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Es war unmöglich, einfach dazusitzen und zu warten, auch wenn sie wusste, wie kompetent ihre Kollegen waren.

Aber sie gingen beruflich an die Sache heran.

Als Polizisten.

Sara war Mutter.

Und gerade jetzt war sie nur Mutter.

Jane blieb mit Olle zu Hause und versprach, Marie anzurufen und ihr zu sagen, dass Ebba verschwunden war. Es Martin zu erzählen, der immer noch im Krankenhaus lag, hoben sie sich für später auf.

Sara machte sich mit einem Bild ihrer Tochter auf den Weg. Ein Foto aus dem Sommer, in dem die ganze Familie mehr Zeit miteinander verbracht hatte als jemals zuvor. Ein Bild, auf dem Ebba so glücklich lächelte. Das beste Bild, das Sara kannte. Sie hoffte mit verzweifeltem Herzen, dass es sich nicht als das letzte Bild herausstellen würde, das von ihrer Tochter gemacht wurde. Sara wanderte auf dem Kastellholmen herum und suchte nach Spuren, klopfte an Türen, um zu sehen, ob es überhaupt jemanden gab, den sie fragen könnte. Alle, denen sie auf den Straßen begegnete, befanden sich auf einem Spaziergang und waren am Abend zuvor nicht auf der Insel gewesen. Oben am Kastell stand immer noch Ebbas Auto. Sara musste lachen, als sie die vielen Knöllchen sah. Ein Lachen, das direkt in Weinen überging. Wo war ihr Kind?

Zurück zum Skeppsholmen. Solange sie in Bewegung blieb und das Gefühl hatte, etwas zu tun, konnte sie mit der Situation einigermaßen umgehen, aber ihr Gehirn ratterte die ganze Zeit alle möglichen Schreckensszenarien durch, wie es Ebba ging, was man ihr in diesem Augenblick antat. Sara eilte ins Hotel, um das Personal zu fragen, ob sie etwas gesehen hätten, aber es waren nicht dieselben wie am Sonntagabend. Sie fragte die Gäste, die sie traf, aber keiner von ihnen erkannte Ebba wieder.

Der Wachmann vor dem Nationalmuseum hatte am vorherigen Tag nichts Besonderes gesehen. Der Türsteher am Grand Hôtel hatte ebenfalls nichts Ungewöhnliches bemerkt, erklärte allerdings, dass er in erster Linie seinen eigenen protzigen Eingang im Auge behalten hatte.

Sara ging an der Veranda vorbei und dachte daran, wie sie mit ihrer Tochter dort vor wenigen Tagen erst gesessen hatte. Hätte sie auch nur ansatzweise geahnt, dass so etwas passieren könnte, hätte sie Ebba danach nie mehr aus den Augen gelassen.

Anna rief an und erzählte, dass Thea Hagtoft zu Hause aufgetaucht und direkt verhaftet worden sei. Jetzt saß sie im Kronobergsgefängnis, weigerte sich aber, im Verhör irgendetwas zuzugeben. Einen Linus würde sie ganz gewiss nicht kennen.

Und dann eine SMS von Thörnell.

»Kleines Geschenk. Zu Hause oder auf der Arbeit?«

»Zu Hause«, antwortete Sara und nahm die Strömbron hinüber zum Schloss und nach Gamla Stan.

Unterdessen legten die Zeitungen und die Fernsehsender los. Vielleicht hatte Theas Mutter Fredrika Ernst mit ihrer Drohung gemacht, alle Journalisten zu kontaktieren, die sie kannte. Adnan Westin beim Aftonbladet und Annie Tillberg von TV 4 waren wie immer die eifrigsten. Als Sara nicht antwortete, schickten sie stattdessen SMS .

»Was ist das für eine Aktion? Wie viele habt ihr gefasst?«

»Was ist los? Welche Beweise habt ihr?«

»Sind die Mörder die Antifaschisten? Wenn du nicht antwortest, nehme ich es als eine Bestätigung.«

»Komm schon, Sara, gib mir irgendetwas.«

Aber das hatte Sara ganz und gar nicht vor.

Als sie den Kornhamnstorg erreichte, rief Anna erneut an und sagte, dass jetzt eine weitere Person verschwunden wäre. Ein Bernt Martinsson, ein ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender von Titus & Partners.

Nun gab es keine Zweifel mehr.

Titus & Partners war eine Zielscheibe. Tom und Ebba vermutlich gekidnappt. Sara blieb stehen und holte tief Luft, während Anna ihr alles erläuterte. Sie hatte gedacht, dass sie keine Luft bekäme, als Georges Bande sie abgeholt und einer seiner Männer auf ihrem Brustkorb gesessen hatte. Aber das war gar nichts verglichen mit dem Gefühl, das sie jetzt erlebte, denn ganz egal, wie sehr sie sich beim Atmen anstrengte, sie bekam keinen Sauerstoff in die Lunge. Es fühlte sich an, als würde der Körper abschalten.

Brundins Säpobeamte und Nina Werkströms Gruppe aus der Polizeiwache Solna waren in vollem Gange, alle Aktivisten vom linken Rand reinzuholen, die auf Brundins Liste zu finden waren. Davon hatten die Medien auch erfahren. Die Afrikagruppen, die Südamerikagruppen und die Anarchisten. Und die Umweltaktivisten. Ölkonzerne boten sich auch für sie als Hassobjekte an. Irgendjemand musste etwas wissen, dachte man.

»Wie zum Teufel kommt er an sie heran?«, sagte Anna mit einer Mischung aus Frustration und einem guten Anteil Bewunderung in der Stimme. »Ein Mann aus dem Sudan, der niemals zuvor in Schweden gewesen ist. Mit nichts weiter als einer Gruppe von Jugendlichen als Helfershelfer.«

Sara drückte das Gespräch weg und steckte das Handy in die Tasche, während sie die drei Hebekräne betrachtete. Jetzt erinnerten sie sie vor allem an drei Galgen auf einem Hinrichtungsplatz. Bedrohlich und unheilschwanger.

Zu Hause in der Wohnung saß Olle auf dem Sofa und starrte antriebslos vor sich hin, während Jane neben ihm saß.

»Es ist ein Paket gekommen«, sagte ihre Mutter mit ungewöhnlich sanfter Stimme und zeigte in den Flur.

Sara nahm das kleine Paket von Thörnell in die Hand und öffnete es.

Wunderbar.

Der pensionierte Oberst musste es nicht erklären. Sara verstand es sofort.

Sie fuhr mit dem Auto nach Kungsholmen und zum Kronoberggefängnis. Sie zeigte ihren Ausweis, erklärte, dass sie mit dem Fall arbeite, und bat, die Kleidung der verhafteten Thea Hagtoft zu sehen, die diese abgelegt hatte, bevor sie die Anstaltskleidung übergezogen hatte.

Der Justizvollzugsbeamte holte die Kleidung, und Sara lächelte freundlich, vor allem, weil er nicht zuerst die Wache in Solna angerufen und ihre Zuständigkeit überprüft hatte. Sie ging den ordentlich gefalteten Stapel durch und fand ziemlich schnell, wonach sie gesucht hatte. Und tat, was sie tun musste.

Dann bedankte sie sich bei dem Justizvollzugsbeamten und ging.

Als sie zurück im Auto war, das sie vor dem ilcaffé geparkt hatte, rief sie Conny Mårtensson an, einen der bekanntesten Strafverteidiger des Landes, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, nur die allerschlimmsten Kriminellen zu vertreten.

»Nowak?«, sagte Mårtensson, der offensichtlich Saras Nummer gespeichert hatte.

Sara kam direkt zur Sache.

»Eine Thea Hagtoft sitzt im Kronoberggefängnis, sie wird verdächtigt, an den Morden an Schildt und Moberg beteiligt gewesen zu sein. Sie bekommen eine halbe Million Kronen, wenn Sie sie heute herausbekommen.«

»Eine halbe Million?«

»Ja.«

»Von der Polizei?«

»Von mir.«

»Soll das hier irgendeine Falle sein? Sie wissen, dass die Aufforderung zu einem Verbrechen ungesetzlich ist«, sagte Mårtensson misstrauisch.

»Es ist doch kein Verbrechen, eine Verdächtigte zu verteidigen. Es geht nur darum, dass Sie Ihren Job machen. Fordern Sie, die Beweise zu sehen, denn solche haben wir nicht.«

Sara wartete ungeduldig, während der Rechtsanwalt eine Weile überlegte.

»Das klingt wirklich ziemlich unseriös«, erklang es schließlich aus dem Hörer.

»Ich miete Ihre Dienste, das darf ich doch, oder? Ich überweise das Geld direkt. Wie lautet Ihre Kontonummer?«, sagte Sara und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.

»What the fuck haben Sie denn dieses Mal vor?«

Aber das Angebot reizte Mårtensson, das hörte sie seiner Stimme an.

»Das kann Ihnen doch egal sein. Also, wollen Sie das Geld?«

»Ja, ja, ist schon okay.«

Sara rief Sanna an und bat sie, eine halbe Million Kronen von Titus & Partners auf das Konto zu überweisen, das Mårtensson genannt hatte. Als die Assistentin zögerte, erklärte Sara, dass sie damit Tom und Ebba retten könnten.

Als sie gerade den Motor anließ und sich einfädeln wollte, wurde ihr Weg von einem durchtrainierten Mann auf einem Ducati Streetfighter V4 S blockiert. Er trug eine schwarze Lederkluft, schwarze Handschuhe und einen Integralhelm mit dunklem Visier. Ohne ein Wort zu sagen, hielt er ihr ein Handy hin. Auf dem Bildschirm sah sie den ehemaligen Botschafter Koslow am anderen Ende eines Videogesprächs. Koslow befand sich aus irgendeinem Grund bei Erics und Maries Haus.

Aber darüber dachte Sara nicht weiter nach, weil auf dem Bild zu sehen war, dass schwarzer Rauch aus dem Haus herausquoll.

Und dass Rettungskräfte ihre Schwiegermutter Marie auf einer Bahre heraustrugen.