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Die Ungewissheit war unerträglich.

Die Machtlosigkeit ebenso.

Die Tränen rannen in so stetigen Strömen, dass sie kaum die Straße vor sich sah, als sie nach Södermalm und zu Anna zurückfuhr.

Sara war vollständig zerbrochen. Verzweifelt.

Über alles.

Weil sie keine Ahnung hatte, wo sie nach ihrer Tochter suchen sollte. Weil sie sie nicht retten konnte, falls tatsächlich jemand sie gekidnappt hatte.

Sara musste es herausfinden. Und sie dachte, dass sie am besten so handelte, als wäre Ebba entführt worden. Wenn sich herausstellte, dass sie sich nur mit Tom irgendwo versteckt hatte oder beide irgendwohin verreist waren, würde Sara sie grün und blau schlagen, weil sie ihr solche Sorgen bereitet hatte, aber sie konnte nicht davon ausgehen, dass es so war. Damit würde sie wertvolle Zeit verschenken.

Auf dem gesamten Weg zur Arbeit rief sie immer wieder Ebbas Handy an, in der Hoffnung, dass sie in der Zwischenzeit auf den Bahamas gelandet wären und dort Saras Anordnungen trotzen wollten. Wie wunderbar wäre es, sich das anhören zu dürfen.

Anna saß am Steuer und warf ihr besorgte Blicke zu.

Zurück auf der Wache versammelte sie ihre Kollegen um sich und erklärte die Situation. Ihre Tochter Ebba und Ebbas Chef seien verschwunden. Die beiden leiteten ein Unternehmen, das von X-Ray als mitschuldig an den Massakern und Übergriffen aufgelistet worden sei.

Nina Werkström erklärte, dass diese Entführungen erste Priorität haben sollten, dass es aber nicht passend war, Sara daran arbeiten zu lassen.

»Versuch mich doch aufzuhalten«, entgegnete Sara.

»Wir werden sie finden«, sagte Anna und legte ihre Hand auf Saras Schulter.

»Eine Sache noch«, sagte Sara. »Ebba hat eine Beziehung zu ihrem Chef. Als Vertreterin der Eigentümer des Unternehmens habe ich ihnen erklärt, dass es unangemessen sei, und ich habe Tom mitgeteilt, dass er sich zwischen der Liebe und der Leitung der Firma entscheiden solle. Es kann also auch sein, dass sie gemeinsam abgehauen sind, eine Art von Liebesurlaub machen und die Handys einfach nur deshalb ausgeschaltet haben, weil sie in einem Flieger sitzen, der sie in ein tropisches Paradies bringt.«

»Oder sie verlegen irgendwo Rohre«, sagte Peter, bevor er zurückschreckte. »Entschuldige, wir reden ja über deine Tochter. Ich wollte nur die Stimmung ein bisschen auflockern.«

»Das ist dir nicht gelungen.«

»Es könnte tatsächlich so sein, wie du es sagst«, meinte Werkström tröstend. »Aber wir müssen vom Schlimmsten ausgehen.«

Genau das wollte Sara hören. Dass alle taten, was sie konnten.

»Brundin von der Säpo hat angerufen«, fuhr ihre Chefin fort. »Sie haben diesem Fall die höchste Priorität gegeben. Sie sind bereits dabei, alle Aktivisten einzusammeln, die sie in ihren Registern stehen haben.«

Normalerweise hätte Sara gedacht, dass es wie ein ziemlich gemeines Vorgehen eines Polizeistaats klang, aber in diesem Moment war sie dankbar dafür, dass es jemanden gab, der etwas unternahm. Thörnell hatte erneut gezeigt, dass er noch über jede Menge Einfluss verfügte.

Immer noch ganz außer sich vor Sorge und Ungewissheit, aber trotzdem ein bisschen beruhigt davon, dass jetzt so viele Leute fieberhaft nach ihrer Tochter suchten, Menschen, die ganz andere Ressourcen hatten als sie selbst, fuhr Sara zu sich nach Hause, um Olle von Ebbas Verschwinden zu erzählen. Sie hatte Jane gebeten, ebenfalls zu kommen, damit ihr Sohn jemanden bei sich hatte, wenn Sara wieder fahren musste.

Sie hätte vielleicht besser nichts gesagt, war ihr erster Gedanke, nachdem sie sich im Wohnzimmer versammelt hatten und Olle gehört hatte, was geschehen war. Sie sah ihrem Sohn in die Augen und wusste, dass er bald zusammenbrechen würde. Erst der Tod seines Großvaters, dann der Selbstmordversuch seine Vaters, anschließend Gabriel, der von der Polizei verhaftet worden war. Und jetzt auch noch das. Seine große Schwester war verschwunden. Vielleicht von Menschen entführt, die ihr schrecklich wehtun wollten. Und seine Mutter, die Polizistin, konnte nichts machen. Es tat Sara im Herzen weh, als sie sah, wie verzweifelt ihr Sohn war.

Sie legte eine Hand auf Olles Arm und fragte ihn, ob er irgendetwas wüsste, was ihnen weiterhelfen könnte. Hatte Gabriel vielleicht etwas über den Sudan oder Afrika im Allgemeinen gesagt? Irgendein Name von jemandem, den er kannte? Oder hatte Ebba vielleicht gesagt, dass sie mit Tom wegfahren würde? Olle wusste nichts und sah gequält aus, weil er nicht helfen konnte. Sara sagte, das sei nicht schlimm, er wäre sehr tapfer. Eine ganze Weile saßen alle drei schweigend da und hielten einander die Hand.

Anschließend rief sie Ebbas beste Freundinnen an, um herauszufinden, ob sie ihnen irgendetwas gesagt hatte, aber keine von ihnen hatte in den letzten Monaten viel Kontakt zu Ebba gehabt, nicht seit sie auf der Arbeit befördert worden war.

Jane zündete Kerzen im Wohnzimmer an, kniete sich hin und betete. Sara stutzte. Obwohl sie mit Bildern des Papstes Johannes Paul II . an den Wänden aufgewachsen war und ihre Mutter ihr gerade erst eine Reihe von Heiligenbildern geschenkt hatte, war der Anblick einer betenden Mutter vollkommen fremd. Hatte sie das schon immer getan? Heimlich? Weil ihr klar war, dass Sara sich darüber aufregen würde? Denn das hätte Sara garantiert getan. Normalerweise. Aber jetzt fühlte es sich nur gut an, als müsste sie offen bleiben für alle Möglichkeiten.

»Diese verdammten Kanaken«, sagte Olle mit Tränen in den Augen.

»Was sagst du da?«, fragte Sara.

»Dass sie hierherkommen und Ebba entführen.«

»Sie sind doch selbst Opfer. Wenn dein Großvater nicht gewesen wäre, wären Ebba und Tom auch keine Zielscheibe für sie.«

Sara verteidigte Omar Kush und die anderen Mitglieder seiner Organisation, obwohl sie sich eingestehen musste, dass sie sie am liebsten umbringen würde. Omar und alle, die ihn unterstützten. Diese Helfershelfer waren nichts anderes als verwöhnte Mittelklassekinder, die sich als moralische Helden betrachteten, die alles Böse auf der Welt zur Verantwortung ziehen würden.

Und dafür unschuldige junge Frauen entführten.

Sara rief erneut Toms Assistentin an und fragte sie, ob Tom sie gebeten hätte, irgendeinen Flug oder ein Hotelzimmer zu reservieren, aber das hatte er nicht. Sanna konnte sich auch nicht in seinen Computer einloggen, um nachzusehen, ob er selbst etwas gebucht hatte.

Dann rief Anna an und erzählte, dass man Ebbas und Toms Autos auf dem Kastellholmen gefunden hatte. Man suche nach Zeugen, aber es gab nicht viele, die dort an einem Sonntagabend unterwegs waren.

Sara brach zusammen.

Dass die Autos dort verlassen herumstanden, konnte nur eines bedeuten.

Ebba war wirklich entführt worden, vielleicht war sie sogar schon tot.

Möglicherweise gab es bereits ein Video, auf dem sie Tom dazu gebracht hatten, sie zu Tode zu foltern, bevor er sich anschließend selbst erschoss. Ihr kleines Mädchen. Es hatte seine Mutter anrufen wollen, aber Sara war beschäftigt gewesen und hatte das Gespräch nicht angenommen. Sie war nicht da gewesen, als ihre Tochter sie gebraucht hatte. Wie selbstsüchtig durfte man sein?

Sie umarmte Olle krampfhaft und merkte, dass sie beide so sehr weinten, dass sie zitterten.