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Ludmila und Maksim Popow waren wirklich gute Freunde von Agneta geworden.

Oder eher von Ilena. Unter diesem Namen kannten sie sie schließlich. Als Ilena, die Witwe, die losgereist war, um zu trauern. Und diese Person war bescheiden und aufrichtig froh über diese Freundschaft. Ilena war auch stolz auf ihre russischen Wurzeln, ganz im Gegenteil zu Agneta Broman. Sie trällerte Lieder, tauschte Erinnerungen aus, genoss das russische Essen. Das alte Paar hätte sich mit der Gesellschaftsdame Agneta oder der berechnenden Schläferin Desirée bestimmt nicht so tief eingelassen wie mit Ilena. Als Ilena konnte Agneta das ganze Gepäck fallen lassen, das ihre anderen Identitäten mit sich herumschleppten.

Als Ilena war Agneta zu den Popows nach Hause zu Tee und Kuchen eingeladen worden und am Tag darauf zum Abendessen. Sie hatten es sehr genossen. Anscheinend hatte Ludmila jemand gefehlt, mit dem sie sich austauschen konnte und der denselben Hintergrund hatte wie sie. Und das war bei Agneta ähnlich, erkannte sie.

Die Popows hatten Russland während der großen Turbulenzen in den Neunzigerjahren verlassen. Maksim hatte im Zusammenhang mit den Privatisierungen eine Nickelgrube übernommen und sie mit großem Gewinn geführt. Dann hatte er sie schnell an einen lokalen Gangsterboss verloren, und bei dieser feindlichen Übernahme hatte er sich so bedroht gefühlt, dass er mit seiner Frau nach England geflohen war.

Der schnell verdiente Reichtum war dabei genauso hastig wieder verschwunden, und hier in Fen Ditton hatte er stattdessen eine kleine Autowerkstatt eröffnet. Er hatte so viele Geschäftsleute bei den großen Bandenkriegen in den Neunzigern sterben gesehen, dass er selbst diesen Weg auf keinen Fall hatte einschlagen wollen. Ilena lobte seine Entscheidung, als sie in ihrer kleinen Hütte mit Strohdach saß und Tee trank. Er hatte das Leben gewählt.

Agneta war auch froh über ihre eigene Wahl. Sie hatte die ganze Zeit gute Laune gehabt, seit sie sich entschieden hatte, und jetzt gab es kein Zögern mehr.

Nach dem ersten Abend hatten Agneta, Ludmila und Maksim mehrere Male in der Woche gemeinsam zu Abend gegessen. Russisches Essen, das Agneta nicht mehr gegessen hatte, seit sie ein Kind gewesen war. Nicht nur Borschtsch, sondern auch Blinis mit Lachs und Dill, Pelmeni mit Lamm, säuerliche Kohlsuppe, Bœuf Stroganoff, Soljanka, russischen Salat, Okroschka, Schuba, Zharkoje, Pirogen mit Fisch.

Geschmäcker, die sie an ihre Kindheit denken ließen, die Jahre als Pionier, ihre Mutter und ihren Vater, das Leben als Lidija. Alles, was sie aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte, um als Agneta leben zu können, tauchte jetzt wieder auf. Es war wie eine unsichtbare Schrift, die plötzlich wieder lesbar wurde. Eine vierte Person, die sich darum schlug, die Herrschaft über ihren Kopf zu erlangen.

Die Geschmäcker und die Erinnerungen versöhnten sie mit dem kleinen Mädchen, das sie einst gewesen war, ließen sie einsehen, dass sie das, was sie aus Wut über den Tod ihres Vaters geschworen hatte, schon weit mehr als erfüllt hatte. Sie hatte das Ziel ihres Lebens erreicht und alles Recht, sich jetzt zurückzuziehen.

Als Ludmila also gesagt hatte, dass sie eine zurückgelegte Dose mit echtem russischen Kaviar öffnen würde, um ihn gemeinsam mit Ilena zu verspeisen, hatte Ilena beschlossen, einen richtig edlen Champagner zu kaufen und ihn mitzubringen. Sie hatte sich nach Cambridge hineingewagt, war mit einer Baseballkappe und gesenktem Kopf in die Stadt gegangen und hatte das Risiko auf sich genommen, von den Überwachungskameras entdeckt zu werden, nur um die Möglichkeit zu haben, Ludmila und Maksim zu zeigen, wie sehr sie ihre Freundschaft schätzte, indem sie einen richtig guten Champagner kaufte. Louise Roederer Brut Vintage 2014 .

Die GRU suchte bestimmt nicht mehr in England nach ihr, sondern ging davon aus, dass sie das Land seit Langem verlassen hatte. Aber der MI 5 könnte durchaus eine permanente Suche nach ihr installiert haben, falls ihr Gesicht auf irgendeiner Kamera in der Nähe der Savile Row hängen geblieben war. Es war schwer einzuschätzen.

Hier war sie jedenfalls sicher, das spürte sie. In diesem kleinen Dorf mit ihren guten Freunden, den Popows.

Als Schläferin sollte man niemals jemanden nahe an sich herankommen lassen, sich niemals erlauben, Sympathien für jemanden zu entwickeln. Aber Ilena konnte es tun. Sich öffnen. Geheimnisse teilen. Richtige Freunde haben.

Als sie jetzt mit ihren lieben Freunden zusammensaß, die dieselben Wurzeln hatten wie sie, spürte Agneta sehr stark, dass sie ihr Leben als Ilena mochte.

Und sie wusste ja, dass sie weitermachen konnte, solange es ihr gefiel.

Schönberg würde sie nicht finden, und auch sonst niemand. Fen Ditton war ein wunderbares kleines Dorf, und Ludmila und Maksim eine ergiebige Bekanntschaft.

Vielleicht könnte sie mit der Zeit sogar die Tür zu ihrer Vergangenheit ein Stückchen öffnen. Ilena mit Agneta und Lidija verschmelzen und nur Desirée draußen lassen. Die Freunde würden sie sicher als diejenige akzeptieren, die sie eigentlich war. Sie wussten genau, aus welcher Ära Agneta stammte. Sie hatten ihre eigenen schmerzhaften Erfahrungen in dieser Welt gemacht.

Allmählich ging der ausgezeichnete Kaviar zur Neige und der Champagner dem Ende entgegen. Ilena fragte, ob sie möglicherweise eine Tasse Tee bekommen könnte.

Jetzt hatte sie sich entschieden, und sie war vollkommen zufrieden mit ihrer Wahl.

Sicherheit stand gegen Spannung, Ruhe gegen Aktivität. Und der Sieg ging an …

Als Ludmila in die Küche ging und den Wasserkocher füllte, stand Ilena auf und streckte sich. Sie trat hinter Maksims Sessel und tat so, als würde sie die Porzellanfiguren auf dem Regal an der Wand mustern.

Insgeheim holte sie das Etui aus der Tasche und öffnete es.

Jetzt war sie nicht mehr Ilena.

Es war Desirée, die den Kampf um Agneta gewonnen hatte.

Sie griff nach der kleinen Spritze, stellte sich dicht hinter Maksim, packte sein Kinn und zog den Kopf schnell zurück, während sie die Nadel in seinen Hals stach.