Elf orangefarbene Lieferwagen wurden im Laufe einer halben Stunde in unterschiedlichen Teilen der Stadt angehalten. Sämtliche Fahrer waren mitten in ihrer Schicht und hatten ein Alibi für die Zeit des Treffens in Ropsten. Zwei Autos wurden leer gefunden. Eines am Viking-Fährterminal am Stadsgården und eines auf dem Langzeitparkplatz in Liljeholmen. Die Polizei hielt beide unter diskreter Aufsicht, während man mithilfe der Auskünfte, die man von der Firma bekommen hatte, nach den Fahrern suchte.
Anna sorgte dafür, dass Sara über die Entwicklung der Lage informiert blieb. Im Gegenzug konnte Sara erklären, dass Thea auf dem Weg nach Hause war und eine schreckliche Angst vor Omar Kush hatte. Sie konnte bestimmt Polizeischutz gebrauchen, wenn sie ihn nicht abgelehnt hatte. Vielleicht konnte sie das auch zu Kush führen, sagte Anna tröstend, aber Sara wagte es nicht zu hoffen.
Sie dachte eine Weile nach und vertraute Anna an, wie sie Thea überfallen und schließlich auch geschlagen hatte. Ihre Freundin war voller Verständnis, Ebba sei schließlich entführt und Thea hätte mehr gewusst, als sie sagen wollte. Das stimmte zwar alles, aber Annas Unterstützung erleichterte Saras Gewissen nur minimal. Sie hatte eine junge Frau geschlagen, die Angst hatte. Das war nicht entschuldbar.
Mit dem Versprechen, sie auch weiterhin auf dem Laufenden zu halten, drückte Anna das Gespräch weg, und Sara sah auf das Wasser hinaus. Sie hatte mit dem Auto mehrere Runden um Gamla Stan gedreht, bevor sie zwischen der Skeppsbro-Bäckerei und dem Restaurant Mister French abgebogen war und sich am Kai auf das Kopfsteinpflaster gestellt hatte, mit der Fahrzeugfront nach Osten gerichtet. Es war kein Parkplatz, aber das ließ sie im Augenblick kalt.
Das Schlimmste an dieser Hölle, in der sie gerade festsaß, war, dass sie langsam aufgab.
Sie hoffte nicht mehr.
Hatte keine Kraft mehr, sich selbst zu belügen.
Langsam ließ sie den letzten Strohhalm der Hoffnung los, denn sie wusste in ihrem tiefsten Inneren, dass er sie nicht halten würde.
Sara war schon immer fasziniert davon gewesen, wie das Wasser in Stockholm dafür sorgte, dass man an so vielen Stellen der Stadt eine großartige Aussicht hatte. Man konnte viele unterschiedliche Teile der Stadt über verschiedene Wasserstraßen hinweg betrachten. An den jeweiligen Teilen von Stockholm hingen für sie ganz unterschiedliche Erinnerungen, aber alles, was sie jetzt sah, würde sie für immer mit dem Leiden verknüpfen.
Die Skeppsholm-Kirche, die jetzt keine Kirche mehr war. So fühlte sie sich auch. Wie ein Gotteshaus ohne Gott.
Unterhalb der Kirche lag die schwimmende Jugendherberge Af Chapman. Ein Schiff, das nicht mehr segelte.
Am Südufer lag die schlossähnliche Seniorenresidenz Danvikshem. Zur Aufbewahrung alter Leute, die niemand mehr brauchte.
Und dann die Finnlandfähren am Stadsgården. Dort war einer der Lieferwagen gefunden worden.
Könnten sie Tom und Ebba auf eine Fähre nach Finnland gebracht haben?
Das klang sehr seltsam.
Oder war es der Fluchtweg von Linus? Nach Finnland? Hatte er den Verdacht, dass die Flughäfen der Stadt bewacht wurden? Wie groß war die Organisation von Omar Kush eigentlich? Gab es auch eine Abteilung in Finnland?
In Saras Kopf mischte sich alles durcheinander. Sie konnte nicht mehr klar denken. Sie würde nie wieder klar denken können, so fühlte es sich jedenfalls an. Und sie verdiente es. Der Schmerzimpuls, der ihr jetzt durch den Körper fuhr, jede Erinnerung an Ebba als kleines Mädchen, als hilfloses Neugeborenes, wurde von Sara willkommen geheißen. Das Ganze hier war allein ihre Schuld. Sie war die Mutter, die nicht ans Telefon gegangen war, als Ebba sie gebraucht hatte, die Polizistin, der es nicht gelang, die eigene Tochter zu finden. Das alles würde sie sich selbst niemals verzeihen.
Sie sah zum Kastellholmen direkt gegenüber. Die Silhouette des eigentlichen Kastells, der Platz, an dem ihre Tochter verschwunden war. Diese Aussicht würde sie für immer daran erinnern.
Sie spürte den plötzlichen Impuls, einfach geradeaus ins Wasser zu fahren. Den Motor anzulassen und einfach so viel Gas zu geben, wie sie es auf der kurzen Strecke schaffte, um so weit draußen wie möglich zu landen.
Von dem kalten Wasser verschluckt zu werden und zu verschwinden. Das schien das einzige Rezept zu sein, diesem Albtraum zu entkommen.
Und sie musste wirklich aus ihm heraus, wurde Sara plötzlich klar.
An die Oberfläche kommen, um Luft zu holen, bevor sie ertrank.
Aber so sehr sie auch mit den Beinen strampelte, war die Oberfläche immer noch weit entfernt.
Es wurde immer schwieriger, zu atmen. Etwas Nasses traf ihre geballte Faust. Sie sah nach unten und bemerkte, dass sie zu weinen begonnen hatte, ohne dass es ihr bewusst gewesen war.
Sie sank auf dem Fahrersitz zusammen und legte die Stirn auf das Lenkrad. In dieser Haltung faltete sie die Hände und tat etwas, das sie nie zuvor getan hatte. Jedenfalls nicht richtig.
Sie betete zu Gott.
Sie betete, dass Gott Ebba verschonen möge, sie Sara nicht wegnehmen solle.
Sie bot ihm was auch immer als Ausgleich.
Ihr eigenes Leben. Ihre Art zu leben. Alles Geld, das die Familie besaß. Alles wiedergutzumachen, was sie Böses getan hatte, jeden Schmerz, den sie verursacht hatte.
Sie würde ihre Bürde tragen, ohne sich anschließend zu beschweren. Sie würde alle Sünden der Welt auf sich nehmen, wenn es nötig wäre.
Wenn sie Ebba nur lebend finden würde.
Durch das Lenkrad betrachtete sie ihre gefalteten Hände, auf die die Tränen tropften.
Das hier war ihre Kirche. Mehr Platz als hier brauchte sie nicht. Sie musste sich nur für das Ungewisse öffnen.
Lange saß sie noch mit gefalteten Händen da, ohne Worte zu finden. Nur eine Hoffnung, der sie bald wieder Leben einhauchen würde.
Denn ohne diese Hoffnung wäre es für Sara vorbei.
Als Anna anrief, fiel es Sara schwer, die Hände zu öffnen und das Gespräch anzunehmen. Die Freundin berichtete, dass Thea Hagtoft nicht nach Hause gekommen sei, wie Sara es angekündigt hatte.
Konnte etwas passiert sein? Wenn Omar Kush sie in die Fänge bekommen hatte?
Nicht bei einer so jungen Frau, dachte Sara und spürte, wie sich Panik in ihrem Körper ausbreitete.
Thea war für Sara ein Symbol für Ebba geworden, erkannte sie. Als könnte Sara vielleicht noch Ebba retten, indem sie sich um Thea kümmerte.
Sie drückte das Gespräch weg, öffnete die App Nanotrack erneut und sah, dass der blaue Pfeil sich über das Display bewegte. Thea war nicht zu Hause in Enskededalen. Sie war in Liljeholmen.
Wo einer der leeren Lieferwagen gefunden worden war.
Das konnte nur eine Sache bedeuten. Sie wollte Linus helfen.
Das dumme Huhn.
Sara ließ den Motor an, setzte zurück und wendete.
Mist, man durfte nur nach rechts von der Skeppsbron abbiegen. Und es gab Verkehrsinseln, die verhinderten, dass man es trotzdem versuchte.
Aber es gab einen Fußgängerüberweg.
Sara gab Gas und fuhr über die weißen Balken auf die andere Seite. Eine powerwalkende Frau in Tights, mit Kopfhörern und Baseballkappe, musste sich zur Seite werfen und rief Sara Flüche nach, aber zu diesem Zeitpunkt war sie bereits mit voller Fahrt auf dem Weg davon. Über die Guldbron und schließlich die Hornsgatan hinunter nach Hornstull. Sara hatte fast neunzig Stundenkilometer erreicht und konnte nur hoffen, dass kein unkonzentrierter Södermalmer die Idee bekam, vor das Auto zu laufen.
Theas Pfeil war weiter nach Westen zu dem Kai gewandert, der gegenüber der Insel Reimersholme lag. Von der Liljeholmsbron bemerkte Sara das große rotweiße Schiff, das Liljeholmsbad und das Panasonic-Schild, konnte dem Ganzen aber keinen Inhalt zuordnen.
Jetzt stand der Pfeil still.
Jetzt konnte es nur noch um Sekunden gehen.
Was würde passieren, wenn Thea auftauchte?
Sara bog bei den grünen, einstöckigen Reihenhäusern, die zu Nordströms Trä gehörten, nach rechts ab, während die Straßenbahn bei Rot halten musste. Alles voller Menschen, die nicht die geringste Ahnung hatten, wie vollständig die Panik war, die Sara gerade spürte. An einem großen Parkplatz auf einem leeren, zugemüllten Grundstück vorbei, während das Herz in der Brust hämmerte. Jetzt entdeckte Sara einen orangefarbenen Lieferwagen.
Wie hatte Omar Thea dorthin bekommen? Hatte er gedroht, Linus zu ermorden? Oder war es Theas eigene Idee?
Nach links in den Lövholmsgränd. Auf der rechten Seite Cementas riesiges Zementlager, das den großen Silos im Freihafen ähnelte. All das sollte abgerissen werden, damit dort Wohnungen gebaut werden konnten. Gut, dachte Sara noch. Der Ort fühlte sich auf eine seltsame Weise böse an.
Der Pfeil zeigte, dass Thea sich in einem Komplex befand, der sich Lövholmsbrinken nannte. Jede Menge Gewerbegebäude, die alle verlassen aussahen. Direkt vor der verrosteten Nitrolackfabrik, die abgesperrt war und gerade abgerissen wurde, stand ein schmutzig beiges Haus mit vernagelten Fenstern und verschmierten Wänden. Das Haus sah gleichzeitig traurig und bedrohlich aus. Eine ramponierte Tür war mit einer »2 A« versehen.
Sara fuhr auf die Rückseite und hielt auf dem Parkplatz. Eine Feuerleiter führte auf das Dach, eine Treppe hinunter in den Keller.
Keine anderen Autos, aber weil Thea zu Fuß gekommen war und Linus den Lieferwagen ein Stück weiter entfernt abgestellt hatte, hatte bestimmt auch Omar vermieden, sein Fahrzeug dort abzustellen, wo es verraten könnte, dass sich jemand im Haus befand.
Das Gebäude wirkte leer und unbenutzt. Eine halbe Treppe tiefer gab es eine massive Stahltür, daneben hing ein Schild mit der Beschriftung »Schutzraum«. Die Tür hatte einen ordentlichen Riegel mit Hängeschloss.
Aber es war nicht abgeschlossen, und der Riegel war aufgeklappt.
Sara öffnete die Karten-App im Handy, setzte eine Nadel auf den Ort und schickte das Bild an Anna, danach noch eine Mitteilung dazu.
»Thea, Linus u vielleicht Omar. Hier.«
Dann stieg sie aus dem Auto und ging zum Haus. Sah sich um und lauschte.
Alles wirkte ruhig.
Langsam und so leise wie möglich schlich sie die Treppenstufen bis zur Stahltür hinunter. Sie versuchte knirschenden Kies und lose Putzstückchen zu vermeiden. Ihre eigenen Atemzüge zu beruhigen.
Sie drückte den Rücken gegen die Wand und lehnte sich mit der Seite des Kopfes an die Tür, um besser hören zu können.
Nichts.
Sollte sie auf die anderen warten?
Das müsste sie eigentlich, aber sie wusste auch, wie lange sie noch brauchen würden, bis sie hier waren.
Und auch wenn sie Ebba nicht retten konnte, würde es vielleicht für Thea und Linus reichen. Aber in dem Augenblick, als sie es dachte, wusste sie, dass sie die Hoffnung auf ihre Tochter nie aufgegeben hatte. Sie war ihretwegen hier.
Sie drückte die Klinke herunter und zog die Tür langsam auf.
Dahinter war eine weitere Schutztür, mit großen Eisengriffen, die man drehen musste, um die Tür zu verschließen. Sie erinnerte sich an solche Griffe aus ihrer Kindheit. Die Tür war offen, und die Dunkelheit dahinter war kompakt.
Sara stieg vorsichtig über die Schwelle und lauschte.
Zuerst gar nichts, aber dann harte, metallische Schläge und ein Brüllen. Gedämpft, als würde es von weit her kommen oder hinter einer dicken Wand stattfinden.
Das Brüllen war dermaßen angsterfüllt, dass Sara sofort darauf zueilte. Hinein in die Dunkelheit, allein mit ihrer ausgestreckten Hand als Wegweiser. Ihr Herz hämmerte so hart in ihrer Brust, als würde es jeden Augenblick explodieren.
Mit der anderen Hand zog sie ihre Pistole.
Es knallte öfter, ein weiterer Schrei.
Sie bewegte sich auf das Geräusch zu, versuchte, die Eile, die sie empfand, gegen das Risiko abzuwägen, dass sie entdeckt wurde.
Das angsterfüllte »Neeein«, das sie gehört hatte, erschreckte sie, aber die Tatsache, dass es eine Männerstimme war, erleichterte sie zu ihrer Scham auch ein wenig.
Ihre Finger tasteten sich an der rauen Wand entlang, und sie ließ die Zehen vorsichtig vorfühlen, bevor sie die Füße aufsetzte, damit sie in der Dunkelheit nicht stolperte.
»Tu es! Komm schon!«
Eine andere Stimme als diejenige, die gerade gebrüllt hatte.
Die Worte waren deutlich zu hören. Sara war jetzt nah dran.
Ein dumpfes Brummen, dann mischte sich die andere Stimme wieder ein: »Tu es, sonst schleife ich sie!«
Saras Finger erfühlten die Konturen einer weiteren Eisentür, tasteten sich an die schweren Drehriegel heran und spürten, dass sie geöffnet waren.
»Ich kann nicht!« Jetzt hörte sie, dass es Toms Stimme war.
»Dann bist du schuld!«
Ein heulendes Geräusch von einer Maschine mit rotierenden Teilen.
»Nein, warte! Ich mache es!«, hörte sie Toms verzweifelte Stimme. Das heulende Geräusch verschwand und wurde von einem anderen Heulen ersetzt.
Sara schob die Tür auf und kniff die Augen zusammen, damit sie von dem Licht in dem Raum nicht geblendet wurde.
Sie konnte einen dunkelhäutigen Mann auf dem Boden erkennen, gefesselt und geknebelt. Er schien gelähmt vor Angst zu sein.
Tom Burén hielt eine Handkreissäge an den Kopf eines älteren Manns, der an den fleckigen Tisch gefesselt war, den Sara aus den Videos mit den Morden kannte. Die Handkreissäge lief und war der Stirn des Mannes gefährlich nahe.
Beide Hände des alten Mannes waren mit groben Metallstiften an die Tischplatte genagelt. Frisches Blut vermischte sich mit dem alten, angetrockneten.
Thea Hagtoft stand an der Videokamera und drehte verwundert den Kopf zu Sara.
Und neben ihr stand ein junger Mann, den Sara wiedererkannte, und hielt eine Schleifmaschine über Ebbas Gesicht.
Aber ihre Tochter lebte.
Sara brach beinahe zusammen, als sie es sah. Es war nur der Adrenalinkick, der sie auf den Beinen hielt.
»Linus!«, rief Thea dem jungen Mann zu, der Sara anstarrte.
Und dann fiel Sara ein, woher sie ihn kannte. Von der Polizeiwache.
Linus war in Wirklichkeit Harald Mobergs Sohn Sebastian.
Sebastian lenkte seinen Blick von Sara zu Tom.
»Mach weiter!«, brüllte er. Dann richtete er seine Augen wieder auf Sara, startete die Schleifmaschine und hielt sie direkt über Ebbas Gesicht.
Ihre Tochter schrie vor Angst, versuchte sich so klein zu machen wie möglich, aber sie konnte nirgendwohin entkommen.
»Beweg dich nicht!«, rief Sebastian Sara zu und zeigte ein siegessicheres Lächeln.
Als wäre sie eine unbeteiligte Beobachterin, nahm Sara wahr, wie sich ihre Hand mit der Pistole hob.
Sie sah es wie in einer Zeitlupe, aber ihr war klar, dass es blitzschnell gegangen sein musste, weil niemand anderes in dem Raum reagierte.
Ohne irgendein Zögern, ganz darauf fokussiert, einzig ihr Kind zu beschützen, sah sie, wie ihr Finger nun einen Schuss auslöste.
Direkt in die Stirn von Sebastian.
Sebastian stürzte, und die Schleifmaschine fiel nur Millimeter an Ebbas Gesicht vorbei zu Boden.
Als Sebastian am Boden lag, schoss Sara ihm noch zweimal in den Kopf. Den Rest des Magazins leerte sie in seinen Körper.
Dann blickte sie auf und begegnete Theas schockiertem Blick.
Und sah die Kamera, die alles gefilmt hatte.