»Warum hast du Koslow erschossen?«
Sara sah über die Mündung der Pistole direkt in Lottas Augen.
Die lächelten.
Ein eiskaltes Lächeln.
»Es lag an dir. Du hast gesagt, dass er in Erics Haus war und etwas gesucht hat.«
»Habt ihr nicht nach derselben Sache gesucht?«
»Doch, genau. Er hat versucht, die Codes vor mir zu finden, damit er sie anstelle von Abdul Mohammad verkaufen konnte. Ein Verrat. Und Verrat wird bestraft. Nachdem er dich zu mir geführt hatte, brauchte man ihn nicht länger.«
»Warst du deswegen in Erics Haus? Um die Codes zu finden?«
»Es war mein Fehler«, sagte Schönberg verschämt. »Ich hatte erzählt, dass Eric eine Kopie besaß.«
»Da siehst du, dass Eric dich ausgenutzt hat!«, sagte Sara zu Lotta. »Er hat dir nicht erzählt, dass er die Codes hatte.«
»Nein. Hätte er es getan, würde er heute vielleicht noch leben«, sagte Lotta mit bedauernder Miene. »Aber das Wichtigste ist, dass wir sie jetzt haben.«
Sie zog ein Messingschild hervor. Mit der Aufschrift »Titus«.
»Das Namensschild«, sagte Sara unter leichtem Schaudern. »Von der Haustür. Deswegen sah das Haus so nackt aus, als ich das letzte Mal dort war. Als wäre es von etwas Bösem verlassen worden.«
»Und jetzt ist das Böse hier.«
Lotta zeigte Sara die Rückseite des Schilds, in die die Codes eingraviert waren. Zwölf todbringende Zahlenkombinationen, die mehrere Jahrzehnte an der Haustür der Familie Titus gehangen hatten.
Typisch Eric, mit seinem größten Geheimnis so umzugehen, dass alle es sehen konnten, dachte Sara. Immer gleich arrogant und selbstsicher.
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum du Koslow erschossen hast«, sagte sie schließlich. Sie war in eine sitzende Haltung gekommen und konnte zu ihrer Erleichterung den Rücken ein bisschen entlasten. »Ihr habt doch beide für Jadoweg gearbeitet?«
»Nein, er arbeitete für Jurij«, antwortete Lotta knapp.
»Und das Bild von der Beerdigung?«
»So, jetzt reicht es aber«, sagte Jadoweg ungeduldig. »Ich kann das Schild nehmen. Es ist jetzt an der Zeit.«
Er machte mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf Lotta zu.
Lotta hob ihre Pistole und zielte auf ihn.
»Nur ich werde diese Bomben zum Explodieren bringen, sonst niemand.«
Jadoweg lächelte ein wenig und verbeugte sich, dann wandte er sich Schönberg zu.
»Sind Sie bereit? Dann, finde ich, sollten wir loslegen. Es gibt Fensterplätze für alle. Wir bekommen ja nur einen kleinen Teil des Ganzen zu sehen, aber was wir sehen werden, wird absolut entzückend sein. Pilzwolken überall, was für eine Vorstellung. Ein Gesamtkunstwerk. Die Strahlung ist nicht ungefährlich, aber in diesem Abstand ist es nicht so riskant, da sterbe ich vorher eines natürlichen Todes. Und ihr beide habt ja ohnehin nur noch ein paar Minuten zu leben.«
»Ich glaube nicht, dass Jurij tot ist. Er wird Sie mit dieser Sache nicht davonkommen lassen.« Schönberg sah plötzlich vollkommen überzeugt aus, beinahe triumphierend. »Er hat das Ohr des Kremls. Denken Sie daran, dass seine Agentin sowohl Romanowitsch als auch den Werwolf getötet hat.«
»Ja, das war ganz imponierend für eine alte Tante wie Desirée«, sagte Jadoweg.
Schönberg sah schockiert aus, und der Russe lächelte.
»Ja, ich weiß alles über Desirée. Oder Agneta Broman, wie sie auch genannt wird.«
»Nicht ganz alles«, sagte plötzlich eine Stimme. »Zum Beispiel nicht, wo sie ist.«
Alle Blicke richteten sich auf die Tür, wo Agneta mit einem Messer am Hals des Wachmanns stand.
»Aber jetzt weißt du es«, fuhr sie fort und nahm dem Wachmann die Waffe ab. Sie schoss Lotta die Pistole aus der Hand und winkte ihr zu, dass sie zu ihr treten solle.
Und dann schoss sie dem Valkyria-Mann durchs Auge, wo ihn seine Uniform nicht schützte.
Sara konnte sich nur schwer vorstellen, dass die Frau, die sie jetzt betrachtete, die Extramama ihrer Kindheit war, auferstanden von den Toten. Die ohne zu zögern einem Mann das Leben nahm.
»Hast du wirklich die beiden Oligarchen getötet?«, fragte Sara.
»Ja.«
»Warum? Warum tust du das alles?«
»Das ist eben, was ich bin«, sagte Agneta, ohne den Blick von Lotta und den anderen zu nehmen. »Ich bin Desirée. Ich kann nicht zu Agneta Broman zurückkehren.«
»Doch, das kannst du«, sagte Sara mit einem flehentlichen Blick.
»Okay, ich könnte es, aber ich will es nicht. Das war kein Leben, es war ein Verkümmern, ein lang gezogener Todeskampf. Aber jetzt lebe ich. Dank Schönberg.«
»Das muss nicht so sein.«
»Du verstehst das nicht, kleine Sara.« Agneta warf einen freundlichen Blick auf sie. »Das hier ist lustig, darauf wurde ich mein ganzes Leben trainiert. Wofür sollte ich denn eine neue Person erfinden? Ich bin über siebzig. Und dieser Anruf wegen Geiger hat etwas in mir geweckt. So lebendig habe ich mich seit vielen Jahren nicht mehr gefühlt, also unterbrich mich jetzt bitte nicht mehr.«
»Schneid die Fesseln auf«, sagte Schönberg.
»Immer mit der Ruhe. Ich bin jetzt nur noch meine eigene Herrin. Ich habe noch nicht entschieden, wem ich helfen werde.«
»Agneta!«, protestierte der Deutsche.
»Warte. Ich muss zuerst wissen, was hier passiert.«
»Das weißt du doch.«
Schönberg war leichenblass im Gesicht.
»Nein. Und du weißt es auch nicht. Als du sagtest, dass Jurij den Kreml dazu bewegen sollte, seine Hand von Jadoweg zu nehmen, war mir klar, dass du hereingefallen bist.«
»Hereingefallen? Worauf denn?«
»Eine Sache solltest du genauso gut wissen wie ich: Ein KGB ler sagt nie die Wahrheit. Er hat immer einen anderen Plan, ganz egal, worum es geht.«
»Und welchen Plan hat Jurij deiner Meinung nach?«, fragte Schönberg und legte die Stirn in Falten.
»Warum fragen wir ihn nicht?«
Agneta wandte sich an Jadoweg.
»Dich in zwei Personen zu teilen, war das deine Idee oder Erics?«
»Erics. Und es hat ja auch gut funktioniert.«
Sara starrte von Jadoweg zu Schönberg und erneut auf Jadoweg, der also auch Agnetas alter Führungsoffizier Jurij war. Ihr schwirrte der Kopf.
Das bedeutete, dass Koslow auf der Beerdigung mit Jurij gesprochen hatte und nicht mit Jadoweg. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es sich eigentlich um dieselbe Person handelte.
»Und das Gerede über die unterschiedlichen Fraktionen, die um die Gunst des Präsidenten wetteiferten?«, fragte Agneta.
»Das ist vollkommen richtig, aber ich gehöre eben zu beiden. So kann ich sicher sein, auf der Gewinnerseite zu stehen.«
Jurij lächelte sie an.
»Und was ist der eigentliche Plan? Darf ich raten?«, fragte Agneta und sah sich im Raum um. »Der Werwolf hat die Bomben wieder brauchbar gemacht, die Terroristen werden die Schuld bekommen, Deutschland wird in Ruinen gelegt, und du wirst reich beim Wiederaufbau.«
»Reich ist eine Untertreibung.«
Agneta schien eine Weile zu überlegen.
»Und Eric hat dabei auch mitgemacht?«
»Natürlich. Es war Eric, der sowohl Schönberg als auch Lotta eingebunden hatte, natürlich mit einer jeweils anderen Version des Plans.«
»Und für ihn war es nicht politisch?«
Jurij schüttelte langsam den Kopf.
»Rein geschäftlich. Er wollte die Nachfrage schaffen, Marktanteile gewinnen.«
»Und Millionen töten«, sagte Sara, die wie die anderen in dem Raum mit Spannung dem Meinungsaustausch gefolgt war. Lotta betrachtete Agneta mit schwer zu deutender Miene.
»Sehen Sie sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg an. Schweden wurde zu einem der reichsten Länder, indem es Rohstoffe und Technik zum Wiederaufbau des Kontinents lieferte. Und das neue Deutschland, das aufgebaut wurde, war stärker als das alte. Das nächste wird noch stärker, in einer Union mit Russland«, sagte Jurij und nickte zufrieden.
»Das ist Ihr Plan?«
Sara sah ihn ungläubig an.
»Das ist unser Schicksal. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die USA mit ihrem Marshallplan und konnten den Kontinent lenken. Dieses Mal wird es Russland sein, das die Agenda festlegt.«
»Und deswegen waren Sie in Bromma?«, sagte Sara zu Jurij. »Um Eric zu treffen?«
»Ich nahm die Gelegenheit wahr, als ich aus einem persönlichen Grund in der Gegend war.«
»Wissen Ihre Männer, dass es bei der ganzen Sache nur ums Geld geht?«
Sara sah Abdul Mohammad an.
»Für sie ist es ein heiliger Krieg. Allahs Wille«, sagte Abdul und breitete die Arme aus. »Mit dieser Vergeltung werden unsere Namen auf der ganzen Welt bekannt sein!«
»Und du hast auch einen Anteil an den Geschäften?«, fragte Agneta.
»Einen großen Anteil«, sagte Abdul mit ausdrucksloser Miene.
»Es wird ein außerordentlicher Beitrag sein«, sagte Lotta und machte einen Schritt auf ihre Mutter zu, gestikulierte mit den Händen. »Nicht nur Brösel von den Tischen der Reichen. Jetzt dürfen die Unterdrückten mit am Tisch sitzen. Wahre Gerechtigkeit und ein erneut geteiltes Deutschland. Mit einer radioaktiven Grenze, die man nicht öffnen kann. Eine Grenze, die das Land für Hunderttausende von Jahren teilt.«
»Sie werden auch reich, Sara«, sagte Jurij. »Oder wohl eher Ihre Kinder. Sie werden es ja nicht mehr erleben, aber Titus & Partners sind beim Geschäft dabei und profitieren davon.«
»Nein, ich habe die Gloria-Papiere nicht unterschrieben.«
»Und trotzdem steht Ihr Name auf den Verträgen.«
»Nein«, sagte Sara, bevor ihr klar wurde, was passiert war. »Tom.«
Jurij lächelte zufrieden.
»Er konnte so eine Gelegenheit natürlich nicht vorüberziehen lassen.«
»Und Jurij, mein Liebling«, sagte Agneta mit liebevollem Tonfall. »Du bekommst die Revanche für dein geliebtes Russland?«
»So geht es eben, wenn man keinen Respekt zeigt. Ich bin reicher als jeder andere in Europa. Mein Präsident ist der reichste Mann auf der ganzen Welt. Wir können eure winzigen Scheißländer kaufen und Parkplätze aus ihnen machen, und trotzdem haltet ihr uns für versoffene Bauernlümmel.«
»Wir haben hier also sieben unterschiedliche Stimmen«, sagte Agneta nachdenklich. »Von denen jede einen Lobgesang auf ihren Herrn singt. Abdul preist Allah. Lotta verherrlicht den alten Staatssozialismus. Sara ergreift Partei für die offene Gesellschaft und Schönberg für die heimlichen Kräfte, die sie schützen sollen. Ich besinge das Individuum und die Freiheit von allen Zwangssystemen. Und du, Jurij, singst mit zwei Stimmen. Als Jadoweg lobst du den freien, kriminellen Kapitalismus, und als Jurij erhebst du deine Stimme für den Einfluss des Kremls auf die Welt. Welcher dieser Herren geht als Sieger aus diesem Streit hervor?«
»Wie gebildet von dir«, sagte Jurij mit einem entzückten Lächeln. »Ich wünsche mir, dass du auf unsere Seite kommst.«
»Wir werden sehen«, sagte Agneta.
»Wisst ihr überhaupt, was ihr da macht?«, fragte Sara und betrachtete sie mit skeptischem Blick. »Wer hier gerade wen an der Nase herumführt?«
»Wir folgen alle Erics Plan«, sagte Jurij ruhig. »Aber er hat unterschiedliche Ebenen. Und wir hoffen alle auf ein unterschiedliches Ergebnis. Eines davon wäre, dass ausgerechnet Sie die Schuld für das alles hier bekommen, Sara.«
»Ich?«
»Ja, Sie. Eric war am Ende seines Lebens ziemlich fixiert auf Sie. Geradezu … besessen.«