Grant studierte die Morgenzeitungen mit gewohnter Gründlichkeit. Als er einen bebilderten Artikel über den begeisterten Abschied fand, den man Ray Marcable bei ihrer Abreise nach Southampton bereitet hatte, fiel ihm plötzlich etwas ein. Er hatte sich dafür entschieden, Mrs Everetts Aussage als korrekt zu betrachten; zumindest was ihre Behauptung betraf, Sorrell sei nach Amerika gefahren. Aber er hatte es für selbstverständlich gehalten, dass diese Amerika-Story nur ein Bluff von Sorrell gewesen war, um seine Selbstmordabsichten zu verschleiern. War es klug gewesen, das nicht näher zu überprüfen? Grant schickte nach einem Untergebenen.
»Stellen Sie fest, welche Schiffe am letzten Mittwoch von Southampton ausgelaufen sind«, sagte er, dann wartete er in Gedanken versunken, bis der Beamte mit der gewünschten Auskunft zurückkam.
Der Canadian Pacific Liner Metalinear war nach Montreal und der Rotterdam-Manhattan Liner Queen of Arabia nach New York ausgelaufen.
Sorrell schien sich also zumindest die Mühe gemacht zu haben, sich nach der Abfahrt von Schiffen zu erkundigen.
Grant beschloss, einen Besuch bei der Rotterdam-Manhattan-Linie zu machen. Wer weiß, vielleicht ergab sich dabei etwas von Bedeutung.
Und hier erlebte Grant eine Riesenüberraschung, als er einen Angestellten fragte: »Können Sie mir sagen, ob jemand eine Passage auf der Queen of Arabia gebucht hatte, aber dann nicht mitgefahren ist?«
Ja, sagte der Clerk, es gab sogar zwei Personen, die das getan hatten. Einen Mr Sorrell und eine Mrs James Ratcliffe!
Grant war einen Moment sprachlos; dann fragte er nach dem Datum der Buchungen. Beide waren am selben Tag erfolgt, sieben Tage vor dem Mord. Mrs Ratcliffe hatte ihre Buchung im letzten Moment rückgängig gemacht, aber von Mr Sorrell hatte man nichts gehört.
Könnte er wohl mal einen Kabinenplan einsehen?
Gewiss, sagte der Clerk und brachte einen Plan zum Vorschein. Hier war Mr Sorrells Kabine, und hier, in derselben Reihe, aber drei Türen weiter, das war Mrs Ratcliffes Kabine.
Waren sie getrennt gebucht worden?
Ja. Der Angestellte erinnerte sich noch recht gut daran. Er hatte die Dame für Mrs Ratcliffe und den Mann für Mr Sorrell gehalten. Ja, er würde Mr Sorrell wiedererkennen.
Grant holte das Foto des Dagos heraus und zeigte es dem Mann.
»Ist er das?«, fragte er.
Der Angestellte schüttelte den Kopf.
»Nein. Diesen Mann habe ich meines Wissens noch nie gesehen.«
»Dann vielleicht dieser hier?«, fragte Grant und zeigte ihm das Foto von Sorrell.
Der Angestellte erkannte es auf den ersten Blick.
»Hat er sich nach seinen Mitreisenden erkundigt?«, wollte Grant wissen.
Aber an solche Details konnte sich der Angestellte beim besten Willen nicht mehr erinnern. An diesem Montag hatte lebhafter Betrieb geherrscht.
Grant bedankte sich bei ihm und ging wieder in den Nieselregen hinaus, ohne überhaupt zu merken, dass es regnete. Die Dinge wurden immer verworrener und unverständlicher; Ursache und Wirkung, Motiv und Aktion passten einfach nicht mehr zusammen. Sie nahmen eine albtraumhafte Inkonsequenz an, die ihn beunruhigte. Sorrell schien also tatsächlich beabsichtigt zu haben, nach Amerika zu gehen. Er hatte eine Passage zweiter Klasse gebucht und sich persönlich eine Kabine ausgesucht. Diese erstaunliche und unbestreitbare Tatsache passte nirgendwohin. Sie warf einen mächtigen Schraubenschlüssel ins Getriebe, das bisher so glatt gelaufen war. Wenn Sorrell so pennylos gewesen wäre, wie es den Anschein gehabt hatte, dann hätte er doch keine Zweite-Klasse-Passage nach New York gebucht! Und angesichts dieser Buchung dürfte wohl auch die angenommene Selbstmordabsicht eine armselige Erklärung für das Vorhandensein des Revolvers und für das Fehlen von persönlichen Habseligkeiten sein. Jetzt sprach alles viel mehr für die erste Theorie, dass der Mangel an persönlichen Hinweisen vorsätzlich für den Fall eines Zusammenpralls mit der Polizei arrangiert worden war. Aber Sorrell war doch, soweit sich das bisher hatte feststellen lassen, eine durchaus gesetzestreue Persönlichkeit gewesen. Und um allem die Krone aufzusetzen, war nun auch Mrs Ratcliffe erneut in dieser Affäre aufgetaucht. Sie war die Einzige aus dem unmittelbaren Personenkreis um Sorrell gewesen, die zur Zeit des Mordes oder danach Unbehagen, ja sogar Qual verraten hatte. Sie und ihr Mann hatten unmittelbar hinter Sorrell in der Schlange gestanden. Ihr Mann! Das Bild von James Ratcliffe, diesem Prototyp eines britischen Bürgers, tauchte vor Grants geistigem Auge auf. Er würde Mr Ratcliffe noch einen Besuch abstatten, diesmal aber vollkommen unangemeldet!
Grant musste etwa drei Minuten im Vorzimmer warten, bis Mr Ratcliffe heraus kam, ihn herzlich begrüßte und ihn in sein Privatbüro bat.
»Nun, Inspector, wie kommen Sie voran?«, erkundigte sich Ratcliffe. »Wissen Sie, Kriminalisten und Zahnärzte müssen wohl die unglücklichsten Leute von der Welt sein. Niemand kann einen von ihnen sehen, ohne dabei gleich an unangenehme Dinge erinnert zu werden.«
»Ich bin nicht hergekommen, um Sie zu belästigen«, sagte Grant. »Ich war nur rein zufällig in dieser Gegend, und da wollte ich Sie bitten, mich doch einmal Ihr Telefon benutzen zu lassen, damit ich mir den Weg bis zu einem Postamt sparen kann.«
»Aber gewiss doch«, sagte Ratcliffe freundlich. »Bitte, bedienen Sie sich nur. Ich werde so lange hinausgehen und …«
»Nein, nein, gehen Sie bitte nicht«, sagte Grant. »Es ist kein privates Gespräch. Ich möchte mich nur erkundigen, ob ich irgendwie gebraucht werde.«
Aber niemand brauchte ihn. Die Spur in Süd-London war äußerst schwach, aber die Spürhunde waren immer noch auf der Fährte. Beinahe erleichtert legte Grant den Hörer wieder auf. Jetzt wollte er keine Verhaftung vornehmen, solange er nicht gründlich über alles nachgedacht hatte. Der Albtraum eines jeden Beamten von Scotland Yard ist eine falsche Verhaftung. Grant drehte sich wieder nach Ratcliffe um und informierte ihn, dass eine Verhaftung unmittelbar bevorstünde. Man hätte den Täter bereits ausfindig gemacht.
Ratcliffe machte ihm ein Kompliment, das Grant mit den Worten abschnitt: »Was ich übrigens noch sagen wollte: Sie hatten mir ja gar nicht erzählt, dass Ihre Frau die Absicht hatte, am Tag nach dem Mord nach New York zu fahren.«
Ratcliffes Gesicht zeigte einen Augenblick lang einen verständnislosen und schockierten Ausdruck.
»Ich wusste nicht«, begann er, dann fuhr er überhastet fort: »Ich habe es nicht für wichtig gehalten, sonst hätte ich es Ihnen natürlich gesagt. Meine Frau war viel zu aufgeregt, um die lange Schiffsreise antreten zu können. Und außerdem war ja da auch noch die Untersuchung mit der Leichenschau. Meine Frau hat eine Schwester in New York. Sie wollte sie für einen Monat besuchen. Aber das hat doch nichts weiter zu sagen, wie? Ich meine, dass ich es Ihnen nicht erzählt habe? Es hatte doch überhaupt nichts mit dem Verbrechen zu tun.«
»Nein, nein«, sagte Grant. »Ich habe es auch nur rein zufällig erfahren. Nein, es hat gar nichts zu bedeuten. Geht es Ihrer Frau inzwischen schon wieder besser?«
»Ja, ich denke schon. Sie ist seit der Leichenschau nicht mehr zu Hause gewesen. Im Moment hält sie sich in Eastbourne bei einer anderen Schwester auf, bei der Schwester, die Sie ja schon kennengelernt haben.«
Als Grant zum Yard zurückkehrte, wunderte er sich noch mehr. Er ließ einen Beamten namens Simpson zu sich kommen.
»Ja, Sir?«, fragte Simpson, ein blonder, sommersprossiger Mann von mittlerer Größe. Er wirkte wie ein wachsamer Terrier, der nur darauf wartete, dass jemand einen Stein werfen sollte.
Grant sagte: »In 54 Lemonora Road, Golder’s Green, wohnt ein Ehepaar namens Ratcliffe. Ich möchte wissen, wie das Verhältnis zwischen den Eheleuten ist. Außerdem alles, was Sie sonst noch so über den Haushalt in Erfahrung bringen können. Je mehr Klatsch, desto besser. Über sein Geschäft weiß ich bereits alles. Damit brauchen Sie sich also nicht zu befassen. Ich bin mehr an häuslichen Affären interessiert, verstehen Sie? Sie können jede im gesetzlichen Rahmen erlaubte Methode benutzen. Berichten Sie mir heute Abend, ob Sie etwas herausbekommen haben oder nicht. Ist Mullins im Moment im Yard?« Ja, Simpson hatte ihn vorhin gesehen. »Gut, dann schicken Sie ihn sofort her.«
Mullins hatte keine Sommersprossen, und er wirkte beinahe wie ein Küster.
»Guten Morgen, Sir«, sagte er und wartete.
»Guten Morgen, Mullins. Von jetzt an werden Sie bis auf Weiteres einen Straßenhändler spielen, einen Hausierer, klar? Sie geben zwar einen ausgezeichneten Italiener ab, aber es dürfte wohl doch besser sein, Sie als Briten auftreten zu lassen. Ich werde Ihnen eine Anweisung für Clitheroe in der Lowndes Street geben. Er wird Sie mit allem ausrüsten, was Sie brauchen. Verkaufen Sie aber nicht mehr, als Sie unbedingt müssen. Und ich möchte, dass Sie nicht mehr hierher zurückkommen. Wir treffen uns in einer Stunde im Gang neben Clitheroe’s. Können Sie’s in einer Stunde schaffen?«
»Ich denke schon, Sir. Soll ich jung oder alt sein?«
»Das ist egal. Sagen wir: jung bis mittleres Alter. Graubärte sind doch ein bisschen zu theatralisch. Übertreiben Sie nichts. Sie müssen so aussehen, dass Sie notfalls auch mit einem Bus fahren können.«
»Sehr wohl, Sir«, sagte Mullins, als hätte er soeben weiter nichts als den Auftrag erhalten, einen Brief zur Post zu bringen.
Als Grant sich eine Stunde später mit ihm im Gang neben dem Geschäft traf, sagte er: »Sie sind ein Wunder, Mullins! Einfach ein Wunder. Wenn ich’s nicht genau wüsste, würde ich niemals glauben, dass Sie schon jemals einen Polizeibericht geschrieben haben.« Anerkennend musterte er den Hausierer, der jetzt vor ihm stand. Es war wirklich fast unglaublich, dass diese gebückte Gestalt einer der vielversprechendsten jungen Beamten von Scotland Yard war. Es kommt nur äußerst selten vor, dass C.I.D. einmal Zuflucht zu Verkleidungen nimmt, aber wenn man es tut, dann auch gründlich. Und Mullins war bestens dafür geeignet. Er sah tatsächlich aus, als könnte er gar nichts anderes sein als das, was er im Augenblick war.
»Schöner Schmuck gefällig?«, fragte Mullins, der Hausierer, und klappte den Deckel seines geflochtenen Kastens hoch. Auf grünem Tuch lag eine Sammlung von Gegenständen, meistens billige italienische Fabrikware: Brieföffner, bemalte Holzschnitzereien, nützlicher und unnützer Krimskrams, Figuren aus Gips und Pappmaché.
»Gut!«, sagte Grant. Er holte einen dünnen, in weiches Papier eingewickelten Gegenstand aus der Tasche, entfernte die Verpackung und sagte: »Sie gehen zuerst zu 98 Brightling Crescent, direkt an der Fulham Road. Stellen Sie fest, ob die Frau, die dort wohnt, das hier schon mal gesehen hat …« Er legte einen silbernen Dolch mit emailliertem Heft zwischen die anderen Sachen. »Ich brauche Ihnen wohl gar nicht erst zu sagen, dass dieses Ding natürlich nicht zu verkaufen ist. Was kostet denn das hier?«, fragte er plötzlich und griff nach einem Artikel.
»Für einen Gentleman wie Sie, nun, sagen wir, ein Shilling neun Pence?«, antwortete Mullins ohne Zögern.
Als der Passant wieder außer Hörweite war, fuhr Grant fort: »Wenn Sie mit der Frau fertig sind – und halten Sie Ihre Augen ganz allgemein offen –, dann gehen Sie zum Haus Nr. 54 in der Lemonora Road. Versuchen Sie herauszubekommen, ob dort jemand dieses Ding schon mal gesehen hat oder wiedererkennt. Anschließend erstatten Sie mir sofort Bericht.«
Als der Hausierer etwa zur Teezeit die Hintertür von 54 Lemonora Road erreichte, rief ein hübsches Dienstmädchen: »Ach, herrje! Schon wieder einer!«
»Schon wieder ein was?«, sagte der Hausierer.
»Na, ein Hausierer! Der alles Mögliche verkaufen will!«
»Waren denn schon mehr hier? Aber ich möchte wetten, dass keiner so hübsche Sachen anzubieten hatte wie ich«, sagte er und öffnete seinen Kasten.
»Oh!«, sagte das Mädchen sichtlich entzückt. »Sind die Sachen sehr teuer?«
»Aber nein! Außerdem kann sich ein Mädchen mit Ihrem Lohn doch bestimmt was Hübsches leisten.«
»Was wissen Sie denn von meinem Lohn, Mister?«
»Genau weiß ich natürlich gar nichts, aber ich kann’s mir denken. So ’n hübsches Mädchen wie Sie, dieses nette Haus, da muss doch auch der Lohn gut sein, nicht wahr?«
»Nun ja, der Lohn ist schon in Ordnung«, sagte sie in einem Tonfall, der deutlich genug durchblicken ließ, dass es andere Nachteile gab.
»Ob sich die Dame des Hauses nicht mal meine schönen Sachen ansehen möchte?«, sagte er.
»Es gibt keine Dame«, sagte sie. »Im Moment bin ich die Dame des Hauses. Die Herrin ist in Eastbourne. Sind Sie bei der Armee gewesen?«
»Während des Krieges. Vier Jahre in Frankreich, Miss.«
»Na, Sie können reinkommen und eine Tasse Tee trinken. Dabei kann ich mir Ihre Sachen ja mal ein bisschen genauer ansehen.«
Sie führte ihn in die Küche, wo der Tisch bereits gedeckt war. Am Tisch saß ein blonder, sommersprossiger Mann mit einem blauen Halstuch und einem silbernen Entlassungsabzeichen eines Soldaten am Jackenaufschlag. Der Mann war gerade dabei, eine riesige Tasse an den Mund zu setzen. Neben ihm lag ein Stapel Briefblöcke auf dem Tisch.
»Hier ist noch ein Ex-Soldat«, sagte das Mädchen. »Er verkauft Schreibpapier.«
»Hallo, Kollege!«, sagte der sommersprossige Mann. »Wie geht’s Geschäft?«
»Gut, ganz gut. Du hast’s dir hier ja ganz gemütlich gemacht.«
»Hab’s auch nötig. Hab’ heute noch keinen einzigen Block verkauft. Unser Land wird wohl noch ganz vor die Hunde gehen. Kommt ja kaum noch vor, dass man überhaupt jemanden antrifft, der noch ’n Herz hat.«
»Kommen Sie, essen Sie auch was«, sagte das Mädchen und schob dem Hausierer eine Tasse zu. Er ließ sich nicht lange nötigen.
»Auf die eine Art bin ich ja ganz froh, dass die Herrin nicht zu Hause ist«, sagte er. »Aber auf der anderen tut’s mir auch leid. Wer weiß, vielleicht hätte sie mir was von meinen schönen Sachen abgekauft.«
»Mir tut’s nicht leid!«, rief das Mädchen temperamentvoll. »Für mich ist’s ’ne ordentliche Erleichterung. Wenn sie zu Hause ist und dauernd Theater macht, lohnt sich das Leben ja kaum noch für unsereinen!«
»Hat wohl Launen, was?«
»Ich nenn’s Launen, aber sie nennt’s Nerven. Und seit dieser Mord-Affäre – sie hat doch auch in dieser Menschenschlange vor dem Theater gestanden, als der Mann ermordet wurde, wissen Sie? Ja, sie hat direkt daneben gestanden! Mann, hat sie sich danach aufgeführt! Und dann musste sie doch auch noch als Zeugin zur Leichenschau. Sie hätte kaum verrückter spielen können, wenn sie den Mord selbst begangen hätte! Am Abend vorher hat sie geschrien und geheult und behauptet, das nicht länger aushalten zu können. Und als der arme Herr sie beruhigen wollte, hat sie ihn überhaupt nicht an sich rangelassen. Hat ihm Schimpfworte an den Kopf geworfen, die man nicht mal zu einem Hund sagen würde! Also, ich sage euch, für mich war’s vielleicht ’ne Wohltat, als sie endlich mit Miss Lethbridge – das ist ihre Schwester – nach Eastbourne gegangen ist!«
»Ja, ja, das ist immer das Beste«, sagte der Sommersprossige. »Ein bisschen fortgehen, meine ich. Geht sie öfters fort?«
»Nicht so oft, wie ich’s gern möchte! Am Tag nach dem Mord wollte sie ja nach Yorkshire, aber dann war sie so aufgeregt, dass sie’s einfach nicht konnte. Stattdessen ist sie jetzt nach Eastbourne gegangen. Na, hoffentlich bleibt sie recht lange dort! Aber jetzt zeigen Sie mir doch mal Ihre Sachen«, forderte sie den Hausierer auf.
Er deutete mit einem Kopfnicken auf seinen Kasten.
»Sehen Sie sich nur alles gut an«, sagte er. »Wenn Ihnen was gefällt, können Sie’s ganz billig haben. Ist schon lange her, seit ich einmal so Tee trinken konnte. Was meinst du, Bill?«
»Ja, ja«, antwortete sein ›Kollege‹ mit vollem Munde. »Gibt ja heutzutage kaum noch Leute, die ein Herz haben.«
Das Dienstmädchen betrachtete eine ganze Weile die bunte Sammlung.
»Na, da verpasst aber meine Herrin was«, sagte sie schließlich. »Die ist doch ganz verrückt auf so komische Dinge. Wozu ist das denn?«, fragte sie und nahm den silbernen Dolch in die Hand »Um Leute damit zu ermorden?«
»Haben Sie so was denn noch nie gesehen?«, fragte der Hausierer erstaunt. »Das ist ein Brieföffner, genau wie die aus Holz.«
Geistesabwesend probierte sie die Spitze an einem Finger aus, dann legte sie das Ding schaudernd wieder zurück. Schließlich suchte sie sich eine kleine, bunt bemalte Schüssel aus; vollkommen nutzlos, aber doch ganz nett anzuschauen. Der Hausierer überließ sie ihr für Sixpence, und in ihrer Dankbarkeit holte sie für die beiden Männer noch zwei von Mr Ratcliffes Zigaretten. Während der Hausierer und sein Kollege rauchten, sprach das Mädchen lebhaft darüber, was es offensichtlich am meisten zu beschäftigen schien – über den Mord.
»Ob Sie’s nun glauben oder nicht, wir hatten sogar einen Inspector von Scotland Yard hier! Oh, der sah vielleicht gut aus! Gar nicht wie ein Polizist! Niemand würde ihm das ansehen. Gar nicht wie ein Bobby. Aber es war trotzdem nicht nett, ihn hier im Haus zu haben. Natürlich war er misstrauisch, als sie sich so aufgeführt hat und ihn nicht sehen wollte. Ich hab’ gehört, wie Miss Lethbridge zu ihr gesagt hat: ›Sei nicht dumm, Meg! Der einzige Weg, ihn zu stoppen, besteht doch darin, mit ihm zu sprechen und ihn zu überzeugen! Du musst es einfach tun!‹ Ja, das hat sie gesagt.«
»Nun, Eastbourne ist ’ne nette Gegend«, sagte der sommersprossige Mann. »Dort wird sie ihren Kummer bestimmt bald vergessen.« Er stand auf. »Also wirklich, Miss, so gut habe ich schon seit Jahren nicht mehr Tee getrunken. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Ist doch gern geschehen«, sagte sie. »Und hören Sie lieber auf meinen Rat. Geben Sie doch diesen Handel mit Briefpapier auf. Damit ist doch heutzutage nichts mehr zu verdienen. Viel zu altmodisch. Versuchen Sie’s doch lieber mal mit solchen Sachen hier, mit Neuheiten, wie man sie in allen Geschäften zur Weihnachtszeit verkauft.«
Der sommersprossige Mann sah ziemlich ironisch auf den Dolch, dann fragte er: »Gehst du die Straße rauf oder runter, Kollege?«
»Rauf«, sagte der Hausierer.
»Na, dann viel Glück! Ich muss jetzt wieder los. Und nochmals vielen Dank für den Tee, Miss.« Er ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu.
Fünf Minuten später schickte sich auch der Hausierer zum Aufbruch an.
Wie durch schieren Zufall trafen sich der ›Hausierer‹ und sein sommersprossiger ›Kollege‹ im Bus wieder.
»Na«, sagte Letzterer heiter, »hattest du einen guten Tag, Kumpel?«
»Lausig«, sagte der Hausierer. »Einfach lausig. Und du?«
»Es ging. Ist es nicht erstaunlich, wie dumm diese Mädchen sind? Mann, wir hätten das Ding doch abservieren und das ganze Haus ausräumen können! Aber auf diesen Gedanken schien sie gar nicht gekommen zu sein.« Als der Hausierer zustimmend nickte, fuhr der andere fort: »Du hast gute Ware. Hat wohl der Boss persönlich ausgesucht, was?«
»Ja.«
»Hab’ ich mir doch gleich gedacht Versteht sich auf so was. Aber was interessiert ihn eigentlich so sehr hier draußen?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Das Mädchen ist nicht auf dein Messer hereingefallen, wie ich bemerkt habe.«
»Nein.« Der Hausierer war nicht sonderlich mitteilsam.
Der Sommersprossige gab es resigniert auf.
»Gesprächiger Vogel«, brummte er, holte zwei Zigaretten heraus und bot dem Hausierer eine davon an. Der Hausierer warf einen flüchtigen Blick auf die Marke und erkannte eine von Mr Ratcliffes Zigaretten. Sein ernstes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
»Schuft!«, sagte er, als er sich von seinem Begleiter Feuer geben ließ.
Von diesem munteren Geplänkel zwischen den beiden Männern war jedoch nichts mehr zu merken, als sie eine Stunde später Grant Bericht erstatteten. Simpson sagte, dass Mr und Mrs Ratcliffe im Großen und Ganzen auf freundlichem Fuße miteinander standen, aber doch immer wieder ernsthaften Streit hatten. Über den Grund dieser lautstarken Streitigkeiten vermochte Simpson nichts zu sagen, da das Mädchen niemals dabei gewesen war, wenn es zum Krach zwischen den Eheleuten gekommen war. Das Mädchen war stets erst durch das Geschrei hinter der geschlossenen Tür aufmerksam geworden und hatte dann gelauscht. Den größten Streit hatte es zwischen ihnen gegeben, als sie in der Mordnacht nach Hause gekommen waren. Seitdem konnte von freundlichen Beziehungen nicht mehr die Rede sein. Mrs Ratcliffe hatte am Tag nach dem Mord nach Yorkshire gehen wollen, hatte sich aber zu sehr aufgeregt, sodass sie dazu nicht mehr imstande gewesen war. Nach der Leichenschau war sie mit ihrer Schwester nach Eastbourne gefahren, wo sie jetzt im Grand-Parade-Hotel wohnte. Sie war eine Person, die ganz plötzlich heftige Zuneigung für andere Leute entwickeln konnte. Solange sie diese Leute leiden mochte, stellte sie sich manchmal recht unvernünftig an. Da sie etwas eigenes Vermögen besaß, war sie von ihrem Ehemann ziemlich unabhängig.
Mullins sagte, dass er im Haus Nr. 98 Brightling Crescent sehr viel Mühe gehabt hatte, Mrs Everett zu überreden, sich überhaupt seine Sachen einmal anzusehen. Sie hatte energisch behauptet, nichts zu brauchen. Kaum hatte er seinen Kasten geöffnet, da war ihr Blick sofort auf den silbernen Dolch gefallen. Prompt hatte sie ihm einen misstrauischen Blick zugeworfen und ihn aufgefordert: »Verschwinden Sie!« Danach hatte sie ihm die Tür einfach vor der Nase zugeschlagen.
»Was glauben Sie? Hat sie den Dolch erkannt?«
Das vermochte Mullins nicht zu sagen, aber es war mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass der Anblick des Dolches sie veranlasst hatte, die Tür so abrupt zuzuschlagen. Bis dahin war sie an sich noch recht freundlich gewesen. Dagegen war Mullins sicher, dass das Dienstmädchen in der Lemonora Road den Dolch noch nie gesehen hatte.
Nachdem Grant die beiden Männer wieder entlassen und den Dolch im Schreibtisch eingeschlossen hatte, saß er lange in tiefes Nachdenken versunken da. Heute war ein wahrer Unglückstag. Keine Verhaftung, obwohl Grant eher geneigt war, diesen Umstand als Vorteil zu betrachten; dann die verblüffende Entdeckung, dass Sorrell tatsächlich die Absicht gehabt hatte, nach Amerika zu gehen; und noch immer keine Spur von den Banknoten, die außer den fünfundzwanzig Pfund, die ein bisher unbekannter Freund des Toten an den Yard geschickt hatte, bei der Gesamtsumme von zweihundertunddreiundzwanzig Pfund an Lamont ausgezahlt worden waren. Der Mord lag nun sieben Tage zurück. Die Banknoten waren vor zehn Tagen ausgehändigt worden. Außer den fünfundzwanzig Pfund hatte keine einzige andere Banknote ausfindig gemacht werden können. Und seine beiden Männer hatten auch nichts von Bedeutung melden können. Grant hatte keinen Anhaltspunkt für irgendeine Verbindung zwischen Mrs Ratcliffe und Sorrell. Er war beinahe geneigt, daran zu glauben, dass reiner Zufall die beiden Namen auf einer Passagierliste zusammengeführt hatte, und dass es auch nur ein Zufall gewesen war, dass beide Personen am selben Abend in derselben Schlange nebeneinandergestanden hatten. Der Schock ihres Mannes, als Grant ihre Abreise nach New York erwähnt hatte, hatte seine Ursache wahrscheinlich nur darin gehabt, dass Ratcliffe vergessen hatte, dem Inspector schon vorher etwas davon zu sagen. Was Mrs Everett betraf, so zeugte ihr Verhalten wohl eher von Intelligenz als von Schuld. Sie hatte Mullins nach dessen eigenen Worten misstrauisch angesehen. Vielleicht war sie also wirklich nur misstrauisch gewesen. Grant beschloss, Mrs Everett vom Verdacht der Mitwisserschaft freizusprechen. Und was die Ratcliffes betraf, so würde er auch sie vorerst von der Liste seiner Verdächtigen streichen müssen. Sie passten nicht ins Bild, und es gab auch keinerlei Beweise gegen sie. Warum Mrs Ratcliffe ihrem Dienstmädchen gesagt hatte, nach Yorkshire fahren zu wollen, während sie in Wirklichkeit ins Ausland reisen wollte – nun, das würde er schon noch herausbekommen.
Das Telefon läutete. Williams meldete sich am Apparat.
»Wir haben ihn ausfindig gemacht, Sir. Wollen Sie selbst herkommen? Oder sollen wir weitermachen?«
»Wo ist es?« Williams sagte es ihm. »Haben Sie alle Ausgänge gesichert? Keinerlei Risiko, wenn wir noch etwas länger warten?«
»Nein, nein, Sir. Wir haben ihn absolut sicher.«
»Gut. Dann treffen wir uns in einer halben Stunde an der Ecke Brixton Road und Acre Lane.«
Als Grant seinen Untergebenen am vereinbarten Ort traf, fragte er sofort nach Einzelheiten. Williams berichtete, während man weiterging. Er hatte seinen Mann über Wohnungsmakler gefunden. Lamont hatte sich drei Tage vor dem Mord eine möblierte Wohnung, zwei kleine Zimmer, im obersten Stockwerk eines Hauses gemietet und war am Morgen des Mordtages tatsächlich eingezogen.
Ja, das passte zu Mrs Everetts Story, dachte Grant.
»Und welchen Namen hat er angegeben?«, fragte er.
»Seinen eigenen«, sagte Williams.
»Was? Seinen eigenen Namen?«, sagte Grant ungläubig. Irgendwie beunruhigte ihn das. »Nun, Sie haben gute Arbeit geleistet, Williams.«
»Dort ist das Haus, Sir«, sagte Williams. »Das vierte in der Reihe.«
»Gut«, sagte Grant. »Sie und ich werden hinaufgehen. Haben Sie ein Schießeisen bei sich, nur so für alle Fälle? In Ordnung. Also kommen Sie!«
Es gab keinen Klingelknopf für die Wohnung im dritten Stock. Grant musste dreimal läuten, bevor sie schließlich von einem brummigen Mieter im Erdgeschoss ins Haus gelassen wurden. Während sie im letzten Tageslicht die Treppen hinaufgingen, deren Stufen von Stockwerk zu Stockwerk immer schäbiger wurden, besserte sich Grants Stimmung erheblich. Gleich würde er dem Dago von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen; dem Mann, den er in der Strand gesehen hatte; dem Mann, der Sorrell ein Messer in den Rücken gestochen hatte. Bald würde man nicht länger im Dunklen zu tappen brauchen.
Grant klopfte hart an die Tür. Keine Antwort. Grant klopfte noch einmal. Es hörte sich merkwürdig hohl an. Wieder nichts.
»Machen Sie auf, Lamont! Wir sind Polizeibeamte! Wenn Sie nicht öffnen, müssen wir die Tür aufbrechen!«
Absolute Stille.
»Sind Sie sicher, dass er hier ist?«, fragte Grant seinen Untergebenen.
»Nun, gestern war er jedenfalls noch hier, Sir. Seitdem hat ihn niemand gesehen. Das Haus steht seit heute Nachmittag drei Uhr unter Beobachtung.«
»Dann werden wir die Tür aufbrechen müssen«, sagte Grant. »Vergessen Sie aber nicht, zurückzutreten, wenn die Tür nach innen aufspringt!«
Mit vereinten Kräften nahmen sie die Tür in Angriff, die den ungleichen Kampf unter knirschendem Krachen aufgab. Grant, die rechte Hand in der Tasche, ging hinein. Schon der erste Rundblick verriet ihm die Wahrheit.
»Unser Vogel ist ausgeflogen, Williams. Wir haben ihn verpasst.«
Williams stand mitten im Raum und machte ein Gesicht wie ein Kind, dem man eine Nascherei weggenommen hat. Er schluckte mehrmals sehr hart. Grant tat der Mann leid. Es war ja nicht Williams’ Schuld. Vielleicht war er ein bisschen zu sicher gewesen, aber er hatte gute Arbeit geleistet, indem er den Mann so schnell ausfindig gemacht hatte.
»Er hat’s sehr eilig gehabt, Sir«, stellte Williams fest, als wäre diese Tatsache ein Linderungsmittel für seinen verletzten Stolz und für seine Enttäuschung. Die Beweise für den überstürzten Aufbruch waren allerdings kaum zu übersehen. Auf dem Tisch standen noch Essensreste; Schubläden waren halb herausgezogen und rücksichtslos ausgeräumt worden; Kleidungsstücke und persönliche Habseligkeiten waren zurückgeblieben. Der Bewohner dieser Räume war nicht etwa ausgezogen, sondern Hals über Kopf geflohen.
»Sehen wir uns mal an, was er zurückgelassen hat«, sagte Grant. »Aber zuerst will ich mich nach Fingerabdrücken umsehen.« Er wanderte in den beiden Räumen herum, verstäubte überall das feine Pulver, aber es gab nur wenige glatte Oberflächen für gute, klare Abdrücke, und soweit überhaupt solche vorhanden waren, hatten andere Abdrücke sie wieder verwischt. Aber auf dem lackierten Holz der Tür gab es zwei sehr klare Abdrücke. Hier hatte sich offensichtlich jemand mit der linken Hand aufgestützt, während er mit der rechten einen Mantel von einem der in der Tür eingeschlagenen Nägel genommen hatte. Für Grant war es immerhin ein kleiner Trost. Er zündete die Petroleumlampe auf dem Tisch an. Elektrische Beleuchtung gab es hier oben nicht. Als er sich daranmachen wollte, die von Lamont zurückgelassenen Sachen etwas näher in Augenschein zu nehmen, wurde er von Williams ins Schlafzimmer gerufen. Williams hielt ein Bündel Geldscheine der Bank von England in der Hand.
»Habe ich ganz hinten in diesem Schub gefunden, Sir. Muss es verdammt eilig gehabt haben!« Der Fund war offensichtlich Balsam für Williams’ gequälte Seele. »Wird sich vor Wut bestimmt selbst in den Hintern beißen wollen!«
Aber Grant hatte bereits eine Liste mit Zahlen aus der Brieftasche genommen und verglich sie mit den Nummern der Banknoten. Kein Zweifel, das waren die Geldscheine, die Lamont für Sorrells Scheck von der Bank bekommen hatte. Und Lamont hatte es mit seiner Flucht so eilig gehabt, dass er tatsächlich eine so wichtige Sache glatt vergessen hatte. Bis auf die fünfundzwanzig Pfund, die für Sorrells Beerdigung geschickt worden waren, war die gesamte Restsumme vorhanden. Das war ziemlich ungewöhnlich. Warum hatte der Dago – wie Grant ihn noch immer nannte – während der zehn Tage zwischen Abhebung und Mord nichts von diesem Geld ausgegeben? Bis zum Mordabend hatte er doch nichts zu befürchten gehabt, oder? Sicher, es handelte sich um größere Banknoten, aber das war keine ausreichende Erklärung. Warum hatte er keinen einzigen Schein gewechselt?
Ansonsten gab es kaum noch etwas von Interesse in den beiden Räumen, von den Büchern auf dem Kaminsims abgesehen. Grant las die Titel auf den Buchrücken. Wells, O. Henry, Buchan, Owen Wister, Mary Roberts Rinehart, Sassoon’s Gedichte, viele Bände der Jahresausgabe von Racing-Up-to-Date, Barrie’s Little Minister. Grant nahm ein Buch herunter und schlug das Titelblatt auf. In der Handschrift, die Grant schon vom Scheck her kannte, den Lamont eingelöst hatte, war der Name des Besitzers vermerkt: Albert Sorrell. Grant nahm die übrigen Bücher eins nach dem anderen herunter. Nahezu alle hatten Sorrell gehört. Er hatte sie offensichtlich kurz vor seiner beabsichtigten Abreise nach Amerika Lamont vermacht. Demnach dürften die beiden Männer also bis zur allerletzten Minute Freunde gewesen sein. Was war dann geschehen? Oder war es nur eine Freundschaft nach außen hin gewesen? Sollte Lamont etwa schon immer die sprichwörtliche Schlange gewesen sein, die Sorrell an seinem Busen genährt hatte?
Und nun gab es also ein neues Problem – Lamonts gegenwärtiges Versteck. Wohin hätte er gegangen sein können? Er hatte es eilig gehabt. Verdammt eilig sogar. Es war also keine sorgfältig vorausgeplante Aktion gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich Lamont mit dem erstbesten Unterschlupf begnügen müssen, den er nun finden würde. Mit der Möglichkeit einer Flucht ins Ausland brauchte kaum gerechnet zu werden. Nein, das hatte Lamont bestimmt nicht getan. Alles sprach eher dafür, dass er sich noch in London aufhielt. Er würde sich wie eine Ratte an einem ihm bekannten Ort verkriechen, wie er es bisher getan hatte.
Grant hinterließ Anweisungen, dass die Suche nach Lamont weiter fortgesetzt werden sollte, dann kehrte er zum Yard zurück und versuchte dabei, sich selbst in die Lage des gesuchten Mannes zu versetzen. Wie hätte er dann eine solche überstürzte Flucht arrangiert?
Es war schon spät in der Nacht, und Grant war sehr müde, als endlich etwas Licht in die Sache kam. Das Labor hatte ihm die Fotos der Fingerabdrücke geschickt, die Grant in Lamonts Wohnung gefunden hatte.
Sie gehörten – Mrs Everett! Daran gab es nicht den mindesten Zweifel. Mrs Everett war also in diesem Zimmer gewesen, hatte sich mit einer Hand gegen die Tür gestützt und mit der anderen etwas von einem Nagel genommen. Mrs Everett! Du lieber Himmel! Wenn man von einer falschen Schlange am Busen spricht …! Und er – Grant – sollte sich wirklich pensionieren lassen! Er hatte ja bereits den Zustand erreicht, in dem er allen Leuten traute. Es war unglaublich und demütigend, aber er hatte tatsächlich geglaubt, dass Mrs Everett ihm gegenüber ehrlich gewesen sei! Dass er sie von einem Mann hatte beobachten lassen, war doch nicht viel mehr als eine routinemäßige Formsache gewesen. Aber wie dem auch sei, jetzt hatte er jedenfalls eine definitive Spur zu Lamont! Über Mrs Everett würde er an den Mann herankommen. Er zweifelte auch keinen Moment daran, dass Mrs Everett durch irgendeine Information Lamont zur Flucht veranlasst hatte. Wahrscheinlich war sie gestern schnurstracks zu ihm gegangen, nachdem Grant sie verlassen hatte. Sie musste bereits fort gewesen sein, als der Beobachtungsposten eingetroffen war, aber er hätte sie zurückkommen sehen müssen. Das würde man zu überprüfen haben; Andrews war allzu sorglos. Und aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte Mrs Everett auch den neuen Unterschlupf vorgeschlagen oder sogar selbst geliefert haben. Er glaubte nicht, dass eine Frau ihrer Intelligenz dumm genug sein würde, den Mann bei sich zu verstecken. Also musste Grant versuchen, alles über Mrs Everetts Umgang und Familie in Erfahrung zu bringen. Wie sollte er das am besten bewerkstelligen? Er stellte sich Mrs Everett in verschiedenartigster Umgebung vor, und dann hatte er es plötzlich. Kirche! Diese Frau war bestimmt eine fanatische Kirchgängerin und dürfte sich auch sonst auf dem Gebiet christlicher Nächstenliebe aktiv betätigen. Man würde sie allgemein respektieren, aber sie würde auch nicht gerade allzu beliebt sein. Ihr schroffes, zurückhaltendes Wesen war gewiss nicht dazu angetan, sich Freunde zu schaffen. Umso mehr würden wohl die anderen Mitglieder ihrer Kirchengemeinde bereit sein, über sie zu reden.
Grant schloss die Augen und überlegte, wen er am besten damit beauftragen sollte, Mrs Everett unter die Lupe zu nehmen.