Sie war unglaublich schnell. Sie war stärker, aber Anna war unheimlich gewitzt und giftig. Jetzt stand sie vor ihr und fütterte Saras Oberschenkel mit Lowkicks, und nach fünf, sechs Stück begann es wirklich wehzutun. Bald würde sie auf diesem Bein nicht mehr stehen können, dachte Sara. Aber sie wusste auch, dass Anna nur darauf wartete, dass sich eine Lücke für eine Schlagserie gegen ihren Kopf auftat, weshalb sie die Deckung nicht senken wollte. Und sie wollte auch nicht zurückweichen, denn das würde Anna den Raum für einen hohen Tritt geben. Stattdessen hielt sie es aus und suchte nach einer Öffnung in Annas Fighting Stance. Ihr reichte der Bruchteil einer Sekunde, in der die Beine zu weit auseinanderstanden, dann hatte Sara einen schnellen Tritt in den Schritt von Anna gesetzt. Als Anna vor Schmerz zusammenzuckte, lieferte Sara eine Links-rechts-Kombination ab, die ihren Sparringspartner erschütterte, dann machte sie einen Schritt hinein und brachte ihre Freundin mit einem alten, ehrenwerten Hüftwurf zu Boden. Sie folgte mit nach unten, legte den Arm von hinten um Annas Hals und nahm ihn in einen harten Würgegriff, einen Rear Naked Choke.
Anna versuchte es auszuhalten, aber als es nicht mehr ging, klopfte sie ab. Zwei schnelle Klopfer auf Saras Schulter, und Sara lockerte sofort den Griff.
Dann legten sich beide auf die weiche Trainingsmatte und keuchten und schwitzten um die Wette.
Trotz oder dank der heftigen Schmerzen im Oberschenkel und im Rücken war sie froh. Sie hatte wieder mit dem Training begonnen. Und es fühlte sich fast wie früher an. Natürlich konnte sie Anna als beste Freundin behalten, obwohl sie mit Lina zusammen war. Und sie konnten weiter den Trainingsraum verwenden, den Martin ihnen in dem alten Speisesaal eingebaut hatte, indem er ihn an den Wänden und auf dem Fußboden mit alten Matten ausgekleidet hatte. Wenn man auf dreihundert Quadratmetern wohnte, war es natürlich klar, dass man einen eigenen Dojo zu Hause hatte, und wenn man ihn hatte, dann sollte man ihn auch nutzen.
Nach der Dusche folgte ein gemeinsames Frühstück mit Smoothies in allen Farben des Regenbogens. Wenn man einen Mixer zu Hause hatte, sollte man ihn auch nutzen. Während des fröhlichen Schlürfens durch Strohhalme fragte Sara, warum Anna jetzt, als Teil eines Pärchens, mehr Zeit auf das Schminken verwendete als damals, als sie noch Single gewesen war. War es nicht normalerweise anders herum? Anna meinte, dass sie ja jetzt jemanden habe, für den sie sich schön machte, statt jeder Menge hypothetischer Liebesbeziehungen, aus denen niemals Wirklichkeit wurde.
Sara konnte nicht anders, als sich davon reizen zu lassen.
»Liebt sie dich nicht so, wie du bist?«, fragte sie.
»Das werde ich wohl niemals erfahren«, antwortete Anna mit einem schiefen Lächeln.
Nach dem Frühstück gingen sie gemeinsam zum Kornhamnstorg hinunter. Anna musste zur Arbeit, und Sara sollte bei Titus & Partners vorbeikommen. Kleine, dünne Schneeflocken segelten langsam vom Himmel herab, überlebten den Kontakt zur Erde aber nicht. Noch war der Winter nicht ernsthaft gekommen, aber er machte sich schon deutlich bemerkbar.
»Elf zu drei«, sagte Sara.
»Elf zu drei, wobei?«
»Für mich. Unsere Kämpfe in diesem Jahr.«
»Was, zählst du etwa mit?«
»Ja?«, erwiderte Sara in einem Tonfall, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Dann ließ sie den Gedanken eine Weile in Annas Kopf herumschwirren und genoss die Verwirrung im Gesicht ihrer Freundin.
»War nur ein Witz. Natürlich zähle ich nicht.«
Anna entspannte sich wieder und lachte auf.
»Sehr witzig«, sagte sie und lächelte.
»Denn wenn ich mitgezählt hätte, wäre es eher zwanzig zu null geworden.«
Dann umarmte sie Anna und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Nach Östermalm und zu Titus & Partners.
Am Ende hatte sie nachgegeben – nachdem Tom wochenlang auf sie eingeredet hatte und Koslow geschworen hatte, dass Gloria keine heimliche Geliebte war, sondern der Deckname für das Infrastrukturprojekt, von dem der ehemalige Diplomat gesprochen hatte. Eine Zusammenarbeit zwischen mehreren Ländern, zu denen unter anderem Russland, Deutschland und Schweden gehörten. Das sei die Zukunft, hatte Koslow gesagt, und die wollte doch niemand verpassen, oder?
Nach dem Trauma, das Ebba und Tom erlitten hatten, fand Sara, dass es ein großer Minuspunkt für Tom war, als er direkt wieder anfing, vom Konzern und diesem verdammten Bauprojekt zu erzählen. Aber er ließ nicht nach, und wenn es jetzt darum ging, dass Sara ein paar Papiere unterschreiben sollte, dann war es wohl einfacher, wenn sie es einfach tat, dachte sie nach einem weiteren Telefongespräch mit dem zukünftigen Schwiegersohn. Dann wäre endlich mit dem Gerede Schluss.
Also wanderte sie jetzt am Wasser entlang, sah möglichst nicht zum Kastellholmen hinüber und versuchte, sich nicht über all die Paare und Gruppen aufzuregen, die für den Gegenverkehr keinen Platz machten. Vollkommen egozentrisch und unreflektiert. Wie eine Herde aus Kühen, die vorwärts getrieben wurde und sich über gar nichts Gedanken machte.
Während sie am Nybroplan auf Grün wartete, schaute sie zur protzigen Fassade des Dramatischen Theaters aus Marmor und Blattgold hinauf. Ein Tempel für diejenigen, die fanden, dass Kultur eher imponieren als engagieren sollte. Dann überquerte sie die Straße und folgte dem Strandvägen nach Osten. An den Schaufenstern von Svensk Tenn vorbei, die mit Einrichtungsgegenständen diejenigen umwarben, die verzweifelt spüren mussten, dass ihr Leben geglückt war, und außerdem noch ein Jahresgehalt für ein Sofa ausgeben konnten. Bromans hatten ihr Haus mit Svensk Tenn eingerichtet, und Sara nahm an, dass ihre Abneigung daher rührte.
An der Torstenssonsgatan bog sie ab und ging zu Titus & Partners’ elegantem Bürokomplex hinauf, in dem Tom mit den unterschriftsfertigen Papieren auf sie wartete. Sara fand, dass er nach dem Mordversuch viel zu früh zur Arbeit zurückgekehrt war, aber sie hatte ihn nicht dazu überreden können, länger zu Hause zu bleiben. Er meinte, dass der Konzern sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen dürfe, sondern auf den Zug aufspringen müsse.
Tom und Ebba hatten auch begonnen, nach einer größeren Wohnung zu suchen. Tom sollte die Kinder jede zweite Woche haben, weniger als sechs Zimmer konnte er sich daher nicht vorstellen. In Östermalm selbstverständlich. Was Tom mit seinem Geld anfing, ging Sara natürlich nichts an, aber dass Ebba auf jeden Fall als halbe Eigentümerin eingetragen werden sollte, fand sie weniger gut. Erst in einer riesigen Wohnung in Gamla Stan aufzuwachsen, dann eine Zweizimmerwohnung in Mosebacken zu bekommen und jetzt plötzlich die Hälfte einer Paradewohnung für zig Millionen zu besitzen. Ihre Tochter war noch nicht einmal zwanzig geworden.
»Steigen Sie ein!«
Sara wollte gerade die Riddargatan auf der Höhe des Büros überqueren, als ein metallicgrauer älterer Sportwagen ohne Dach vor ihr bremste und den Weg blockierte.
Am Steuer saß Tore Thörnell.
Sara betrachtete das schwarze Pferd auf der gelben Marke an der Motorhaube.
»Ist das ein Ferrari?«
»Ferrari 308 GTS i.« Thörnell freute sich offenbar über die Frage. »Modelljahr 1982 , importiert aus den USA . Der erste Eigentümer war ein Filmproduzent in Hollywood. Ich habe gehört, dass er Das China-Syndrom und Warum eigentlich … bringen wir den Chef nicht um? produziert hat. Sie können hier immer noch die Marke des Filmstudios erkennen.«
Thörnell zeigte auf einen kleinen Aufkleber, der in der unteren Ecke der Windschutzscheibe saß und den Text »Fox« neben einem Symbol präsentierte, das Sara aus dem Vorspann einiger Filme kannte.
»Wie gesagt, steigen Sie ein. Hier können wir nicht stehen bleiben.«
Sara ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Beifahrerplatz. Die Unterschriften konnten noch eine Weile warten.
Das Coupé roch nach altem Leder. Thörnell ließ den Motor an, der hinter ihnen nach einem Tiger auf Steroiden klang, und sie fuhren los.
»Ist der Motor hinten?«, fragte Sara verwundert.
»Jaja, natürlich«, sagte Thörnell. »Und er läuft mit bleifreiem Benzin. Das war in Kalifornien schon 1982 Gesetz. Die Westküste dort ist Europa oft voraus, was den Umweltschutz betrifft. Haben Sie sich angeschnallt?«
Auf dem Norr Mälarstrand drückte Thörnell den Gashebel zu Boden und überholte todesverachtend einen Audi-SUV , obwohl er Gegenverkehr hatte. Aber der italienische Sportwagen kehrte rechtzeitig vor der möglichen Kollision in seine Spur zurück. Er nahm den Drottningholmsvägen nach Bromma, kreuzte die ganze Zeit zwischen den Fahrspuren.
»Sie hatten angeblich Kontakt mit Koslow«, sagte er nach einer Weile.
»Ja. Wegen Gloria.«
»Hat er endlich jemanden getroffen?« Thörnell lächelte. »In meiner Welt ist er bekannt als jemand, der verzweifelt nach Liebe sucht. Am besten einer sehr viel jüngeren Liebe. Wie alt ist diese Gloria?«
Auf der geraden Stecke vom Brommaplan zur Nockebybron erreichte der pensionierte Oberst die hundertdreißig. Der Motor brüllte hinter ihnen, und Sara war gezwungen, die Stimme zu heben, damit ihre Antwort an Thörnell überhaupt zu hören war.
»Es ist anscheinend keine Frau, sondern ein Projekt, das Titus & Partners mit den Russen und den Deutschen verfolgen.«
»Und Koslow ist darin verwickelt? Dann weiß ich, worum es geht«, sagte Thörnell und runzelte die Stirn.
»Tom hat mich gebeten, das Projekt zu retten.«
»Das kann ich mir vorstellen, es gibt etliche Milliarden zu verdienen. Und wie sollen Sie es retten?«
»Als Repräsentantin der Eigentümerfamilie. Wir sollen bei dem Geschäft mitmachen, nehme ich an«, sagte Sara und wünschte sich, sie hätte eine Mütze mitgenommen. Der eiskalte Herbstwind biss sie in die Wangen, als sie über die Nockebybron fuhren. »Ich war gerade auf dem Weg dorthin, um die Papiere zu unterschreiben.«
»In dem Punkt würde ich Ihnen empfehlen, es zu unterlassen.«
Thörnell blinkte nach links und bog am Schloss Drottningholm ab.
»Ohne mir zu erzählen, warum, natürlich«, sagte Sara und seufzte. »Vergessen Sie es einfach.«
Thörnell parkte und drehte sich mit ernster Miene zu ihr um.
»Ich kann es Ihnen erzählen. Der russische Energieriese Gazprom hat Pipelines über den Boden der Ostsee gezogen. Nord Stream 1 und 2 , um Naturgas nach Europa transportieren zu können. Um den Zugang zur Energie für Europa zu sichern, sagen sie. In Wirklichkeit sichern sie die zukünftige Abhängigkeit Europas von russischer Energie.«
»So funktionieren doch alle Firmen, oder? Sie versuchen, ein Monopol zu bekommen«, sagte Sara und betrachtete den Waldrand vor ihnen, so grün und lauschig im Sommer, aber jetzt, im Herbst, waren die Zweige der Bäume kahl, als sie sich in den novembergrauen Himmel spreizten.
»Russland hat mehrere Male gezeigt, dass sie ihr Öl und ihr Gas dazu benutzen, um andere Länder zu steuern. Sehen Sie sich nur die galoppierenden Energiepreise hier in Schweden an. Russland sagt ganz offen, dass sie die Preise senken können, sobald wir Nord Stream 2 anerkennen.«
»Das ist ja die reinste Erpressung.«
»Na klar. Gazprom ist ja auch nicht irgendeine x-beliebige Firma. Sie wird komplett von alten KGB -Leuten kontrolliert. Sie besitzen Gazprom, Rosneft, Aeroflot, die Eisenbahnen, die Banken, alles. Und sie versuchen, in Europa zu expandieren. Darum gibt es auch Leute, die das gesamte Projekt als sicherheitspolitisch ausgesprochen unglücklich betrachten«, sagte Thörnell und zog die Augenbrauen hoch.
»Und diese Leute sind Ihre Freunde in der Nato?«
Sara seufzte. Mit dieser Einsicht war der angenehme Herbstausflug in einem Sportwagen in eine reine Manipulation verwandelt. Erneut war Sara nur ein Stein in einem Spiel, das sie nicht überblicken konnte, in dem unterschiedliche Parteien sie für ihre eigenen Zwecke verwenden wollten. Aber welche von ihnen waren gut, welche böse, gab es da überhaupt einen Unterschied? Und warum musste sie in das Ganze hineingezogen werden?
Thörnell schien ihre Skepsis nicht zu bemerken, oder vielleicht kam er gerade deswegen auf Hochtouren.
»Sowohl in der Nato als auch hier in Schweden«, sagte er. »Aber leider sind die Klarsichtigen nur in der Minderzahl. Die Russen verwenden ihre Ölmilliarden, um Firmen zu kaufen und Einfluss im Westen zu bekommen. Sie haben große Summen in die konservative Partei in Großbritannien gelenkt, haben gut bezahlte Posten an Politiker wie Schröder, Fillon, Schüssel, Lipponen, Berlusconi und unseren eigenen Schildt vergeben. Die alle natürlich dem Kreml dienen. Die EU hat nichts, was sie dem russischen Vordringen entgegensetzen kann, denn die europäischen Firmen werden von dem Geld geblendet, das sie verdienen können. In den Augen mancher Beobachter ist Gazprom nichts anderes als eine Invasionsarmee. Die aufgehalten werden muss.«
»Und wie?«, meinte Sara und fragte sich erschöpft, was das alles mit ihr zu tun hatte.
»Kommen Sie. Waren Sie schon einmal im chinesischen Schlösschen?«
»Das letzte Mal als Schülerin.«
Thörnell musste über ihre Verwunderung lachen.
»Dann wird es aber langsam wieder Zeit.«
Er schloss das Auto mit einer kleinen, viereckigen Fernbedienung ab, und sie gingen los.
»Es herrscht eine gewisse Uneinigkeit unter meinen Freunden, was dieses Geschäft betrifft«, fuhr der pensionierte Oberst fort. »Wie Sie ja wissen, ist Titus & Partners ein Teil der sogenannten unsichtbaren Front. Das Unternehmen gibt dem schwedischen Geheimdienst die Möglichkeit, im Namen des Konzerns in einer ganzen Reihe von Ländern zu wirken. Und das ist auch gut. Und wenn die Titusgruppe in dieses Geschäft mit den Russen einsteigt, bekommen sie die Möglichkeit, jede Menge Geld zu verdienen und außerdem einen ordentlichen Einblick in die Abläufe zu erhalten.«
»Aber?«, fragte Sara und betrachtete das protzige Gebäude, in dem König Carl Gustaf und Königin Silvia ihre Tage verbrachten.
»Genau. Aber. Teile von Nord Stream verlaufen durch schwedische Gewässer, und die Bedingung für Titus & Partners, sich an den reichlich gedeckten Tisch zu setzen, besteht darin, dass sie den Reichstag dazu bringen, eine Klausel abzusegnen, die Gazprom und der russischen Regierung das Recht gibt, diese Leitung militärisch zu schützen. Das heißt ein Recht für den Kreml, auch in schwedischen Gewässern Einsätze durchzuführen, bei Bedarf auch das Recht, sich auf Gotland mit militärischen Basen festzusetzen.«
»Und Gotland ist der Nabel der Verteidigung der Ostsee und Schwedens, so habe ich es in der Schule gelernt.«
Sara zog eine Grimasse.
»Genau. Das ist also ein extrem wichtiger Punkt«, sagte Thörnell und schlug den Kragen des Mantels gegen die Kälte hoch.
»Und wie sollen Titus & Partners diesen Punkt durch den Reichstag bekommen, dass die Russen die Leitung militärisch schützen dürfen?«
Thörnell lächelte.
»Freunde, Kontakte, Zugänge. Wenn man den richtigen Leuten Aufsichtsratsposten, Reisen oder Optionen zu guten Preisen gibt. Also Lobbyarbeit, ganz einfach. Mit einem Kontaktnetz, wie Eric es hatte, war alles möglich. Es kann so aussehen, als würde Schweden Einblick bekommen, während wir in Wirklichkeit infiltriert werden. Die Frage ist, wer hier wen an der Nase herumführt.«
»Okay, sie wollen also ihre Gasleitung beschützen. Ist das denn so gefährlich?«
»Nicht, wenn es dabei bleibt. Aber das tut es natürlich nicht.«
»Und woher wissen Sie das?«, sagte Sara skeptisch und zog den Mantel enger um den Körper, während sie durch den Schlosspark gingen, vorbei am Herkulesbrunnen und Adriaen de Vries’ Bronzefiguren.
»Russland sieht sich als das dritte Rom. Nach dem antiken Rom und dem Byzantinischen Reich in Konstantinopel. Die Führer im Kreml spüren, dass es Russlands historisches Schicksal ist, die dominierende Großmacht der Welt zu werden.«
Sie hatten das chinesische Schloss erreicht. Ein rosa Märchenschloss, das am ehesten an eine Hochzeitstorte erinnerte. Sara war erstaunt, wie hübsch es war und welchen begrenzten Nutzen es gehabt haben musste. Es war offensichtlich nicht bewohnt. Sie ging näher heran und sah durch eines der Fenster hinein. Ein wahnsinnig schöner Saal. Genauso erschien es durch alle anderen Fenster. Orientalische Muster, Golddekorationen, Faltschirme, Kronleuchter. Aber all diese schönen Säle waren leer.
»Wozu war es da?«, fragte Sara und wandte sich an Thörnell.
»Es war ein Geburtstagsgeschenk an Königin Lovisa Ulrika. Am 24 . Juli 1753 .«
»Das ist alles? Kein Nutzen? Wie überflüssig.«
Sara schüttelte den Kopf.
»Ist Schönheit jemals unnütz?«, wandte der pensionierte Oberst ein und lächelte sie an. »Und es steht heute noch hier, und Lovisa Ulrika ist schon lange weg. Von den meisten vergessen.«
Sara wusste nicht, was sie mit Thörnells Information anfangen sollte. Sollte sie sich auf ihn verlassen oder auf Tom? Auf einen pensionierten Kalter-Krieg-Romantiker oder auf ihren zukünftigen Schwiegersohn? Politik oder Geschäft? Beide Wege waren für Sara gleich uninteressant. Wenn sie das tun würde, was Thörnell ihr gesagt hatte, bräuchte sie zumindest noch etwas im Gegenzug. Informationen, die sie interessierten.
»Wussten Sie, dass Titus & Partners im Sudan aktiv war?«
»Ja«, sagte Thörnell und betrachtete sie. »Eines der weiteren Territorien, in denen Eric Titus den pekuniären Gewinn mit dem Spionagebonus kombinieren konnte.«
»Waren sie dort auch im schwedischen Interesse unterwegs?«
»Umstürzlerische Elemente im Auge behalten«, war die Formulierung, die Thörnell dafür wählte. »Was sie auch konnten, dank ihrer Sicherheitsfirma Valkyria. Der Sudan war und ist ein Unterschlupf für Terroristen, mit mehreren unterschiedlichen Trainingslagern. Osama bin Laden hatte in den Neunzigerjahren seine Basis im Sudan.«
»Meinen Sie, dass Titus & Partners deswegen dort war? Nicht wegen des Öls?«
Sie waren ganz allein auf dem Platz, bemerkte Sara. Das war wohl kein populäres Ausflugsziel an einem Vormittag im November, und damit hatte Thörnell natürlich auch gerechnet. Oder gab es noch einen anderen Grund dafür, dass er sie ausgerechnet hierhergebracht hatte?
»Das eine schließt das andere ja nicht aus«, sagte Thörnell und unterbrach ihren Gedankengang. »Ein Teil von Erics Größe steckte ja in der Fähigkeit, unterschiedliche Vorteile in seiner Tätigkeit zu kombinieren, deshalb hatte er auch überall Freunde. Seine Pläne waren fast genial.«
»Pläne, die meine Tochter fast das Leben gekostet hätten«, war das Einzige, was Sara darauf erwidern konnte. Sie wollte nicht über Eric reden, nicht mehr hören, wie wichtig ihr Schwiegervater für die Sicherheit Schwedens gewesen war. Was er seinem eigenen Sohn angetan hatte, wie kurz davor er gestanden hatte, Martin und sie selbst zu töten, zählte das etwa nicht? Musste sie sich für den Rest ihres Lebens solche Lobgesänge auf Eric anhören, wenn sie weiter ein Teil von Titus & Partners blieb? Das wäre wohl ein guter Grund, sich aus dem Betrieb zurückzuziehen und Ebba übernehmen zu lassen. Die innere Ruhe, die sie vor einigen Wochen zu Hause auf dem Sofa verspürt hatte, wäre dann wohl leichter wiederzufinden. Vielleicht sollte sie mit dem Meditieren beginnen?
»Das ist wirklich interessant«, sagte Thörnell. »Ja, natürlich nicht das Schreckliche, das Ihrer Tochter passiert ist. Aber dass Mobergs Sohn seine furchtbare Idee aus dem Bericht zog, den X-Ray geleakt hatte. Wissen Sie, was X-Ray ist?«
»Irgendein Hackerkollektiv, das die Mächtigen bloßstellt.«
»Ein russisches Hackerkollektiv, das die Mächtigen im Westen bloßstellt. Sie werden von der GRU rekrutiert und finanziert, dem Geheimdienst des russischen Militärs. Die ebenfalls Geschäfte und Politik vermischen, genau wie Eric. Sie veröffentlichten den Bericht über Sandin nur, weil sie der ausländischen Konkurrenz der russischen Ölfirmen schaden wollten. Wahrscheinlich auf Befehl des Kremls, in dem ein hochrangiges Regierungsmitglied eigene wirtschaftliche Interessen in der Ölbranche hat. Sie hatten bestimmt nicht damit gerechnet, dass Titus & Partners mit hineingezogen und damit auch ihre eigenen Interessen bedroht würden.«
»Aber ist es damit jetzt vorbei? Können wir durchatmen?«
Sie wollte nichts lieber, als dass alles vorbei war. Dass die Erinnerungen an alle Spione und Terroristen verblassen und von den kleinen alltäglichen Sorgen ersetzt würden, mit denen sie ihre Zeit verbracht hatte, bevor hier alles begonnen hatte. Olle morgens zur Schule zu schicken, das Abendessen für die ganze Woche zu planen, sich bei Peters müden Witzen auf der Arbeit zu Tode zu langweilen, das langsam alternde Gesicht im Badezimmerspiegel zu beobachten.
»Viele würden sagen, dass es nur der Anfang ist«, sagte Thörnell. »Und Sie können dabei sein und es beeinflussen. Wenn Sie Titus & Partners’ Geschäfte mit Nord Stream nicht unterstützen, können wir eine lebensgefährliche Gesetzesänderung vermeiden.«
»Es klingt, als wären sehr starke Interessen darin verwickelt«, sagte Sara und musterte Thörnell. »Gibt es da etwa auch eine Gefahr für meine Familie?«
»Liebe Sara, ganz risikofrei kann niemand leben.«