»Als was haben Sie sich gestern ausgegeben, Simpson, als Sie Informationen über die Ratcliffes sammeln sollten?«, fragte Grant.
»Ich war Ex-Soldat und habe Briefpapier verkauft, Sir.« »Schön, dann können Sie heute gleich noch mal Ex-Soldat spielen. Aber sehr ordentlich und sauber. Kein Halstuch, sondern steifer Kragen. Arbeitslos. Ich möchte alles über eine Mrs Everett, 98 Brightling Crescent, Nebenstraße der Fulham Road, erfahren.
Aber nichts mehr von Geschäften zwischen Tür und Angel, verstanden? In dieser Beziehung ist sie äußerst misstrauisch, und Sie müssen da sehr vorsichtig sein. Sie macht den Eindruck einer fleißigen Kirchgängerin. Ich möchte vor allem wissen, ob sie Freunde oder Verwandte hat und wo diese leben. Um ihre Korrespondenz brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Das kann ich notfalls selbst erledigen, und ich halte es auch nicht für sehr erfolgversprechend. Mrs Everett ist nicht von gestern, Simpson. Vergessen Sie das nicht. Überstürzen Sie nichts. Arbeiten Sie langsam, aber sicher. Falls Sie von ihr durchschaut werden, müssten wir einen anderen Mann einsetzen und wieder von vorn anfangen. Lassen Sie mich sofort wissen, wenn Sie irgendetwas in Erfahrung gebracht haben, aber kommen Sie nicht hierher zurück, bevor Sie nicht am Telefon mit mir gesprochen haben.«
Und so kam es, dass Mr Caldicott, der Geistliche der Congregational Church im Brightling-Bezirk, beim Rasenmähen vor seinem Haus auf einen Fremden aufmerksam wurde, der ihn in einer Mischung aus Mitgefühl und Neid beobachtete. Als der Mann sah, dass er entdeckt worden war, tippte er respektvoll an die Mütze und sagte: »Ziemlich schwere Arbeit an einem so heißen Tag, Sir. Darf ich Ihnen nicht ein bisschen behilflich sein?«
Nun war aber der Geistliche noch ziemlich jung.
»Glauben Sie, dass ich nicht allein damit fertig werden kann?«, fragte er und lächelte den anderen dabei brüderlich an.
»Oh, nein, Sir: So ist das keineswegs. Es ist nur so, also, ja, wissen Sie, Sir, ich würde mir ganz gern ’ne Kleinigkeit verdienen, ich meine, wenn ich diese Arbeit für Sie erledigen könnte …«
»Ach?«, sagte Mr Caldicott, dessen professionelle Instinkte sofort wach wurden. »Sie suchen Arbeit?«
»So ist’s«, sagte der Mann.
»Verheiratet?«
»Nein, Sir.«
»Was für Arbeit suchen Sie denn?«
»Oh, ich übernehme alles.«
»Ja, ja, das schon, aber haben Sie denn keinen Beruf erlernt?«
»Ich kann Schuhe machen, Sir«, sagte Simpson, der es für das Beste hielt, sich an die Wahrheit zu halten, soweit es seine Aufgabe erlaubte.
»Hm, nun ja …«, meinte Mr Caldicott nachdenklich. »Vielleicht wäre es wirklich vernünftiger, wenn Sie den Rasen mähen, sodass ich mich um meine sonstigen Pflichten kümmern kann.« Simpson griff sofort eifrig nach dem Rasenmäher.
»Um ein Uhr kommen Sie dann ins Haus«, sagte Caldicott. »Sie können mit mir zusammen Mittag essen.«
Das wollte Simpson nun ganz und gar nicht. Die Küche war sein Ziel, nicht eine Unterhaltung mit dem Pastor im Speisezimmer des Pfarrhauses. Mit meisterhaft gespielter Verwirrung und Verlegenheit stotterte Simpson: »Also, wenn’s Ihnen nichts ausmacht, Sir, ich meine, es wäre mir schon lieber, wenn ich … wenn ich in der Küche … Sehen Sie, ich bin’s doch nicht gewöhnt …«
»Na, na!«, sagte Caldicott in brüderlichem Tonfall.
»Bitte, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben …«, sagte Simpson mit solcher Überzeugungskraft, dass der Geistliche nachgab.
»Also gut«, sagte Caldicott leicht gereizt, weil sein so gut gemeinter Vorschlag abgelehnt wurde. »Wenn Sie unbedingt wollen?« Er ging davon, kam aber schon nach kurzer Zeit zurück und schien es darauf abgesehen zu haben, Simpsons Lebensgeschichte zu erfahren. Und so war Simpson heilfroh, als endlich im Haus ein Gong ertönte, der den Pastor zum Essen rief. Mit einem gnädigen Kopfnicken entließ Caldicott seine ›Aushilfe‹ in die hinteren Regionen des Hauses.
Der Geistliche – immer noch Junggeselle und eine recht gute Partie, wie Simpson inzwischen herausbekommen hatte – beschäftigte zwei Frauen; eine als Haushälterin und Köchin, die andere als Mädchen für alles. Die beiden waren entzückt, ein so stattliches Mannsbild bei sich begrüßen zu können. Während der einstündigen Mittagspause erfuhr Simpson aber nicht gerade viel über Mrs Everett. Sie war Witwe und bildete sich wer weiß was darauf ein, dass ihr Vater Pastor gewesen war. Auf Simpsons Frage, ob ihr Vater hier Pastor gewesen sei, sagten die beiden Frauen, oh, nein, nein, irgendwo im Norden. Bestimmt in irgendeinem gottverlassenen Kaff. Mrs Everett beteiligte sich an jeder kirchlichen Veranstaltung; nicht etwa aus Frömmigkeit, oh, nein, sondern nur, um allen in Erinnerung zu bringen, dass ihr Vater eben auch Pastor gewesen war.
Simpson war mit dem Rasenmähen beinahe fertig, als Caldicott erneut aus dem Haus kam und sich ihm anschloss. An diesem Abend fand eine Zusammenkunft im Gemeindehaus statt. Möchte Simpson nicht hinkommen? Simpson bedankte sich und antwortete aufrichtig, sehr gern. Es müssten Stühle und andere Sachen aus der Kirche ins Gemeindehaus getragen werden, würde Simson dabei ein bisschen behilflich sein? Falls er nach dem Tee hinginge, würde er das Damenkomitee bereits bei den Vorbereitungen antreffen. Ein Damenkomitee – nun, das war genau das, was Simpson brauchte. Wiederum sagte er begeistert zu. Zufrieden kehrte der Pastor ins Haus zurück.
Nachdem Simpson mit den beiden Frauen in der Küche Tee getrunken hatte, ging er zur Kirche. Hier traf er die drei Frauen an, denen er behilflich war, den großen Versammlungsraum im Gemeindehaus für die bevorstehende Zusammenkunft herzurichten. Sie endete kurz vor zehn Uhr abends, und Simpson brachte die redseligsten Frauen, die besonders nett zu ihm gewesen waren, nach Hause. So konnte er am nächsten Vormittag seinem Vorgesetzten einiges über Mrs Everett melden.
Mrs Everett war Schottin. Sie sprach keinen Akzent, weil sie bereits fünfundzwanzig Jahre in London lebte und ursprünglich von der Westküste stammte. Ihr Vater war Pastor in einem Dorf an der Westküste von Ross gewesen. Jetzt war ihr Bruder dort Pastor. Ihr Mädchenname lautete Logan. Sie war seit fünfzehn Jahren Witwe und hatte keine Kinder. Sie war nicht sehr beliebt, weil sie sehr zurückhaltend war, aber man achtete sie allgemein sehr. Sorrell hatte seit seiner Entlassung aus der Armee bei ihr gewohnt. Die beiden Männer waren bei den übrigen Mitgliedern der Kirchengemeinde nicht bekannt. Aber man hatte sie natürlich beobachtet. Die beiden waren stets zusammen ausgegangen. Keiner von ihnen hatte je ein Mädchen gehabt. Mrs Everett hatte keine Verwandten oder sonstige Angehörigen in London. Jedenfalls wusste niemand etwas davon. Aber sie fuhr einmal im Jahr nach Schottland. Ihre Mieter ließ sie dann stets von einer bezahlten Aushilfe versorgen.
Als Simpson gegangen war, ließ Grant die Männer kommen, die am Montagabend in King’s Cross und Euston Dienst gehabt hatten. Er forderte sie auf, alle Verdächtigen zu beschreiben, die man überprüft hatte. Als der Mann von King’s Cross von einem jungen Mann in Begleitung seiner Mutter berichtete, hakte Grant sofort ein.
»Beschreiben Sie doch mal die Mutter ein bisschen näher«, sagte er.
Der Mann tat es sehr präzise.
»Waren sonst noch Verdächtige im Zug?«, fragte Grant.
Oh, ja, sagte der Mann. Ein ganzer Haufen. Er beklagte sich bitter darüber, dass die Heimat aller dunkelhäutigen, schwarzhaarigen, schlanken Männer mit vorstehenden Wangenknochen im Norden von Schottland zu finden sein dürfte. In allen nach Norden fahrenden Zügen wimmelte es geradezu davon.
»Und wieso haben Sie den zuvor erwähnten jungen Mann nicht für den Verdächtigen gehalten?«, fragte Grant.
»Sein Benehmen, Sir. Und das seiner Mutter. Und sein Koffer mit den Initialen G. L. lag so auf dem Gepäcknetz, dass jedermann die beiden Buchstaben sehen konnte. Und er hatte eine Golftasche bei sich. Und alles in allem hat er zu lässig und ruhig gewirkt.«
Gut gemacht, Mrs Everett!, dachte Grant. Ein Mann, der es so eilig hat, dass er sogar eine größere Geldsumme vergisst, würde doch bestimmt nicht an eine Golftasche denken. Ob der Koffer absichtlich so ins Gepäcknetz gelegt worden war? Grant konnte kaum glauben, dass jemand den Erfolg eines so großen Unternehmens mit einem so enormen Bluff gefährden würde. Nein, das dürfte Zufall gewesen sein.
Wohin wollte dieser Mann reisen?
Das Gepäck hatte keine Schilder enthalten, aber der Fahrkartenverkäufer hatte Edinburgh als Reiseziel genannt.
Grant brauchte nicht lange, um Lamonts voraussichtlichen Bestimmungsort herauszubekommen. Es gab nicht viele Logans in der Kirche von Schottland, und nur einer hatte eine Pfarrei in Ross-shire. Er war Pastor der Vereinigten Freikirche in Carninnish und dem strengen Glauben seiner Väter offensichtlich untreu geworden. Carninnish war ein Dorf, am Kopfende von Loch Finley an der Westküste gelegen.
Grant ging zu Barker und sagte: »Ich werde für ein, zwei Tage nach Schottland zum Angeln fahren.«
»Dafür gibt’s doch weiß Gott bequemere Orte«, sagte Barker.
»Schon möglich, aber dort beißen die Fische nicht so gut. Zwei Tage werden reichen, denke ich.«
»Wollen Sie jemanden mitnehmen?«
»Nein.«
»Das sollten Sie aber lieber. Denken Sie doch nur mal dran, wie schwerfällig so ein Highland-Dorfpolizist ist.«
Grant schüttelte ablehnend den Kopf.
»Aber vielleicht werde ich jemanden brauchen, um den Fisch nach London zu bringen«, sagte er.
»In Ordnung. Wann wollen Sie fahren?«
»Heute Abend mit dem Zug um sieben Uhr dreißig von King’s Cross. Dann bin ich morgen Vormittag zehn Uhr in Inverness. Danach werde ich Sie auf dem Laufenden halten.«
»Gut«, sagte Barker. »Na, dann … Petri Heil! Und verfangen Sie sich bloß nicht an Ihrem eigenen Angelhaken!«
Grant arrangierte sorgfältig die weiteren Nachforschungen während seiner Abwesenheit. Immerhin musste er ja mit der Möglichkeit rechnen, dass der Mann, der nach Carninnish gefahren war, gar nicht Lamont war. Er wollte persönlich hinfahren, weil er der Einzige war, der den Dago bisher wirklich zu Gesicht bekommen hatte. Aber die Nachforschungen in London mussten wie üblich fortgesetzt werden. Vielleicht war diese inszenierte Abreise nach Carninnish auch nur ein groß angelegter Bluff. Grant hatte großen Respekt vor Mrs Everett.