuld war, dass es mit Tom jetzt vorbei war, sollte sie auch die Verantwortung dafür übernehmen und sich um ihre Tochter kümmern. Aber das tat sie nicht.
Ebba hatte wirklich versucht, an etwas anderes zu denken. Sie hatte ihre Mutter angerufen, die nicht ans Telefon ging, auf sozialen Medien gesurft, ohne irgendwo hängen zu bleiben, hatte sich Serien angesehen, die nichts als langweilig waren. Das Einzige, was sie interessierte, war Tom. Wo er war und was er tat.
Jetzt sah sie in der Hitta-App, dass er vom Hotel aufgebrochen war, in dem er wohnte, seit er aus ihrer Wohnung ausgezogen war. Kurz vor Mitternacht an einem Sonntagabend. Das konnte nur eine Sache bedeuten.
Gloria.
Und es gab nur einen Zweck, zu dem man sich um diese Uhrzeit traf.
Sex.
Toms Frau hatte recht gehabt, er konnte sie nicht loslassen.
Aber warum nicht? Wie wunderbar konnte sie schon sein?
Und warum war er mit Ebba zusammengekommen, wenn er eine andere Frau liebte?
Sie wusste, dass es dumm war, aber sie war zu rastlos, um zu Hause zu bleiben. Sie wollte nicht wie eine verheulte Klette an ihm hängen, sondern sie wollte ihn stellen.
Ja, jetzt hatte sie es. Sie würde beide auf frischer Tat ertappen, ihnen zeigen, dass sie mit ihrer Heimlichtuerei nicht durchkamen.
Mit dieser Motivation konnte sie aufbrechen. Entgegen allem, was ihre Vernunft und ihre Würde ihr sagten.
Auf der Metargatan stand ihr schokoladenbrauner VW -Käfer mit drei gelben Knöllchen unter den Scheibenwischern. Die Farben passten ziemlich gut zusammen, dachte Ebba, bevor sie losfuhr.
Sie folgte Tom auf dem Bildschirm des Handys. Sie sah, wie der Pfeil, der sein Handy symbolisierte, auf die Insel Skeppsholmen fuhr.
Warum denn das? Dort wohnte doch niemand?
Aber es gab dort ein Hotel. Perfekt für Seitensprünge. Mitten in der Stadt, aber trotzdem sehr abgelegen. Vielleicht war Gloria verheiratet, ansonsten hätten sie sich jetzt ja offen treffen können.
Aber der Pfeil bewegte sich über Skeppsholmen hinweg, weiter zur nächsten Insel, Kastellholmen.
Was gab es denn dort? Nichts.
Und genau das war wohl der Punkt.
Niemand, der sie sah.
Glaubten sie.
Der Pfeil blieb mitten auf Kastellholmen stehen, als Ebba gerade über die Strömbron nach Kungsträdgården fuhr. Am Grand Hôtel vorbei und über die schmale Brücke nach Skeppsholmen, obwohl die Ampel auf Rot stand. Auf der anderen Seite des Wassers sah sie ihren Mosebacken, Slussen mit der hässlichen neuen Guldbron und Gamla Stan, wo sie aufgewachsen war.
Eine Minute später war sie auf dem Kastellholmen, kam an einem kleinen Schloss aus roten Backsteinen vorbei und fuhr eine Anhöhe hinauf, die zu dem Pfeil auf der Karte führte. Als sie sich dem Kastell näherte, erinnerte sie sich an all die kleinen Vorträge, die ihr Vater gehalten hatte. Er musste immer erzählen und mansplainen. Damals war es darum gegangen, dass die Flagge auf dem Kastell jeden Tag gehisst wurde, an dem Schweden Frieden hatte. Aber in dieser Nacht gab es keinen verdammten Frieden. Es war Krieg, und Ebba würde ihre Widersacher zerstören.
Sie fuhr die letzte Steigung zum Kastell hinauf. Sie sah Toms Cadillac Escalade vor dem Gebäude parken und stellte ihr eigenes Auto direkt daneben.
Sie stieg aus und sah sich um. Nirgendwo ein Mensch zu sehen.
Ein schwarzer Dodge Ram parkte schräg vor dem Eingang auf der Kiesfläche. Vulgäres Auto, dachte Ebba und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Aber wo waren sie?
Sie probierte die Tür zum Kastell, aber sie war abgeschlossen, und es brannte auch keine Lampe im Gebäude.
Hinter dem Kastell vielleicht? Das war eigentlich die einzige Möglichkeit. Und wenn man nicht gesehen werden wollte, dann war der Platz genauso gut wie jeder andere.
Sie ging den Kiesweg entlang, der um das Gebäude führte. Am gegenüberliegenden Ufer sah sie Gröna Lund, der für den Winter geschlossen war. Genau so fühlte sie sich auch. Wie ein geschlossener Vergnügungspark. Einsam, abgenutzt und verlassen.
Sie folgte der runden Mauer bis zu einem offenen Platz mit Klippen und einer Aussicht über die Hafenzufahrt zur Stadt.
Und vor zwei Mülltonnen auf dem offenen Platz sah sie Tom.
Aber er war nicht mit einer Frau zusammen. Er lag bewusstlos auf der Erde.
Sie lief zu ihm und kniete sich hin. Sah, dass er eine blutende Wunde am Kopf hatte.
Ebba keuchte auf und rief seinen Namen. Sah sich mit Panik im Blick um.
Als er nicht reagierte, zückte sie das Handy, um Hilfe zu rufen.
Während sie auf dem Bildschirm herumtippte, hörte sie, wie sich schnelle Schritte im Kies von hinten näherten.
Jemand, der zur Hilfe kam?
Hoffnungsvoll drehte sie sich um.
Nur um einem Paar glühender Augen und einem Eisenrohr zu begegnen, das ihren Kopf traf.