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Oben auf dem Berg über Eisenach lag eine riesige Burg, als wäre sie einem mittelalterlichen Märchen entsprungen. Der Palas verlieh der Stadt einen fast mythischen Glanz. Der gewaltige Burgbau beherrschte die Umgebung und dominierte die Landschaft. Der Palas schien ebenso sehr im Himmel wie auf der Erde zu liegen, es war, als wolle er die beiden Welten zusammenführen und gehöre ebenso zu der einen wie zu der anderen.

Die tausendjährige Fassade wurde von modernen Scheinwerfern angestrahlt, aber in der zunehmenden Dämmerung war das Gefühl, in ein Märchen einzusteigen, besonders ausgeprägt.

In ein Märchen oder in einen Albtraum.

In ihrem Inneren hörte Sara die gemeine Stiefmutter rufen: »Aschenputteeel.«

»Die Wartburg«, sagte Schönberg, während er gleichzeitig Sara mit Gesten zu verstehen gab, dass sie an die Seite fahren und anhalten solle. Sie war auf einer schlängelnden Straße den Berg hinaufgefahren, und jetzt lag eine Art Wachstation vor ihnen, mit einer Schranke, die ihnen den Weg versperrte. Der Laubwald mit roten und gelben Blättern an den Hängen auf beiden Seiten der Straße wurde allmählich in der Dunkelheit ertränkt.

»Dort hat Martin Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt«, fuhr der BND -Chef fort. »Der Geburtsort einer neuen Weltordnung, könnte man sagen. Von hier aus müssen wir den Rest des Weges gehen.«

Sobald sie aus dem Wagen gestiegen waren, glitt ein groß gewachsener Mann in einer schwarzen Uniform aus den Schatten hervor. Das Gesicht war von einem Schutzhelm sowie einer Sturmhaube verdeckt. In der Hand hielt er eine Heckler & Koch MP 5 K, und auf der Brust saß eine deutsche Flagge, begleitet von dem Wort »Polizei«. Auf der Schulter befand sich eine Marke mit dem Schriftzug »GSG 9 «. Deutschlands berühmte Antiterroreinheit.

»Sie sind vor Ort«, sagte er. Zumindest glaubte Sara, dass er so etwas gesagt hatte, es fiel ihr schwer, den deutschen Worten zu folgen. »Alle sind bereit.«

»Und Marienborn?«

»Alle verhaftet.«

»Gut. Rücken Sie vor«, sagte Schönberg und deutete mit dem Arm nach vorne. »Wir folgen Ihnen.«

Die Einsatzkraft sah Sara an.

»Sie ist Polizistin«, sagte Schönberg.

Der Polizist nickte, drehte sich um und glitt wieder in die Schatten. Der BND -Chef und Sara folgten ihm über den steilen Pfad zur Burg hinauf.

»Wir haben das Fußvolk verhaftet«, sagte Schönberg über die Schulter zu Sara nach hinten. »Diejenigen, die die Sprengungen auslösen sollten. Jetzt sind nur noch die Hauptpersonen übrig.«

Sara fragte sich, ob es eine dumme Idee war, Schönberg zu folgen. Hätte sie nicht einfach nach Hause fahren können? Aber dann erinnerte sie sich an Lotta und Koslow und die erschossenen Polizisten. Da hielt sie sich doch besser an den Deutschen, der hoffentlich genug Macht hatte, um sie reinzuwaschen.

Aber was würde jetzt passieren? War Lotta auf ihrer oder auf Jadowegs Seite? Wer war oben in der Burg? Würden sie sich ohne Kampf ergeben?

Und wie ging es ihrer Familie zu Hause? Machten sie sich Sorgen? Hatten sie von dem gegen sie gerichteten Verdacht gehört, dass sie angeblich Koslow erschossen hatte? Sara sah die Gesichter von Olle und Ebba vor sich und blieb einen Augenblick stehen. Plötzlich fiel ihr das Atmen bei dem steilen Anstieg schwer. Wenn sie hier nur mit heiler Haut herauskam, würde sie sich niemals mehr irgendwo einmischen, schwor sich Sara. Nie im Leben.

Sie zwang sich, auf das zu achten, was vor ihr lag. Sie näherten sich allmählich, hoch über ihnen thronte die Burg.

Was hatte Lotta hier vor? Jadoweg treffen? Und Abdul Mohammad? Hatte sie die Codes dabei, die sie in Erics Haus gefunden hatte? Würden Schönberg und seine Männer tatsächlich alle verhaften können, bevor es zu spät war?

Sara war ganz versunken in ihre eigenen Gedanken und bemerkte nicht das Geräusch von schnellen Schritten, die sich näherten, die erstickten Rufe, gedämpften Schläge und den Klang eines Körpers, der zu Boden fiel.

Sie lief deshalb direkt in den Polizisten hinein, der sie hierhergeführt hatte und jetzt unten im Laub lag, außer Gefecht gesetzt. Tot oder bewusstlos.

Sie sah sich in der Dunkelheit um und konnte gerade noch ausmachen, dass eine schwarz gekleidete Gestalt Schönberg etwas ins Gesicht sprühte, der sofort neben ihr zu Boden fiel.

Sara drehte sich um, auf der Suche nach anderen Polizisten, sah aber nur einen schwarz gekleideten Mann mit einer Sturmhaube.

Und auf die Stirn dieser Sturmhaube war ein großes, rotes V gestickt.

Er hob seine Hand und sprühte Sara etwas ins Gesicht.

Sie hatte das Gefühl, dass sie haltlos durch den Weltraum zu einem unbekannten Planeten hinunterfiel. Die Luft war kalt, und sie wusste nicht, was dort unten auf sie wartete, wenn sie gelandet war.

Aber als sie auf den harten Boden schlug, war sie bereits bewusstlos.