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Sara wachte aus einem Albtraum auf. Oder eher aus konkurrierenden Albträumen.

Während sie nach dem Handy tastete, das eindringlich auf dem Nachttisch klingelte, kreisten ihre Gedanken weiter um das, was sie die ganze Nacht wach gehalten hatte: was Marie über Lotta und Martin und Eric erzählt hatte. Dass Lotta eine Affäre mit dem Vater und dem Sohn gehabt hatte. Mit beiden ins Bett gehüpft war.

War das auch passiert, nachdem Martin und Sara schon zusammen waren?

Schwierig herauszufinden, und Sara wünschte sich, dass sie sich nicht so sehr darum kümmern würde, wie sie es tat. Dass die Bilder in ihrem Kopf, die sie sich von den beiden ausmalte, nicht so sehr wehtun würden.

Am Tag zuvor hatte sie sich aus Maries Griffen gewunden und die Villa verlassen. War in Annas Auto gestiegen und hatte sie gebeten, zu fahren.

Hatte die Familie Titus hinter sich gelassen, hoffentlich für immer.

»Ja?«, war das Einzige, was sie herausbekam, als sie den Anruf endlich entgegennahm.

Und dann kam der nächste Albtraum.

Während der Ermittlungen zu George Taylor Jr. und seinem kriminellen Netzwerk war herausgekommen, dass die Nummernschilder von Saras Auto von den Polizisten notiert worden waren, die beim Zugriff im Freihafen dabei gewesen waren. Die Nummern aller Autos auf dem Parkplatz waren aufgezeichnet und kontrolliert worden, und zur Verwunderung der ermittelnden Beamten war auch Saras Auto vor Ort gewesen.

Sara murmelte nur etwas davon, dass ein Kumpel es geliehen hätte, um nach Tallinn zu fahren, sie würde sich später noch einmal melden.

Zum Frühstück wurde eine weitere Katastrophe serviert. Ein schläfriger Olle bekam die Anweisung, der Katze Walter Essen zu geben, als Saras Handy erneut klingelte und sie zum Fluchen brachte. Auf diesem Bildschirm wurden niemals irgendwelche guten Nachrichten angezeigt. Sie dachte, dass es vielleicht um ihre Nachrichten an George Taylor Jr. ging, und beschloss, das Gespräch außerhalb der Hörweite ihres Sohns zu halten. Walter jammerte lautstark, als sie die Küche verließ.

Es war ihr Chef Bielke, der ihr mitteilte, dass sie wegen des Tods von Sebastian Moberg angezeigt worden war. Thea Hagtoft behauptete, dass Sara nicht bedroht gewesen sei, als sie Sebastian erschossen hatte. Thea meinte, dass es eine Hinrichtung gewesen sei, die sich im Keller auf Liljeholmen abgespielt hätte, und sie habe das Ganze gefilmt.

Aber die Speicherkarte steckte nicht in der Kamera, was zweifellos ein verblüffender Umstand war. Ob Sara etwas über diese Speicherkarte wisse, wollte Bielke wissen. Sara verneinte und erklärte, wenn sie Sebastian nicht erschossen hätte, wäre Ebba gestorben. Das könne auch Tom Burén bezeugen. Burén war ein guter Zeuge, aber Thea hatte Conny Mårtensson als Anwalt, und Harald Mobergs Frau hatte versprochen, für die Anwaltskosten aufzukommen. Sie war offensichtlich außer sich, weil die Polizei den Tod ihres Mannes nicht verhindert und dann zu allem Überfluss auch noch ihren Sohn erschossen hatte. Sie weigerte sich zu glauben, dass ihr geliebter Sebastian auch nur das Geringste mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte. Und Peggy Moberg hatte über ihren Mann viele einflussreiche Freunde. Bielke beendete das Gespräch mit dem Hinweis, dass sie weiter darüber sprechen würden, wenn Sara in der nächsten Woche wieder auf der Arbeit sei.

Und darüber hinaus war auch noch Lotta Broman auf freiem Fuß und zurück in Stockholm.

Lotta war es missglückt, Sara umzubringen, aber sie hatte für immer einen Keil zwischen sie und Martin schlagen können, indem sie ihr das Bild geschickt hatte. Und auf lange Sicht hatte sie vielleicht auch Martin umgebracht, indem sie ihm Heroin gegeben hatte, das ja ein extremes Suchtpotenzial mit sich brachte. Ein weiterer Albtraum. Sara hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, am Ende aber einen Brief an ihren Mann geschrieben und ihm erklärt, dass sie ihn anzeigen und versuchen würde, ihm das Sorgerecht für Olle zu entziehen, wenn er sich nicht sofort bei einer Entzugsklinik anmeldete.

Lotta wusste, wie sie sich verhalten musste, um ihrer alten Kindheitsfreundin zu schaden, sie wusste, dass Martin ein wunder Punkt für Sara war, weil er in Lotta verliebt gewesen war, bevor Sara ihn hatte erobern können. Und auch wenn Sara niemals an Martins Gefühlen für sie gezweifelt hatte, wusste sie, dass eine unglückliche Liebe in der Jugend tiefe Spuren in der Seele hinterlassen konnte. Es war beinahe so, als hätte Lotta einen direkten Eingang in Martins Herz, den sie nutzen konnte, wann immer sie wollte.

Aber das Schlimmste an Lottas Hass war, dass er Saras Familie treffen konnte.

Was, wenn Lotta plötzlich auf Ebba oder auf Olle losgehen wollte? Oder auf Jane, die sie verachtete, seit sie ein Kind gewesen war?

Wie sollte Sara ihre Nächsten vor Lotta schützen?

Worauf war sie aus? Kaum war sie zurückgekommen, hatte sie auch schon Sara angegriffen. Kaum war sie zu Erics Haus gefahren, hatte sie mit Martin geschlafen und ihm Heroin gegeben.

Und wie war sie dem BND entkommen?

Sie musste in ihrer Eigenschaft als Terroristin Geiger nach Stockholm zurückgekommen sein, überlegte Sara. Der Fanatismus ihrer Kindheitsfreundin kannte keine Grenzen, und Geiger war mehr als ein Deckmantel für Lotta, eher ein ideologischer Kern, ihr wirkliches Ich. Aber was war dann der Plan?

Was hatte sie in Erics Villa gesucht?

Und warum war auch Koslow so interessiert daran?

Hatten sie beide denselben Grund? Etwas, das Eric versteckt hatte, hatte Koslow gesagt.

Aber was?

Wenn Lotta nicht nur eine Affäre mit Eric gehabt, sondern auch mit ihm zusammengearbeitet hatte? Geiger und Faust gemeinsam? Hätte sie in diesem Fall gewusst, dass er Doppelagent war? Sara zweifelte daran. Die große Bromanschwester war zwar nicht unkompliziert, aber in jedem Fall sehr vorhersagbar, was ihre Loyalitäten betraf.

Sara wurde klar, dass sie nicht einfach hier sitzen und auf Lottas nächsten Zug warten konnte. Sie musste zum Angriff übergehen. Der Kindheitsfreundin zuvorkommen. Herausfinden, was ihr Plan war. Sonst würde es beim nächsten Versuch vielleicht nicht so gut für Sara laufen, und zusätzlich könnten ihre Familienmitglieder auch noch zu Zielscheiben werden.

Sara wusste einen Ort, an dem sie nach mehr Informationen sowohl über Geiger als auch über Faust suchen konnte. In Eva Hedins Archiv.

Nachdem Sara Hedin ermordet aufgefunden hatte, hatte sie alle Papiere an sich genommen. Dutzende Regalmeter mit Mappen, Artikeln und Büchern, die sie zu sich in den Arbeitsraum verfrachtet hatte.

Sara duschte und zog sich an, bevor sie sich zu den unzähligen Umzugskartons begab, die nach wie vor das umfangreiche Archiv beherbergten.

Als sie durch die Mappen blätterte, tauchte die ganze erschreckende Geschichte mit Geiger und Abu Rasil wieder auf. Das Stay-put-Programm im Deutschland des Kalten Krieges und die Atomsprengköpfe, die seit den Tagen der DDR im Erdboden vergraben waren, so wie es sie auch im Westen Deutschlands gab, in Erwartung einer Invasion durch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt.

Sie blätterte alles durch, was Stellan Broman und den Spion Geiger betraf, als den Eva Hedin fälschlicherweise Stellan identifiziert hatte. Sara erinnerte sich an die sogenannten Honigfallen, denen Lotta und ihr Führungsoffizier Ober etliche einflussreiche Leute ausgesetzt hatten. Und wie sie mit derselben Rücksichtslosigkeit jede Menge minderjähriger Mädchen ausgenutzt und damit ihr Leben zerstört hatten.

Sara ging auch das Material durch, das Hedin über den Terroristen Otto Rau gesammelt hatte, der unter dem Decknamen Faust lief und sich am Ende als der Doppelagent Eric Titus herausgestellt hatte, Saras eigener Schwiegervater. Er hatte seine Verbindungen zu den westlichen Geheimdiensten dazu genutzt, eine unfassbar grausame Peepshow zu betreiben, in der Frauen vergewaltigt und Männer gefoltert wurden, manchmal bis zum Tode. Nur um den Zuschauern Vergnügen zu bereiten.

Lotta war Geiger gewesen und Eric Faust. Und sie waren Geliebte gewesen.

Was konnte Lotta heute zu Erics Haus getrieben haben?

Sara fand Hedins Aufzeichnungen über Otto Rau. Diese Informationen hatte die Erforscherin des Kalten Kriegs in Berlin erhalten. Und in der Mappe zu Faust stand eine Telefonnummer in Deutschland, neben der der Name Rabe stand.

Warum sollte sie sie nicht ausprobieren?

Sara rief die Nummer an, bekam aber keine Antwort und wurde auch nicht an einen Anrufbeantworter durchgestellt, also legte sie einfach auf und las weiter in den Mappen.

Nach etwa einer Viertelstunde zeigte ihr Display eine deutsche Telefonnummer, mit dem vom Betriebssystem unterbreiteten Vorschlag: »Vielleicht: Die Zeit

»Hier Sara Nowak.«

»Sie haben angerufen«, sagte eine männliche Stimme auf Englisch mit leichtem deutschen Akzent.

»Arbeiten Sie für Die Zeit

»Offiziell ist das hier die Reporterin Inez Becker, die Sie wegen der alten Spione anruft, die im Sommer in Schweden ermordet wurden, und offiziell weigern Sie sich, sich dazu zu äußern. Aber Inez redet genauso lange auf Sie ein, wie wir beide für das Gespräch brauchen. Während Sie und ich uns niemals unterhalten haben. Worum geht es?«

»Ich habe Ihre Nummer von Eva Hedin bekommen«, sagte Sara und setzte sich aufrecht auf den Boden, wo sie die Akten gelesen hatte.

»Das glaube ich nicht. Es sei denn, Sie sind ein Medium.«

»Ich habe Zugang zu ihrem Archiv.«

»Passen Sie gut darauf auf«, sagte die Stimme.

»Ich entnehme ihren Aufzeichnungen, dass Sie ihr mit Informationen zu Faust beziehungsweise Otto Rau geholfen haben.«

»Das war nicht ich«, lautete die schnelle Antwort. »Sondern Landau. Aber der ist jetzt tot.«

»Ermordet?«, fragte Sara.

»Er hat sich totgesoffen von Hedins Geld.«

Erics Geld, dachte Sara.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte«, sagte Rabe. »Bitte seien Sie so nett und streichen meine Nummer aus allen Papieren, die Hedin hinterlassen hat.«

»Wissen Sie etwas über Faust?«

»Nein.«

»Otto Rau? Eric Titus?«, fragte Sara beharrlich weiter.

»Leider nicht.«

»Lotta Broman? Geiger?«

»Nein. Das war Landau, wie gesagt. Aber dafür kommen Sie zu spät.«

»Abu Rasil?«

Ein kurzes Schweigen.

»Kommen Sie her.«

»Was?«

Sara runzelte die Stirn, drückte das Handy ans Ohr. Hatte sie richtig gehört?

»Kommen Sie her. Und sagen Sie den Namen niemandem.«

»Wohin kommen?«

»Berlin.«

»Wo in Berlin?«, fragte Sara.

»Das erfahren Sie, wenn es an der Zeit ist. Fahren Sie einfach.«