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»Befehl an die Sklavin: Aufwachen.«

Jemand zog sie am Haar, so fest, dass Sara sofort von den Schmerzen geweckt wurde.

Sie schlug die Augen auf und sah einen riesigen Saal in mittelalterlichem Stil vor sich. Goldverzierungen, orientalische Muster, Kronleuchter hoch über ihnen.

Sie lag auf dem Boden. Die Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, der sich in der unbequemen Haltung verkrampft hatte.

Neben ihr wachte Schönberg auf, und an der Tür war ein schwarz gekleideter Valkyria-Mann mit einer automatischen Waffe postiert.

Sara setzte sich auf. Vor ihr und Schönberg standen Lotta, der Mann von den Bildern in der Kirche von Bromma und ein älterer Mann in einem fußlangen Thawb, einer Ghutra auf dem Kopf und einer goldenen Rolex am Handgelenk.

Geiger, Oleg Jadoweg und Abdul Mohammad.

Mit einer amüsierten Miene hielt Lotta Thörnells kleinen GPS -Tracker in die Luft und betrachtete Sara.

»Ich dachte schon, du wolltest mich auf irgendeine Art doppelt austricksen. Einen GPS -Tracker in der Tasche zu verstecken erschien mir viel zu einfach. Aber ich hatte dich überschätzt. Und hier bist du tatsächlich.«

Schönberg drehte sich in eine sitzende Haltung und sah Jadoweg an, der ihn mit einem Lächeln begrüßte.

»Das war wohl nichts mit Ihrem Plan, einen Maulwurf in den Kreml einzuschleusen«, sagte Jadoweg auf Englisch mit einem russischen Akzent. »Jurij ist verschwunden. Nur ich bin noch hier.«

»Haben Sie ihn umgebracht?«

Der BND -Chef blinzelte zu dem Russen hoch. Sara sah, dass seine Brille ein paar Meter weiter auf dem Boden lag.

»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«

»Ich habe hundert Mann, die in einer halben Stunde hier sein werden«, erwiderte Schönberg hastig.

»Das hier ist in vier Minuten vorbei.«

Jadoweg amüsierte sich über Schönberg, der immer noch nicht aufgegeben hatte.

»Wir haben die Männer in Marienborn verhaftet.«

»Warum?«, entgegnete Jadoweg ruhig. »Eine Gruppe arabischer Gastarbeiter. Das war sehr vorurteilsvoll von Ihnen.«

»Sie sollten die Bomben zünden. Wir haben ihre Gespräche aufgezeichnet.«

Schönberg sah siegesgewiss aus, aber sein Lächeln verblasste, als der Russe auf das rote V zeigte, das seinen Kragen schmückte.

»In solchen Situationen ist es besser, die Profis den Job machen zu lassen«, sagte Jadoweg und lächelte diabolisch. »Valkyria hat sehr viel mehr Erfahrung mit dem Zünden von Bomben.«

Schönberg hatte Mühe, die Information zu verdauen.

»Also war Marienborn nur …«

»Eine kleine Ablenkung.«

Schönbergs Blick flatterte für ein paar Sekunden, bevor er einen neuen Versuch unternahm, die Kontrolle zurückzugewinnen.

»Die Bomben werden nicht explodieren«, sagte er. »Sie sind zu alt.«

»Nur, wenn der Werwolf seine Arbeit nicht getan hat.«

»Was für eine Arbeit? Hat er etwa …?«

Jadoweg sah geradezu erschöpft aus, als wäre er enttäuscht von einem Schachgegner, der weit unter dem eigenen Niveau spielte. Als sollte das, was er sagte, eine Selbstverständlichkeit für sämtliche Anwesende sein.

»Er bekam eine Milliarde Dollar, um die Bomben auf Vordermann zu bringen.«

»Sie lügen«, sagte Schönberg hastig und sah sich in dem Raum um. Sara studierte die Gesichter von Lotta und Abdul. Blufften sie?

»Was hätte ich davon? Glauben Sie etwa, ich wäre hier, wenn ich nicht wüsste, dass es sich so verhält? Dass die Bomben eine neue Weltordnung herbeisprengen werden?«

»Hat Dmitrij Zerkowskij dafür gesorgt, dass die Atomsprengköpfe unter der Erde funktionieren?« Schönberg sah erschüttert aus. »Und dann haben Sie ihn aus dem Weg geräumt? … Oder eher … ich.«

»Ja. Vielen Dank für die Hilfe«, sagte Lotta und schenkte ihm ein höhnisches Lächeln. »Ein Zeuge weniger.«

»Und die offizielle Version wird sein, dass islamistische Terroristen alte, vergrabene sowjetische Bomben gezündet haben?«

»Genau das. Die Version, die Sie selbst etabliert haben, indem Sie die Armee des Propheten gejagt haben«, sagte Abdul und trat einen Schritt vor.

»Haben Sie wirklich vor, sie zu sprengen?«

Der BND -Chef betrachtete die Umstehenden ungläubig.

»Das ist unsere Rache dafür, dass die Mauer gefallen ist«, sagte Lotta mit glühenden Augen.

»Wie viele sind es denn?«, fragte Schönberg an Jadoweg gewandt. »Und wie stark sind sie?«

»Sehr stark«, sagte der Russe. »An der gesamten alten Grenze entlang. Auf unserer Seite, wir opfern also unsere eigene Erde.«

»Unsere?«

»Ja, die uns gestohlen wurde, als die Mauer fiel. Russlands Sicherheitszone.«

»Daraus wird eine neue Grenzlinie«, sagte Lotta. »Ein Graben statt einer Mauer.«

»Lotta«, sagte Sara und holte tief Luft. »Eric hat dich ausgenutzt. Er war Doppelagent und steuerte dich im Auftrag von Stay Behind. Was du getan hast, stärkte den Polizeistaat und nicht den Sozialismus.«

»Ich war diejenige, die ihn ausgenutzt hat. Und jetzt bekomme ich meine Rache«, antwortete die Kindheitsfreundin ungerührt.

Sara überlegte schnell.

»Warum machen Sie das hier?«, fragte sie Jadoweg.

»Weil es mich amüsiert. Das Leben macht doch nur Sinn, wenn es lustig ist, oder?«

Sie nickte und wandte sich wieder Lotta zu.

»Lotta, glaubst du wirklich, er wird dich am Leben lassen? Du bist auch eine Zeugin, genau wie dieser Werwolf.«

»Nein, ich bin keine Zeugin. Wir stehen auf derselben Seite. Und wir sind die ganze Zeit Erics Plan gefolgt, genau wie Herr Schönberg hier auch.«

»Erics Plan?«, fragte Sara und zwinkerte ungläubig.

»Ja, nur ist unser Schluss etwas anders als der von Schönberg. Der BND wollte die Armee des Propheten und Jadoweg festsetzen. Es war eine ausgezeichnete Idee, uns zusammenzuführen, vielen Dank dafür.«

»Sie haben mich an der Nase herumgeführt«, spuckte Schönberg in Richtung Lotta aus und klang, als könnte er es gar nicht fassen.

»Ist all das hier Erics Plan?«, wandte sich Sara an Schönberg. »Nicht Ihrer?«

Das Unbehagen und der Zorn schwollen in ihr an. Sie hatte Eric bedeutend besser gekannt als der arrogante Schönberg hier. Sie begriff, dass noch mehr dahintersteckte, wenn es Erics Plan war. Und sie war wahnsinnig wütend auf den Deutschen, weil er sich auf ihren Schwiegervater verlassen hatte.

»Sie wollten meine Hilfe, um an diejenigen heranzukommen, die die Informationen zu den Bomben kauften und verkauften«, sagte Lotta zu Schönberg. »Und das haben Sie bekommen. Jetzt sind wir dran, unseren Willen zu bekommen. Die Götterdämmerung durchzuführen.«

»Es wird Ihnen nicht gelingen«, sagte der Deutsche, aber es klang eher wie ein Gebet als wie eine Feststellung.

»Und was habe ich damit zu tun? Warum konntet ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?«, fragte Sara, während sie mit dem Seil kämpfte, das ihre Hände hinter dem Rücken zusammenband. Sie musste unbedingt von hier weg. Sie hatte gerade erst Ebba zurückbekommen, und Olle brauchte sie. In diesem Moment war Sara zu hundert Prozent Mutter, und die Personen, die sich vor ihr befanden, standen zwischen ihr und ihren Kindern. Es kümmerte sie einen Dreck, was mit Lotta und ihrem Anhang passierte, sie mussten einfach ausgeschaltet werden. Wenn nötig, von der Oberfläche der Erde getilgt werden.

»Sie haben uns echt Probleme bereitet, Nowak«, sagte Jadoweg und musterte sie so eingehend, dass Sara es nicht wagte, sich weiter mit dem Seil zu beschäftigen. »Als sie Abu Rasil und Geiger stoppten. Und als sie auch noch Faust umbrachten, schien der Plan endgültig gescheitert zu sein. Aber dann erreichten wir Geiger über Schönberg und konnten sie auf unsere Seite ziehen, indem wir ihr mit einer besonderen Belohnung winken konnten. Mit Ihnen.«

Die Erkenntnis sickerte in Sara ein und versetzte ihr einen Todesschreck. Dieses Mal konnte sie sich nicht verteidigen.

»Ich habe zwei Kinder, Lotta.«

»Eric hatte auch ein Kind. Und eine Frau, die ihn liebte. Und ich liebte ihn auch.«

Sara erwiderte nichts, sie sah Lotta nur an.

»Ich weiß, dass du ihn getötet hast«, sagte die Kindheitsfreundin und holte ihr Handy heraus. »Ich habe es gesehen.«

Lotta rief einen Videoclip auf und zeigte ihn ihr.

Eric und Sara im Keller. Martin auf dem Hocker mit der Schlinge um den Hals.

»Du hast zugesehen?«, fragte Sara mit Ekel in der Stimme.

»Ich sah alles, was er tat«, sagte Lotta stolz.

Sie blätterte in den Videoclips, und Sara sah sowohl Jürgen Stiller als auch Eva Hedin vorbeiflimmern. Tot und sterbend.

Sara hatte niemals die Lust verspürt, jemanden mit bloßen Händen zu töten. Aber jetzt spürte sie sie.

»Ich liebte seine Peepshow«, sagte die Kindheitsfreundin. »Aber die musstest du ja unbedingt auch kaputt machen.«

Jetzt sah Sara Bilder einer sterbenden Jenna während der Peepshow vorbeiflimmern.

»Lotta, du bist nicht gesund. Du hast auch Kinder. Denk an sie.«

»Ich mache es doch ihretwegen. Damit sie in einer besseren Welt aufwachsen, in einer reineren. Unsere Gesellschaft ist pervers.«

»Wir werden in Gottes Liebe leben«, sagte Abdul und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ein wahreres Leben.«

»Aber Eric war doch nicht auf deiner Seite«, wandte Sara ein. »Er hat dich ausgenutzt!«

»Ich habe zugelassen, dass er mich ausnutzt. Damit ich ihn ausnutzen konnte. Und jetzt werde ich sein Andenken heiligen, indem ich seinen Tod räche.«

»Und mich tötest?«, sagte Sara und fingerte fieberhaft an dem Seil herum, während ihr der Schweiß auf die Stirn trat.

»Auf die schönstmögliche Art«, sagte Jadoweg und gestikulierte mit der Hand. »Ihr werdet dem Schauspiel beiwohnen, wenn alles gesprengt wird, wenn die Welt in Brand gesetzt wird. Danach wird Sara Schönberg erschießen und sich selbst das Leben nehmen. Und vor den Augen der Welt wie eine Terroristin sterben.«

»Deine armen Kinder«, sagte Lotta zu ihr und legte den Kopf schief. »Was werden sie von ihrer Mutter denken? Darüber hättest du nachdenken sollen, bevor du dich eingemischt hast.«

»Warum sollte ich so etwas tun? Wer wird daran glauben? Das ist doch eine wahnwitzige Geschichte!«

Sara versuchte, Schönbergs Blick einzufangen, versuchte herauszufinden, ob er einen Plan hatte, ob Hilfe auf dem Weg war. Aber der ältere Mann starrte nur leer vor sich hin.

»Ganz und gar nicht.«

Lotta nahm eine Glock und ging zum BND -Chef, riss seinen Kopf heftig hoch und drückte die Mündung an seine Stirn.

Aber statt abzudrücken, nahm sie Saras Handy und machte eine Aufnahme des gefangenen und mit dem Tode bedrohten Schönbergs.

Und zeigte Sara, wie sie auf »Senden« drückte.