Im Speisezimmer saßen drei Personen am Tisch und tranken Tee. Eine ältere Frau, die schwach an Mrs Everett erinnerte; ein Mädchen mit rötlichem Haar und blasser Haut – und der Dago!
Mit Vergnügen stellte Grant fest, dass sein Opfer ihn erkannt hatte. Sekundenlang starrte Lamont ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht wurde totenblass.
»Ich habe einen Gast mitgebracht«, sagte der Pastor. »Das ist Mr Grant. Er hat am Fluss geangelt, aber leider nichts gefangen. Ich habe ihn eingeladen, mit uns eine Tasse Tee zu trinken.« Er stellte der Reihe nach die Anwesenden vor. »Mrs Dinmont, meine Schwester … Miss Dinmont, meine Nichte … Mr Lowe, ein Freund von uns. Nun, wo möchten Sie gern sitzen?«
Grant wurde ein Platz neben Miss Dinmont eingeräumt, sodass er Lamont gegenübersaß. Lamont hatte bei der Vorstellung eine knappe Verbeugung angedeutet, schien aber im Augenblick nicht daran zu denken, etwas Unbedachtes zu tun. Entweder war er vor Schreck noch immer wie gelähmt, oder aber er hatte beschlossen, den Dingen ruhig ihren Lauf zu lassen. Grant stellte zu seiner Zufriedenheit fest, dass Lamonts Tasse an der falschen Seite des Tellers stand. Der Mann war Linkshänder!
»Ich bin froh, dass ihr nicht auf mich gewartet habt, Agnes«, sagte der Pastor, aber sein Tonfall gab zu verstehen: ›Ihr hättet wirklich auf mich warten können!‹
Während eine nichtssagende Unterhaltung in Gang kam, nahm Lamonts Gesicht allmählich wieder eine normale Farbe an. Er schien sich wohler zu fühlen. Er hielt dem Blick des Inspectors gelassen stand und machte auch keine Anstrengung, die kleine Narbe an seinem linken Daumen zu verbergen. Offensichtlich hatte er sich resignierend damit abgefunden, dass für ihn das Spiel zu Ende war. Blieb also nur noch abzuwarten, ob er zum gegebenen Zeitpunkt ruhig mitkommen würde.
Nach dem Tee bot Grant auch Miss Dinmont eine Zigarette an, doch das Mädchen zog spöttisch die Brauen hoch und sagte: »Mein lieber Mann, das hier ist ein Highland-Pfarrhaus! Aber wenn Sie mich zu einem großen Stein am Fluss begleiten wollen, würde ich gern eine Zigarette akzeptieren … doch nicht unter diesem Dach!«
›Unter diesem Dach‹ war offensichtlich eine viel gebrauchte Formulierung, aber ihr Onkel gab sich den Anschein, sie nicht gehört zu haben.
»Ich wüsste nicht, was ich lieber täte«, sagte Grant. »Aber es wird schon spät, und da ich ja zu Fuß nach Garnie zurückkehren muss, sollte ich jetzt wohl lieber aufbrechen. Für das schöne Ende dieses Tages bin ich Ihnen allen sehr dankbar. Vielleicht hat Mr Lowe Lust, mich ein Stückchen zu begleiten?«
»Gewiss«, antwortete der Dago prompt, stand sofort auf und ging in den Korridor voran.
Grant verabschiedete sich nun freundlich, aber schleunigst von seinen Gastgebern. Seine Befürchtung, dass Lamont sich aus dem Staub machen könnte, erwies sich jedoch als unbegründet. Der Dago zog sich ruhig den alten Trenchcoat an, den er heute beim Spaziergang mit Miss Dinmont getragen hatte. Miss Dinmont begleitete sie vor das Haus, und Grant dachte mit Unbehagen daran, dass auch sie jetzt ihre Begleitung anbieten könnte. Erleichtert atmete er auf, als das Mädchen sich freundlich verabschiedete. Die beiden Männer legten ein Stück Weges schweigend zurück. Erst als die Straße leicht bergan führte und man vom Haus aus nicht mehr gesehen werden konnte, blieb Grant stehen und sagte: »Ich nehme an, dass Sie wissen, was ich von Ihnen will, Lamont?«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Lamont und sah den Inspector dabei ruhig an. »Wollen Sie sich nicht etwas genauer ausdrücken?«
»Ich bin Inspector Grant von Scotland Yard, und ich habe einen Haftbefehl gegen Sie in der Tasche, wegen Mordes an Albert Sorrell, begangen vor dem Woffington Theatre am dreizehnten dieses Monats, in der wartenden Menschenschlange. Pflichtgemäß muss ich Sie darauf hinweisen, dass alles, was Sie von jetzt an sagen, als Beweis gegen Sie verwendet werden kann. Zunächst möchte ich mich jedoch überzeugen, dass Sie keine Waffe bei sich haben. Würden Sie Ihre Hände einen Augenblick aus den Taschen nehmen, damit ich Sie abtasten kann?«
»Sie haben einen Fehler gemacht, Inspector«, sagte der Mann. »Ich habe mich zwar bereit erklärt, Sie ein Stückchen zu begleiten, aber ich habe nicht gesagt, wie weit – und deshalb werde ich Sie jetzt und hier verlassen!«
Er riss die linke Hand aus der Tasche.
Grant erwartete einen Revolver und schlug den Arm des anderen blitzschnell nach oben. Zu spät erkannte er seinen Irrtum. Instinktiv kniff er die Augen zusammen, als er den blauen Pfefferstreuer, den er vor Kurzem noch auf dem Tisch im Pfarrhaus gesehen hatte, in der Hand seines Begleiters sah. Hilflos, halb blind, keuchend, niesend und spuckend stand er da und hörte den anderen mit langen Schritten davonrennen. Es dauerte mindestens zwei Minuten, bevor Grant wieder etwas sehen und die Verfolgung aufnehmen konnte. Grant erinnerte sich an den Abend in der Strand. Kein Mann, selbst wenn er so leicht gebaut war wie der Dago, konnte unbeschränkte Zeit rennen. Das würde natürlich auch dieser Mann begreifen. Also dürfte er seine bereits damals in der Strand praktizierte Methode erneut anwenden und sich irgendwo verstecken, um bis zum Anbruch der Dunkelheit zu warten.
Grant beschloss, sich ebenfalls Zeit zu lassen. Das Beste dürfte sein, sich einen möglichst hoch gelegenen Standort auszusuchen, um von dort aus das gesamte Tal überblicken zu können. Er arbeitete sich zu einem kleinen Plateau hinauf und beobachtete dabei ständig sehr aufmerksam das umliegende Gelände. Es war jedoch nichts zu sehen. Oben angekommen, hatte er einen guten Ausblick auf das gesamte Tal. Nur zu seiner Rechten versperrte ihm einer dieser für die Landschaft hier oben so typischen Brennholzstapel die Aussicht. Aber gerade das beruhigte ihn. Für Lamont dürfte dieser Holzstapel genau das sein, was damals in der Bedford Street der Hauseingang gewesen war, in dem er sich versteckt hatte. Grant zweifelte nicht im Mindesten daran, dass Lamont im Moment hinter diesem Holzhaufen lag.
Grant blieb sehr lange in der hohen, feuchten Heide liegen. Es wurde allmählich dunkel. So aufmerksam er auch die Gegend beobachtete, nichts rührte sich. Irgendwo blökte ein Schaf. Und dann bewegte sich plötzlich doch etwas. Unten am Fluss. Eine flüchtige Bewegung, die sofort wieder aufhörte. Atemlos wartete Grant. Er musste eine ganze Weile warten, doch als sich dort unten wieder etwas bewegte, konnte er es ganz deutlich erkennen. Hinter einem riesigen, etwa vier Meter hohen Felsen dicht am Ufer tauchte der Gesuchte sekundenlang auf und verschwand sofort wieder. Erneut wartete Grant geduldig. Wollte Lamont dort unten in Deckung bleiben? Oder wollte er irgendwohin? Schließlich verriet eine weitere schwache Bewegung, dass Lamont nicht die Absicht hatte, sich längere Zeit am selben Ort aufzuhalten. Aber wohin wollte er? Plötzlich glaubte Grant es zu wissen. Der Meeresstrand! Du lieber Himmel, natürlich! Das war es! Lamont wollte zu einem Boot. Zu dieser späten Abendstunde würden viele Boote am verlassenen Strand liegen. Vom Dorf aus konnten sie nicht gesehen werden.
Grant unterdrückte eine Verwünschung und verließ seinen Beobachtungsposten. Er wusste, was er jetzt zu tun hatte. Als er heute Vormittag mit Drysdale aus dem Haus gekommen war, hatte er das Bootshaus auf der Rückseite bemerkt. Neben dem kleinen Landesteg hatte das Heck eines Motorbootes aus dem Schuppen geragt. Falls er mit seinen Vermutungen recht behielt … und falls Drysdale zu Hause sein sollte … und falls das letzte Tageslicht noch ausreichen würde – dann war Lamont schon jetzt so gut wie sicher geschnappt! Aber es gab immerhin drei ›falls‹ bei dieser Sache.
Ziemlich atemlos kam Grant bei der Brücke an. Jetzt waren es nur noch hundert Meter bis zum Carninnish House. Erst einmal dort angekommen, war das Schlimmste vorbei.
Als Drysdales Butler den atemlos keuchenden Mann an der Tür erblickte, zog er sofort Schlussfolgerungen.
»Ist mit dem Herrn etwas passiert?«, fragte er besorgt. »Was ist los? Ist er etwa ertrunken?«
»Ist er denn nicht hier?«, keuchte Grant. »Verdammt! Ist das dort ein Motorboot? Kann ich es mir mal ausleihen?« Er zeigte zum Bootsschuppen hinüber.
Der Butler starrte ihn misstrauisch an. Er war heute Vormittag bei Grants Besuch nicht im Haus gewesen und kannte ihn deshalb nicht. Grant machte in seiner schäbigen Angelkleidung nicht gerade einen sonderlich vertrauenerweckenden Eindruck.
»Nein, kommt gar nicht infrage!«, lehnte der Butler barsch ab. »Und je schneller Sie von hier verduften, Mister, desto besser für Sie! Oder Mr Drysdale wird Ihnen Beine machen!«
»Kommt er bald? Wann kommt er?«
»Er wird jeden Augenblick hier sein.«
»Aber dann kann’s schon zu spät sein!«
»Verschwinden Sie!«, knurrte der Butler. »Und trinken Sie das nächste Mal lieber was weniger, Mann!«
»Hören Sie«, sagte Grant beschwörend und packte den Mann ungeduldig am Arm. »Stellen Sie sich nicht so dumm an! Ich bin genauso stocknüchtern wie Sie! Kommen Sie mit nach unten, wo Sie das Meer sehen können. Ich werde Ihnen etwas zeigen.«
Irgendetwas im Tonfall des Inspectors weckte die Aufmerksamkeit des Butlers, aber er schien den ungebetenen Gast immer noch für einen Verrückten zu halten. Wenn er ihn trotzdem begleitete, so offensichtlich nur aus Angst vor irgendwelcher Gewalttätigkeit. Unten am Strand angekommen, zeigte Grant mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. Mitten im Loch Finley war ein Ruderboot zu erkennen, das sich sehr schnell zum offenen Meer hin entfernte.
»Sehen Sie das?«, fragte Grant. »Ich muss dieses Boot unbedingt einholen, aber das kann ich nicht mit einem anderen Ruderboot!«
»Nein, das können Sie natürlich nicht«, sagte der Butler. »Wir haben jetzt Ebbe, und das Wasser fließt in sehr starker Strömung ins Meer zurück.«
»Und deshalb brauche ich unbedingt das Motorboot«, sagte Grant drängend. »Fährt Mr Drysdale es persönlich?«
»Nein, ich muss das Boot üblicherweise bedienen.«
»Na, dann kommen Sie! Mr Drysdale kennt mich. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, heute den ganzen Tag am Fluss zu angeln. Dieser Mann dort draußen hat ein Boot gestohlen, aber wir brauchen ihn noch aus verschiedenen anderen Gründen äußerst dringend. Los, los, Mann! Machen Sie sich an die Arbeit!«
»Übernehmen Sie jede Verantwortung?«
»Natürlich. Sie haben das Gesetz auf Ihrer Seite, das kann ich Ihnen versprechen.«
»Hm, aber ich will doch lieber erst eine kurze Nachricht hinterlassen …« Damit verschwand er im Haus.
Grant wollte ihn zwar zurückhalten, aber er kam zu spät. Er befürchtete schon, dass es ihm nicht gelungen sein könnte, den Butler zu überzeugen, doch dieser kam sofort zurück und lief mit Grant zum Bootshaus, wo das Motorboot Master Robert sanft auf dem Wasser schaukelte. Während der Butler sich noch mit dem Anwerfen des Motors beschäftigte, kam Drysdale um die Hausecke. Er hatte ein Gewehr bei sich und war wohl soeben von der Jagd zurückgekommen. Grant winkte ihm erfreut zu und erklärte ihm hastig, was geschehen war. Drysdale sagte kein einziges Wort dazu, sondern rief dem Butler zu: »Ist schon gut, Pidgeon. Ich mache das selbst und werde Mr Grant aufs Meer hinausfahren. Sorgen Sie inzwischen für ein gutes Abendessen für zwei, nein, für drei Personen, ja?«
Dem Butler war anzusehen, wie froh er war, die Fahrt nicht selbst machen zu müssen, denn er sprang eilfertig aus dem Boot und lief schleunigst ins Haus zurück.
Drysdale warf den Motor an. Sekunden später rauschte das schnittige Boot mit aufheulendem Motor in die Bucht hinaus.
Grant hielt den Blick starr auf den dunklen Punkt am westlichen Horizont gerichtet. Was würde Lamont diesmal tun? Ruhig mitkommen? Der kleine Punkt änderte plötzlich die Richtung und schien zum Land auf der Südseite zu wollen. Bald war er gegen den dunklen Hintergrund der Hügel nicht mehr zu sehen.
»Können Sie das Boot noch erkennen?«, fragte Grant besorgt. »Ich sehe nichts mehr davon.«
»Ja. Er will zum Südstrand. Aber nur keine Angst, wir werden vor ihm dort sein.«
Das Motorboot rauschte durchs Wasser. Der Südstrand schien auf geradezu wunderbare Weise immer näher heranzurücken. Wenige Sekunden später konnte auch Grant das Ruderboot wieder entdecken. Der Mann ruderte verzweifelt auf das Land zu. Es war schwierig für Grant, hier draußen auf dem Wasser Entfernungen zu schätzen, aber als Drysdale bereits das Tempo drosselte, wusste Grant alles, was er wissen wollte. In ein, zwei Minuten würde man das Ruderboot eingeholt haben. Als beide Boote nur noch etwa fünfzig Meter voneinander entfernt waren, stellte Lamont plötzlich das Rudern ein. Er gibt auf, dachte Grant. Doch dann sah er, wie der Mann sich tief ins Boot beugte. Glaubt er etwa, dass wir schießen wollen?, dachte Grant verwundert. Drysdale stellte den Motor ab. Langsam glitt das Motorboot auf das Ruderboot zu. Plötzlich kam Lamont mit einem Ruck wieder hoch, ohne Hut und Jackett. Er wollte über Bord springen, rutschte aber mit den bestrumpften Füßen aus, schlug hart mit dem Kopf auf der Bootswand auf und versank im Wasser.
Grant hatte Stiefel und Jackett bereits ausgezogen, als das Motorboot das Ruderboot erreichte.
»Können Sie schwimmen?«, fragte Drysdale ruhig. »Wenn nicht, warten Sie lieber, bis er von selbst wieder hochkommt.«
»Oh, ich kann gut genug schwimmen«, sagte Grant. »Vor allem, wenn ein Boot zu meiner Rettung in der Nähe ist. Wenn ich den Mann lebend haben will, werde ich ihn wohl aus dem Wasser holen müssen. Vielleicht hat er beim Aufprall das Bewusstsein verloren und wird ertrinken.« Er ließ sich vom Motorboot ins Wasser gleiten. Sechs oder sieben Sekunden später tauchte ein dunkler Kopf aus dem Wasser auf. Grant zerrte den bewusstlosen Mann zum Motorboot, und Drysdale zog beide an Bord.
»Geschafft!«, sagte Grant keuchend.
Drysdale befestigte das Ruderboot an einer Schleppleine und warf den Motor wieder an. Interessiert beobachtete er, wie Grant seine tropfnasse Kleidung notdürftig auswrang und seinen Gefangenen sorgfältig untersuchte. Der Mann war immer noch bewusstlos und blutete aus einer Platzwunde am Hinterkopf.
»Ist das der Mann, auf den Sie’s abgesehen hatten?«, fragte Drysdale.
»Ja.«
Drysdale betrachtete die dunkle, bewusstlose Gestalt eine ganze Weile, dann fragte er: »Was hat er denn angestellt?«
»Mord.«
»Wirklich?«, sagte Drysdale in einem Tonfall, als hätte Grant soeben nur etwas von Schafe stehlen gesagt. Wieder musterte er den Bewusstlosen sehr eindringlich. »Ist er ein Dago?«
»Nein, Londoner.«
»Im Moment sieht er aber ganz so aus, als wollte er den Galgen um ein Opfer betrügen, was?«
Grant sah dem Bewusstlosen ins Gesicht. Stand es wirklich so schlimm um ihn? Nein, ganz bestimmt nicht!
Als man sich Carninnish House näherte, sagte Grant: »Er hat bei den Logans im Pfarrhaus gewohnt, aber dorthin kann ich ihn wohl nicht zurückbringen. Am besten schaffe ich ihn ins Hotel. Dann kann sich die Regierung weiter um ihn kümmern.«
Aber als das Motorboot am Landesteg entlangglitt, wo Pidgeon schon auf sie wartete, sagte Drysdale zu Grants Überraschung zum Butler: »Der Mann, hinter dem wir her waren, hat ein bisschen das Bewusstsein verloren. Welches Zimmer haben Sie für Mr Grant geheizt, Pidgeon?«
»Den Raum neben Ihrem Schlafzimmer, Sir.«
»Gut, dann werden wir den Mann dorthin bringen. Sagen Sie nachher Matheson Bescheid. Er soll Dr. Anderson aus Garnie holen und dabei gleich im dortigen Hotel Bescheid sagen, dass Mr Grant heute bei mir übernachtet. Man soll seine Sachen herschicken.«
Grant protestierte gegen diese unnötige Großzügigkeit dem Bewusstlosen gegenüber.
»Dieser Mann hat seinen Freund erstochen! Mit einem Dolchstoß in den Rücken!«
»Ich tu’s ja auch nicht für ihn«, antwortete Drysdale lächelnd. »Obwohl ich nicht mal meinen ärgsten Feind in dieses Hotel verdammen würde! Aber nachdem Sie Ihren Mann nun endlich geschnappt haben, werden Sie ihn doch nicht noch einmal verlieren wollen, oder? Wenn ich mir Sie jetzt so ansehe … na, die Jagd nach ihm war wohl nicht gerade ein vergnüglicher Sonntagsausflug! Aber bevor die dort drüben in einem ihrer eisigen Zimmer Feuer gemacht haben« – er zeigte zum Hotel hinüber – »und den Mann ins Bett stecken, ist er bestimmt schon so gut wie tot. Da ist es schon besser, wenn wir ihn vorerst hier bei mir unterbringen. Und noch etwas, Pidgeon …«, fügte er rasch hinzu, als der Butler gehen wollte. »Sie halten den Mund, verstanden? Dieser Gentleman hier hat einen Unfall mit dem Ruderboot gehabt. Wir haben es beobachtet und sind ihm zu Hilfe gekommen. Ist das klar?«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Pidgeon.
Und so trugen Grant und Drysdale die bewusstlose, schlaffe Gestalt nach oben in ein Schlafzimmer und leisteten dem Verletzten Erste Hilfe. Im Kamin prasselte ein helles Feuer, und es war angenehm warm im Zimmer. Nachdem man Lamont ins Bett gepackt hatte, schrieb Drysdale eine kurze Nachricht an Mrs Dinmont. Er teilte ihr mit, dass ihr Gast einen kleinen Bootsunfall gehabt hatte und über Nacht hierbleiben würde. Er hatte eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen, aber ansonsten bestand kein Grund zur Besorgnis.
Grant hatte sich gerade umgezogen – sein Gastgeber hatte ihm großzügigerweise einige seiner eigenen Sachen zur Verfügung gestellt – und saß neben dem Bett, als an die Tür geklopft wurde. Auf sein »Herein!« betrat Miss Dinmont das Zimmer. Sie hatte ein kleines Bündel unter dem Arm, machte aber einen durchaus gefassten Eindruck.
»Ich habe einige seiner Sachen mitgebracht«, sagte sie, kam zum Bett herüber und betrachtete Lamont sehr ruhig.
Um überhaupt etwas zu sagen, erwähnte Grant, dass man bereits nach dem Doktor geschickt hatte, aber seiner – Grants – Meinung nach dürfte es sich nur um eine leichte Gehirnerschütterung und um eine Platzwunde am Hinterkopf handeln.
»Wie ist es denn passiert?«, fragte sie.
Auf diese Frage hatte sich Grant inzwischen gut vorbereitet.
»Wir haben Mr Drysdale getroffen, und er hat uns zu einer kleinen Bootsfahrt eingeladen. Mr Lowe ist auf dem Bootssteg recht unglücklich ausgerutscht und ziemlich hart mit dem Hinterkopf aufgeschlagen.«
Sie nickte, schien sich aber über irgendetwas zu wundern.
»Nun, ich werde hierbleiben und mich während der Nacht um ihn kümmern«, sagte sie. »Es ist sehr nett von Mr Drysdale, dass er ihn in seinem Haus aufgenommen hat.« Sie wickelte das Bündel auf. »Wissen Sie, ich hatte heute Vormittag, als wir am Fluss spazieren gingen, schon so eine Vorahnung, dass etwas passieren würde. Ich bin froh, dass es nichts Schlimmeres ist, zum Beispiel ein Todesfall, an dem es dann nichts mehr zu kurieren gäbe.« Sie beschäftigte sich weiter mit ihrem Bündel und sagte über die Schulter hinweg: »Bleiben Sie heute auch bei Mr Drysdale über Nacht?«
»Ja«, sagte Grant, und in diesem Augenblick kam Drysdale herein.
»Fertig, Inspector? Sie müssen doch schon hungrig sein«, sagte er, und jetzt erst entdeckte er Miss Dinmont. Ohne mit der Wimper zu zucken, fuhr Drysdale fort: »Nun, Miss Dinmont, haben Sie sich Sorgen gemacht um Ihren Schulschwänzer? Brauchen Sie nicht. Ist bestimmt nur ’ne kleine Gehirnerschütterung, weiter nichts. Dr. Anderson wird bald kommen.«
Einem anderen Mädchen wäre Drysdales Ausrutscher vielleicht gar nicht aufgefallen, aber Grants Herz sank, als er dem intelligenten Blick von Miss Dinmont begegnete.
»Danke, dass Sie ihn hier bei sich aufgenommen haben«, sagte sie zu Drysdale. »Viel ist ja nicht zu tun, solange er nicht zum Bewusstsein kommt, aber ich werde trotzdem bei ihm bleiben und mich um ihn kümmern, falls Sie nichts dagegen haben.« Dann wandte sie sich an Grant: »Inspektor … von was?«
»Von Schulen«, sagte Grant aus einer Augenblickseingebung heraus, doch dann wünschte er sich sofort, es lieber nicht gesagt zu haben.
Drysdale wusste ebenfalls, dass es ein Fehler gewesen war, aber er hielt treu zu Grant.
»Sieht gar nicht so aus, was?«, sagte er zu Miss Dinmont. »Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, Miss Dinmont, bevor wir zum Essen gehen?«
»Nein, danke. Darf ich nach Ihrem Dienstmädchen läuten, falls ich etwas brauchen sollte?«
»Selbstverständlich, und auch nach uns, falls Sie uns brauchen sollten.« Er verließ das Zimmer und ging nach unten.
Grant folgte ihm, doch auch das Mädchen kam mit auf den Korridor und machte die Tür hinter sich zu.
»Inspector«, sagte Miss Dinmont, »halten Sie mich eigentlich für dumm? Wissen Sie denn nicht, dass ich seit sieben Jahren in einem Londoner Krankenhaus als Schwester arbeite? Sie können mich doch nicht wie ein Dummerchen vom Land behandeln! Damit werden Sie bei mir wenig Erfolg haben. Würden Sie jetzt also endlich die Güte haben, mir zu erzählen, was diese Geheimniskrämerei bedeutet?«
Drysdale war inzwischen nach unten verschwunden. Grant war mit Miss Dinmont allein auf dem Gang. Ihr jetzt noch einmal die Unwahrheit zu sagen, hielt er für gröbste Beleidigung.
»Also gut, Miss Dinmont«, sagte er deshalb kurz entschlossen. »Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Ich habe es bisher vermieden, weil ich nicht wollte, dass Ihnen gewisse Dinge leidtun sollten. Aber nun ist es wohl nicht mehr zu ändern. Ich bin aus London hergekommen, um den Mann, der bei Ihnen gewohnt hat, zu verhaften. Er wusste, weshalb ich zum Tee in Ihr Haus gekommen bin, weil er mich vom Sehen her kannte. Nachdem er mich bis zum Hang begleitet hatte, riss er plötzlich aus und wollte mit einem Ruderboot fliehen. Wir folgten ihm mit dem Motorboot, und als wir ihn fast erreicht hatten, wollte er ins Wasser springen. Dabei ist er ausgerutscht und mit dem Kopf auf die Kante des von ihm gestohlenen Ruderbootes geschlagen.«
»Weshalb wollen Sie ihn verhaften?«
Es gab kein Ausweichen mehr.
»Er hat in London einen Mann getötet.«
»Mord!« Das Wort war eine Feststellung, keine Frage. Offensichtlich hatte sie begriffen, dass der Inspector sonst das Wort ›Totschlag‹ verwendet hätte. »Dann heißt er also gar nicht Lowe?«
»Nein. Er heißt Lamont, Gerald Lamont.«
Er wartete auf einen heftigen Ausbruch mit ungestümen Beteuerungen wie ›Das glaube ich nicht! So etwas hätte er niemals getan!‹ Nichts dergleichen geschah jedoch.
»Verhaften Sie ihn nur unter dem Verdacht, es getan zu haben? Oder hat er es wirklich getan?«
»Ich fürchte, dass es daran keinen Zweifel gibt«, sagte Grant sanft.
»Aber meine Tante … ist sie … Ich meine, wieso hat sie ihn dann zu uns geschickt?«
»Ich nehme an, dass er Mrs Everett leidgetan hat«, sagte Grant. »Sie hat ihn eine ganze Zeit lang gekannt.«
»Ich habe meine Tante in London nur ein einziges Mal getroffen. Wir fanden beide keinen Gefallen aneinander, aber sie kam mir nicht gerade wie eine Person vor, die mit einem Übeltäter Mitleid haben könnte. Da würde ich schon eher glauben, dass sie’s selbst getan hat. Er ist also gar kein Journalist?«
»Nein«, sagte Grant. »Er ist Angestellter bei einem Buchmacher.«
»Danke, dass Sie mir endlich die volle Wahrheit gesagt haben«, murmelte sie. »Und jetzt muss ich alles für Dr. Anderson vorbereiten.«
»Wollen Sie sich immer noch um ihn kümmern?«, fragte Grant unwillkürlich. Sollte jetzt vielleicht dieser erwartete Ausbruch kommen?
»Natürlich«, sagte Miss Dinmont entschieden. Sie war schon ein bemerkenswertes Mädchen. »Die Tatsache, dass er ein Mörder ist, ändert doch nichts daran, dass er eine Gehirnerschütterung hat, oder? Und ändert vielleicht der Umstand, dass er unsere Gastfreundschaft missbraucht hat, etwas an der Tatsache, dass ich immer noch Krankenschwester bin? Und selbst wenn’s nicht so wäre … vielleicht wissen Sie ja, dass hier in den Highlands in früheren Zeiten ein Gast Zuflucht und Gastfreundschaft genießen konnte, selbst wenn das Blut des Bruders seines Gastgebers an seinem Schwert klebte? Ich brüste mich nicht oft mit meiner Abstammung aus den Highlands«, fügte sie hinzu, »aber dies hier ist wohl eine ganz besondere Gelegenheit.« Sie gab einen Laut von sich, der wohl halb Lachen, halb Schluchzen war, dann kehrte sie ins Zimmer zurück, um den Mann zu pflegen, der sie und ihr Heim so skrupellos missbraucht hatte.