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Das Gartencafé Lasse i Parken war für die Saison geschlossen, sonst hätte Sara dort gerne einen Kaffee getrunken, um diesen Augenblick zu feiern. Stattdessen kümmerte sie sich direkt darum, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag das Instrumentengeschäft im Souterrain. Sie hatte schon auf dem Weg hierher beschlossen, dass sie bei der Auswahl relativ schnell sein wollte. Sie wollte die Geige nehmen, die sich am besten anfühlte, alles andere zählte nicht.

Also stand sie jetzt mit einer antik lackierten Gewa Maestro II in der Hand, während der Mann an der Kasse siebentausendsechshundert Kronen von ihrer Karte abzog.

Es war an der Zeit, zu Bach zurückzukehren.

Die letzten Wochen waren die ruhigsten des ganzen Jahres gewesen.

Ebba und Tom waren verlobt und kümmerten sich gemeinsam um Titus & Partners. Sara hatte Tom gesagt, dass er den Konzern von allem Unmoralischen befreien sollte, und er war darauf eingegangen. Widerwillig akzeptierte er auch ihre Entscheidung, die Papiere zum Projekt Gloria nicht zu unterschreiben.

Sowohl Ebba als auch Sara gingen nach den Ereignissen weiter zur Therapie, und Sara fand, dass aus ihrer Tochter gerade ein ganz anderer Mensch wurde. Sie las Bücher. Dag Hammarskjölds Zeichen am Weg . Eckhart Tolles Jetzt! Die Kraft der Gegenwart , Viktor Frankls Über den Sinn des Lebens . Sogar im Wartezimmer der Therapeutin nahm sie sich ein Buch und las. Es war schrecklich, dass sie Sebastian Mobergs furchtbarer Behandlung ausgesetzt gewesen war, aber ein kleiner Lichtblick war, dass sie daran gereift war. Oder dass sie es durchgehalten hatte.

Sara war immer noch krankgeschrieben, sollte aber bald wieder in den Dienst zurückkehren. Sie freute sich darauf. Anna hatte erzählt, dass Nina Werkström weg und Bielke wieder da war. Sein Haar war grauer geworden, hatte Sara festgestellt, als sie in der Wache vorbeigesehen hatte, um sich bei den Kollegen für das zu bedanken, was sie für Ebba geleistet hatten. Er sah definitiv schwächer aus als vor seiner Schussverletzung und hatte außerdem begonnen, einen Siegelring mit dem Familienwappen am kleinen Finger zu tragen. Anna hatte Sara fest in die Arme genommen, und Sara hatte die Umarmung ebenso fest erwidert. Aber dann hatte die Freundin direkt Grüße von Lina ausgerichtet und damit sofort jede Illusion getötet, dass die Freundschaft genauso war wie früher. Das würde sie wohl niemals mehr sein.

George Taylor Jr. und seine Leute warteten immer noch auf ihren Prozess, aber er hatte keinen Versuch mehr unternommen, mit Sara in Kontakt zu treten. Er schien ihren Namen in den ganzen Vernehmungen durch die Polizei auch niemals genannt zu haben, da keiner der Ermittler sich bei ihr gemeldet hatte. Der Gedanke an die Nachrichten, die sie ausgetauscht hatten, machte sie immer noch ein bisschen unruhig, aber Sara nahm an, dass sie mittlerweile langsam durchatmen konnte.

Martin hatte wieder angefangen, mit seiner Hobbyband zu üben, und ging jede Woche zu den Sitzungen der Anonymen Drogenabhängigen. Und er hatte eine eigene Firma gegründet, mit der er denjenigen Künstlern unter die Arme griff, die Go Live fallen gelassen hatte, weil sie zu klein für den internationalen Riesen waren. Er wohnte nach wie vor bei Marie in Bromma, und Sara sagte, dass sie es wohl noch eine ganze Weile so brauchen würde.

Sie kam aus der Tobakspinnargatan mit ihrer Neuerwerbung in der Hand. Sie freute sich schon darauf, endlich die Töne gegen das Dach und die Wände des riesigen Wohnzimmers prallen zu lassen. Sara musste zugeben, dass sie diese Akustik liebte.

Wenn Lasse i Parken schon einmal geschlossen war, gab es immer noch eine Reihe von anderen Cafés in Hornstull. Sie lenkte ihre Schritte dorthin und beschloss auf dem Weg, in das Espresso House zu gehen. ilcaffé hatte den besseren Kaffee, aber dort bekam man das Gefühl, dass alle Besucher miteinander darum kämpften, wer von ihnen über den Laptops hockend am besten ausstrahlte, dass er einen kreativen Job und etwas so Magisches wie Deadlines hatte.

Als sie gerade die Långholmsgatan überquert und das Hornhuset erreicht hatte, summte das Handy mit einer Nachricht von Martin.

»verletzt hilf mir«

Und dazu eine Karte mit einem Pfeil in der Nähe von Karlbergs slott.

Sara rief direkt an, bekam aber keine Antwort. Stattdessen eine weitere SMS :

»kannich redn blute«

Warum konnte er nicht reden? Hatte er sich den Kopf verletzt? Den Mund? Warum war er bei Karlbergs slott? Ja, das war ja eigentlich nicht weit weg von Bromma. Vielleicht war Martin joggen gewesen, auf einer zugefrorenen Pfütze ausgerutscht und hatte sich den Kopf aufgeschlagen? Oder war er überfallen worden? Und als Geisel genommen? Nach allem, was passiert war, vermutete Sara immer gleich das Schlimmste.

Sie musste mehr erfahren, also nahm sie ein Taxi. Das Bauchgefühl sagte ihr, dass sie zuerst zu Hause am Kornhamnstorg vorbeifahren und ihre Pistole holen sollte. Und die Geige dort ablegen. Dann zeigte sie dem Chauffeur die Karte mit dem Pfeil, und er fuhr um Slussen herum, auf den Söderleden und weiter auf den Klarastrandsleden.

Als er nach Tomteboda abbog, begann Sara zu protestieren, aber dann legte der Fahrer einen U-Turn ein und erklärte, dass dies die einzige Methode sei, um zu dem Ort zu kommen, den sie ihm gezeigt hatte. Schließlich bog er nach links erneut auf den Klarastrandsleden ab und stellte sich in eine kleine Einfahrt vor zwei großen Eisentoren, auf denen »Rörstrands Bootsklub« und »Bootsklub St. Erik« stand. Laut dem Pfeil auf der Karte befand sich Martin im St.-Eriks-Bootsklub. Neben den großen, geschlossenen Toren für Fahrzeuge befand sich auch eine kleinere Tür, die offen stand.

Sara stieg aus dem Taxi und ging hinein. Schlich sicherheitshalber leise voran und hielt sich an die Wand gedrückt. Der ganze große Platz bis zum Wasser hinunter war voller Boote, die über den Winter angelandet waren.

Martin war nirgendwo zu sehen. Und da sie nicht den Grund wusste, warum er nicht sprechen konnte, wäre es auch ziemlich dumm, ihn zu rufen.

Also ging sie herum und suchte.

Sah in die Lücken zwischen den aufgebockten und mit Persenningen überzogenen Booten. Es waren nur wenige große, protzige Exemplare, eher kleinere Motorboote aus Kunststoff oder Holz, und die meisten hatten schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Ein sympathischer Klub, dachte Sara. Kein Anschein von Angeberei, nur reine Freude am Wasser.

In der hinteren Ecke lag eine braune Hütte, von der Sara vermutete, dass sie als Klubhaus diente. Sie klopfte an und probierte die Klinke, aber sie war abgeschlossen, und niemand öffnete.

Das Handy summte. Ein Anruf von Martin, aber bevor Sara antworten konnte, hörten die Signale wieder auf.

Sara rief daraufhin Martins Handy an und hörte tatsächlich ein Klingeln hinter sich.

Sie blickte auf die etwa fünfzig aufgespannten Persenningen, unter denen sich die Boote für den Winter versteckten.

Die Töne kamen irgendwo aus der rechten Reihe, nahe am Wasser.

Sara begann auf das Geräusch zuzugehen, allerdings in einer ausweichenden Bewegung hinter der Bootsreihe herum, damit sie nicht direkt darauf zukam. Sie schlich so leise wie möglich, spähte und lauschte die ganze Zeit. Wenn es eine Art Falle war, musste ihr Gegner wissen, dass sie in der Nähe war. Aber wenn es wirklich nur Martin war, der hier ernsthaft verletzt lag, musste sie ihn finden. Sie kam immer näher heran, das Geräusch wurde immer lauter. Mitten in einem Gang zwischen den aufgebockten Booten blieb sie stehen.

Die Signale kamen aus einem der größeren Boote, einem Aquador 25 HT .

Unter dem Boot lag eine zusammengeklappte Aluminiumleiter, auf die der Name des Besitzers und eine Nummer aufgemalt waren.

Sara zog die Leiter heraus, klappte sie auseinander und stellte sie an die Reling.

Dann zog sie die Kante der Persenning hoch, sodass eine Lücke entstand, und kletterte an Bord.

Ein breites, graues Sofa auf dem Achterdeck, eine kleine Küche, vorne zwei riesige Sessel und eine Tür hinunter in eine Kajüte. Durch einen Spalt in der Tür hörte sie das Handyklingeln.

Sara kletterte hinunter und schob vorsichtig die Tür auf. Auf einer breiten Doppelkoje lag Martins Handy und klingelte.

Aber kein Martin.

Sara ging hinüber und hob das Handy auf. »Sara« stand auf dem Display.

Dann sah sie die Fotos, die an der Wand der Kajüte hingen.

Zwei Kinder.

Zwei Jungen.

Die Kinder auf den Fotos kamen ihr bekannt vor.

Sara kroch über das Bett und betrachtete die Jungen näher.

Es waren Lottas Kinder.

Sie befand sich auf Lottas Boot.

Als die Erkenntnis allmählich in Sara einsickerte, hörte sie plötzlich hastige Schritte hinter sich. Sie drehte sich schnell um, sah aber nur noch eine große Plastikfolie, die sich auf sie senkte.

Während sie darum kämpfte, unter der Plane hervorzukommen, wurde sie brutal umgestoßen, kurz darauf spürte sie einen heftigen Schmerz in der Taille. Sie sah nach unten und entdeckte eine Messerklinge, die die Persenning durchschnitten hatte und in ihren Bauch eingedrungen war.

Aber nicht tief, dachte sie noch, bevor das Messer wieder herausgezogen wurde und sie instinktiv begriff, dass der Angreifer gleich wieder zustechen würde.

Sara rollte auf der Koje zur Seite, und gleichzeitig stieß das Messer erneut durch die Persenning und schnitt sie in den Oberarm. Es hätte eigentlich wehtun müssen, aber das Adrenalin, das durch ihren Körper floss, betäubte den Schmerz. Durch das verstärkte, halb durchsichtige Plastik sah sie die Umrisse einer Frau. Und sie erkannte das übertriebene Bewegungsmuster von unzähligen Spielen in der Kindheit.

Lotta.

Wie zum Teufel konnte sie hier sein? Sie war doch vom deutschen Geheimdienst mitgenommen worden. Sie sollte lebenslang im Gefängnis sitzen.

Sara versuchte, unter der Persenning hervorzukommen, aber Lotta setzte das Knie auf die untere Kante der Kunststofffolie und drückte sie an die Wand.

»Jetzt kommst du nirgendwo mehr hin«, sagte Lotta zufrieden. »Jetzt wirst du niemals erfahren, was mit Martin passiert ist.«

Dann sah Sara, wie die verschwommene Gestalt erneut den Arm hob. Mit ihrem fixierten Opfer konnte Lotta so oft zustechen, wie sie wollte. Aber Sara wollte kein Opfer sein.

Schließlich erwachte die Polizistin in ihr. Eine Hand bewegte sich zur Taille und griff nach der Pistole.

Im selben Moment, in dem Lotta zustach, ignorierte Sara den Schmerz, der im Rücken und im Bauch zu pochen begann, und schob die Hüfte hoch, damit die Angreiferin das Gleichgewicht verlor. Das Messer stach zwei Zentimeter neben Saras Kopf in die Matratze.

In der Zeit hatte sie die Pistole auf Lotta gerichtet, so gut es die enge Falle erlaubte, in der sie gefangen war.

Sie bekam die Pistole nicht höher als bis zur Taille.

Ohne richtig zielen zu können, richtete sie einen Schuss auf Lotta, die mit einem Schrei reagierte. Mehr aus Zorn als aus Schmerz, wie es klang, aber sie wich zumindest einen Schritt zurück. Schien zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Als Sara erneut schoss, ergriff sie die Flucht.

Blutend kämpfte sich Sara unter der Persenning hervor und hörte noch, wie Lotta die Tür zur Kajüte schloss und sie von außen verriegelte. Ein scharfer Geruch nach Benzin und schließlich ein flammendes Geräusch, als das Feuer auf der anderen Seite der geschlossenen Tür hochschlug.

Der Brandgeruch stach in der Nase und versetzte sie zurück in den brennenden Geräteschuppen in Bromans Garten. Als hätte sie sich niemals daraus befreien können und wäre in den Flammen gestorben. Gefangen in ihrer eigenen Hölle. Für ein paar Augenblick stand sie wie versteinert in der Kajüte. Unfähig, irgendetwas zu tun, während der dicke Rauch sich einen Weg in den kleinen Raum suchte. In Saras Kopf leckten die Flammen bereits an ihrem Körper hoch, brannten und versengten die Haut. Sie krümmte sich auf der Koje zusammen und sah sich panisch um. Als sie bemerkte, dass ihr Handy auf dem Boden lag, bückte sie sich instinktiv und hob es auf, wobei das Display aufleuchtete. Ein Foto von Ebba und Olle am Strand, ein paar Jahre alt, der Sohn zog eine lustige Miene für die Kamera, und Ebba, die sich in ihrer schlimmsten Pubertätsphase befand, lächelte ein bisschen widerwillig. Sara schüttelte sich. Sie musste hier raus. Musste sich retten.

Wartete Lotta draußen?

Hatte sie noch eine andere Waffe zu ihrer Verfügung? Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Das Denken wurde zäher.

Sara hatte keine Wahl, also trat sie gegen die dünne Tür.

Einige Bootsbesitzer leerten den Tank über den Winter, während andere ihn auffüllten. Gehörte dieses Boot zu der letzteren Kategorie, würde das Feuer bald zweihundert Liter Benzin in die Luft jagen.

Sara trat immer fester. Als die Tür schließlich erste Risse zeigte, warf sie sich dagegen. Immer und immer wieder, während sie vor Schmerzen schrie.

Schließlich gab das Holz nach.

Sara warf sich mit schussbereiter Pistole durch die Öffnung, aber Lotta war nicht dort. Ein leerer Benzinkanister lag auf dem Deck, und das breite Sofa im Heck stand in Flammen. Die Persenning, die das Boot bedeckte, hinderte das Feuer daran, sich auszubreiten. Der dicke Rauch ließ Sara husten, und sie dachte, dass sie so schnell wie möglich fliehen sollte, aber dann sah sie etwas Rotes im Augenwinkel und hielt inne.

Alle Motorboote mussten Feuerlöscher an Bord haben, und einen solchen hatte Sara am Fahrerplatz entdeckt.

Innerhalb weniger Sekunden war das Feuer gelöscht.

Sara kletterte mühsam vom Boot herunter und ging. Keine Spur von Lotta.

Für den Fall, dass das Feuer erneut entflammen sollte, rief Sara die Feuerwehr an. Dann sah sie, dass frisches Blut an ihr austrat, und alarmierte auch den Rettungswagen.

Und dann rief sie Anna an. Aber nicht ihre anderen Kollegen. Sie musste erst herausfinden, was Lotta wollte.

Jetzt konnte sie mit gutem Gewissen sagen, dass die Persenning sie daran gehindert hatte, das Gesicht des Angreifers zu erkennen. Sie wollte die Identität des Feinds für sich behalten, und vor allem wollte sie wissen, wie Lotta die Möglichkeit bekommen hatte, sie anzugreifen, obwohl sie vom deutschen Geheimdienst mitgenommen worden war.

Würde das hier niemals aufhören? Würde sie niemals zur Ruhe kommen?

Während sie auf die Feuerwehr und den Rettungswagen wartete, verwandelte sich ihre Resignation in Zorn. Damit würde Lotta nicht davonkommen.

Aber was auch immer sie plante, es musste etwas Großes sein.

Und da erinnerte sich Sara, was die Kindheitsfreundin gesagt hatte.

»Du wirst niemals erfahren, was mit Martin passiert ist.«

Sie rief in der Villa der Familie Titus an, aber niemand meldete sich. Auch nicht an Maries Handy.

Sie musterte erneut ihre Verletzungen, kletterte in ein anderes Boot und fand dort einen Verbandskasten. Sie klaute ein paar Kompressen und Gazebinden und verband sich selbst. Ihr Rücken tat weh, aber der Schmerz lag auf einem erträglichen Niveau. Als schließlich Anna mit einer besorgten Miene auftauchte, sagte Sara ihr, dass sie wenden und sie nach Bromma fahren solle.

Die Feuerwehr würde das verbrannte Boot selbst finden, und um es ihr zu erleichtern, schoss Sara das Vorhängeschloss an den großen Toren des Bootsklubs kaputt.

Anna sah Sara an, als würde sie sich über ihren Geisteszustand Gedanken machen und sich fragen, was sie eigentlich vorhatte.

Aber als Sara ihr sagte, dass sie fahren solle, fuhr sie.