16

Als Grant den Zeugenstand verließ, entdeckte er zu seiner Überraschung unter den Zuschauern plötzlich ein bekanntes Gesicht. Miss Dinmont! Als sie seinen Blick auf sich gerichtet sah, nickte sie ungerührt. In ihrem maßgeschneiderten dunklen Kostüm wirkte sie wie eine Dame von Welt. Ihr Gesicht verriet nicht einmal irgendein Gefühl, als Lamont aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Sie waren einander sehr ähnlich, Tante und Nichte, dachte Grant. Deshalb konnten sie einander wohl auch nicht sonderlich gut leiden. Als sie den Zuschauerraum verlassen wollte, ging Grant rasch zu ihr hinüber. Er begrüßte sie sehr freundlich und fragte: »Haben Sie etwas vor, Miss Dinmont? Oder darf ich Sie zum Lunch einladen?«

Sie stimmte lächelnd zu, und während des Essens sprach sie ganz offen darüber, warum sie plötzlich ihre Pläne geändert hatte.

»Nach allem, was geschehen war, konnte ich einfach nicht länger in Carninnish bleiben«, sagte sie. »Ich wollte unbedingt die gerichtliche Voruntersuchung miterleben. Kein sehr beeindruckendes Schauspiel, muss ich sagen. Wissen Sie, ich war noch nie bei einer Gerichtsverhandlung.«

»Aber warten Sie nur mal die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht ab!«, sagte Grant.

»Ich bin zwar nicht sehr neugierig darauf, aber es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte sie seufzend. »Sie haben einen sehr schönen Fall, nicht wahr?«

»Das hat mein Chef jedenfalls behauptet.«

»Und Sie? Sind Sie nicht seiner Meinung?«, hakte sie rasch ein.

»Oh, gewiss, doch, doch!«, beeilte er sich zu versichern. Mrs Everett gegenüber zuzugeben, nicht restlos zufrieden zu sein, nun, das war eine Sache, aber er dachte gar nicht daran, es laut in alle Welt hinauszuposaunen. Und schon gar nicht diesem selbstbewussten Mädchen gegenüber!

Schließlich kam Miss Dinmont auf Lamont zu sprechen. »Er sieht ziemlich schlecht aus«, meinte sie kritisch. »Und sagen Sie mal, wer wird eigentlich seinen Verteidiger bezahlen?«

Grant erklärte ihr, was ein Pflichtverteidiger ist.

»Oh, dann kann er aber keinen guten Anwalt bekommen!«, protestierte sie.

Grant lächelte. »Oh, keine Angst! Er erhält eine faire Verhandlung. Bei einem Mordfall wird allenfalls die Polizei unfair behandelt.« Dann wechselte er rasch das Thema und sprach über belanglose Dinge, bis ihm ganz plötzlich eine Idee kam.

»Sagen Sie, Miss Dinmont, haben Sie für heute Nachmittag etwas vor?«

»Nein. Warum?«

»Haben Sie heute schon Ihre gute Tat vollbracht?«

»Nein, ich fürchte, dass ich absolut selbstsüchtig war.«

»Nun, dem könnten Sie leicht abhelfen, indem Sie mich nach Eastbourne begleiten und bis zum Dinner meine Kusine spielen. Wollen Sie?«

Sie sah ihn ernst und nachdenklich an. »Nein, ich glaube nicht, denn Sie sind doch bestimmt schon wieder hinter einer unglücklichen Person her, nicht wahr?«

»Nicht unbedingt, aber ich glaube, einer Sache auf der Spur zu sein.«

»Trotzdem – nein. Wäre es nur so zum Spaß, würde ich liebend gern mitspielen. Aber so, Sie verstehen doch?«

»Ich kann Ihnen im Augenblick zwar nicht genau sagen, worum es geht, aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie es nie zu bereuen haben werden. Wollen Sie mir das glauben und mitkommen?«

»Warum sollte ich Ihnen überhaupt noch etwas glauben?«, fragte sie sehr lieb.

»Nun, die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen«, sagte Grant, der nun doch leicht eingeschnappt war.

Sie lachte. »Jetzt bin ich Ihnen wohl auf die Zehen getreten, nicht wahr?« Dann wurde sie wieder ernst, überlegte kurz und sagte: »Also gut, ich werde mitkommen und Ihre Kusine spielen. Wissen Sie, keiner meiner Vettern sieht auch nur halb so gut aus wie Sie.« Der Spott war jedoch zu deutlich herauszuhören, sodass Grant an diesem Kompliment nicht viel Freude hatte.

Während der Fahrt nach Eastbourne erläuterte Grant seiner Begleiterin sein Vorhaben.

»Ich möchte irgendwie mit zwei Frauen, die mich bereits in meiner beruflichen Eigenschaft kennen, ins Gespräch kommen. Dabei werde ich dann versuchen, die Unterhaltung auf Hutspangen zu bringen. Wenn es so weit ist, möchte ich, dass Sie dieses Ding hier aus der Handtasche nehmen und behaupten, es für Ihre Schwester gekauft zu haben. ­Übrigens, Ihr Name lautet Eleanor Raymond, und Ihre Schwester heißt Mary. Das ist alles. Lassen Sie die Brosche so lange herum­liegen, bis ich meine Krawatte in Ordnung bringe. Damit werde ich Ihnen zu verstehen geben, dass ich alles habe, was ich brauche.«

»In Ordnung. Und wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Alan.«

»Also gut, Alan. Ich hätte doch beinahe vergessen, Sie nach Ihrem Vornamen zu fragen. Hätte doch zu komisch ausgesehen, wenn ich nicht einmal wissen würde, wie mein leibhaftiger Vetter heißt!«

Grant schlenderte mit seiner ›Kusine‹ am sonnigen Strand entlang.

»Wir werden ein paarmal hin- und hergehen«, sagte er. »An einem so schönen Tag müssen sie ja einfach einen Spaziergang machen.«

»Wie heißt denn die Dame, an der Sie so interessiert sind?«, wollte Miss Dinmont wissen.«

»Das werden Sie erst bei der Vorstellung erfahren. Sie sollen doch gar nichts von ihr wissen. Auf diese Weise wird alles realistischer aussehen.«

Nachdem sie etwa zehn Minuten lang auf und ab gegangen waren, sagte Grant plötzlich: »Kommen Sie, ich glaube, ich habe die beiden Damen entdeckt.«

Sie näherten sich langsam und unauffällig zwei Frauen, die auf Liegestühlen in der warmen Sonne lagen. Die schlankere Frau hielt ihnen den Rücken zugekehrt und war offensichtlich mit Lesen beschäftigt. Die andere, deren Liegestuhl von Magazinen, Schreibblock, Sonnenschirm und sonstigen Dingen, wie man sie für einen Nachmittag am Strand braucht, umgeben war, schien eingeschlafen zu sein. Als man auf ihrer Höhe angekommen war, ließ Grant seinen Blick flüchtig und uninteressiert über die beiden Frauen schweifen, dann blieb er plötzlich stehen und rief: »Hallo, Mrs Ratcliffe! Wollen Sie sich hier ein bisschen erholen? Ist ja auch ein herrliches Wetter heute, nicht wahr?«

Mrs Ratcliffe erwiderte zunächst leicht erschrocken seinen Blick, dann begrüßte sie ihn. »An meine Schwester, Miss Lethbridge, erinnern Sie sich doch noch, nicht wahr?«

Grant schüttelte den beiden Frauen die Hand und sagte: »Aber ich glaube nicht, dass Sie meine Kusine schon kennen …«

Doch die Götter meinten es heute offensichtlich besonders gut mit Grant. Bevor er sich nämlich auf den erfundenen Namen festlegen konnte, rief Miss Lethbridge sichtlich erfreut: »Du lieber Himmel! Das ist doch Dandie Dinmont! Hallo, meine Liebe, wie geht’s Ihnen denn?«

»Ach, Sie kennen sich?«, fragte Grant, dem dabei zumute war wie einem Mann, der um Haaresbreite in einen Abgrund gestürzt wäre.

»Na, und ob!«, sagte Miss Lethbridge. »Als ich mir im St. Michael’s Hospital den Blinddarm herausnehmen ließ, hat Dandie Dinmont abwechselnd meinen Kopf und meine Hand gehalten! Und wie gut sie das gemacht hat! Meg, das ist Miss Dinmont … meine Schwester, Mrs Ratcliffe. Wer hätte gedacht, dass Sie einen Vetter bei der Polizei haben!«

»Ich nehme an, dass Sie sich auch ein bisschen erholen wollen, Inspector?«, fragte Mrs Ratcliffe.

»So könnte man es wohl nennen«, sagte er. »Meine ­Kusine hat gerade Urlaub, und da ich meinen Fall abgeschlossen habe, wollten wir uns hier einen vergnügten Tag machen.«

»Setzen Sie sich zu uns«, sagte Miss Lethbridge. »Bis zum Tee ist ja noch Zeit, da können wir uns ein bisschen unterhalten. Ich habe Dandie ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen!«

»Sie werden sicher sehr froh sein, diesen schrecklichen Fall hinter sich zu haben, nicht wahr, Inspector?«, sagte ihre Schwester, als Grant und Miss Dinmont sich in den Sand gesetzt hatten. Der Inspector ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern lenkte das Gespräch vom Wetter über Hotels, Restaurants, Gesundheit, Essen und Trinken bis zur Kleidung. Hier hakte Miss Dinmont sofort geschickt ein und sagte zu Miss Lethbridge: »Ihre Hutspange gefällt mir aber sehr! Wissen Sie, ich kann heute immer nur an Hutspangen denken, weil wir gerade eine für eine Kusine gekauft haben, die demnächst heiraten will. Warten Sie, ich werde die Ihnen mal zeigen, ich muss sie doch irgendwo hier in meiner Handtasche haben …« Sie brachte prompt das blaue Samtkästchen zum Vorschein. »Was halten Sie davon?«, fragte sie und ließ den Deckel aufschnappen.

»Oh, reizend!«, rief Miss Lethbridge, aber Mrs Ratcliffe sagte eine ganze Weile überhaupt nichts.

»M. R.«, meinte sie schließlich. »Das sind ja auch meine Initialen! Wie heißt denn Ihre Kusine?«

»Mary Raymond.«

»Sehr schön, das Stück«, sagte Mrs Ratcliffe. »Darf ich es mir ein bisschen näher ansehen?« Sie nahm das Kästchen in die Hände, untersuchte die Brosche von vorn und hinten, dann gab sie das Kästchen zurück. »Ja, wirklich sehr schön«, wiederholte sie. »Und höchst ungewöhnlich. Bekommt man so was fertig zu kaufen?«

Grant beantwortete Miss Dinmonts flehend um Hilfe bittenden Blick mit einem kaum merklichen Kopfschütteln.

»Nein, wir haben sie extra anfertigen lassen.«

»Da kann Mary Raymond aber von Glück sagen, und wenn sie ihr nicht gefällt, muss sie einen sehr schlechten Geschmack haben.«

»Oh, sie braucht uns ja nur vorzuflunkern, dass sie ihr gefällt«, sagte Grant. »Alle Frauen verstehen sich doch ausgezeichnet aufs Flunkern.«

»Hör dir das an, Meg!«, rief Miss Lethbridge lachend.

»Na, stimmt’s etwa nicht?«, fragte Grant. »Ihr gesellschaftliches Leben besteht doch aus einer endlosen Reihe von Flunkereien. Tut mir sehr leid … ich bin nicht zu Hause … würde ja sehr gern kommen, aber … schade, dass ihr nicht noch ein bisschen länger bleiben könnt! Und wenn Sie Ihren Freunden nicht vorflunkern, dann eben Ihrem Personal.«

»Meinen Freunden vielleicht, aber bestimmt nicht meinem Personal!«, behauptete Mrs Ratcliffe.

»Ach, wirklich nicht? Sie wollten doch am Tag nach dem Mord nach Amerika fahren, nicht wahr?« Und als sie bestätigend nickte: »Warum haben Sie dann Ihrem Dienstmädchen erzählt, dass Sie nach Yorkshire wollten?«

Mrs Ratcliffe schien sich abrupt aufrichten zu wollen, ließ sich aber sofort wieder zurücksinken. »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden! Ich habe meinem Mädchen niemals gesagt, dass ich nach Yorkshire fahren wollte! Ich habe gesagt … nach New York!« Bevor Grant etwas sagen konnte, fragte sie ziemlich scharf: »Woher wissen Sie das überhaupt?«

»Es gibt eben nichts, was ein Polizeiinspektor nicht weiß«, sagte er.

»Es gibt nichts, was er nicht tun würde, meinen Sie wohl!«, sagte sie zornig. »Sind Sie vielleicht mit Annie ausgegangen? Ich wäre nicht einmal überrascht, wenn Sie mich verdächtigen würden, den Mord selbst begangen zu haben!«

»Wundern sollte es mich nicht«, sagte Grant ruhig. »Als Polizeiinspektor verdächtigt man die ganze Welt.«

»Gehen wir jetzt lieber Tee trinken«, schlug Miss Lethbridge ablenkend vor.

Grant war den beiden Damen behilflich, ihre Sachen zusammenzupacken. Dabei ließ er Mrs Ratcliffes Schreibblock absichtlich fallen. Beim Aufheben schlug er unauffällig das Deckblatt zurück. Vom ersten Blatt – einem halbvollendeten Brief – starrten ihm die großen, runden Buchstaben von Mrs Ratcliffes Handschrift entgegen …

»Nun, was halten Sie von Mrs Ratcliffe?«, fragte Grant Miss Dinmont, als sie nach London zurückfuhren.

»Warum?«, fragte sie gereizt. »Fragen Sie nur so zur Unterhaltung … oder soll das eine Untersuchung sein?«

»Sie sind mir doch nicht etwa böse, Miss Dinmont?«

»Das dürfte kaum der richtige Ausdruck sein für das, was ich im Moment empfinde«, antwortete sie beinahe schroff. »So dumm wie heute bin ich mir schon lange nicht mehr vorgekommen.« Es hörte sich sehr bitter an.

»Dazu besteht doch keinerlei Grund«, sagte Grant unbehaglich. »Sie haben Ihre Aufgabe perfekt gelöst. Ich sehe mich einer Sache gegenüber, die ich nicht verstehe. Deshalb brauchte ich Ihre Hilfe. Das ist alles. Ich brauche die Meinung einer vollkommen unvoreingenommenen Frau über Mrs Ratcliffe. Daher meine Frage.«

»Nun, wenn Sie meine offene Meinung hören wollen, ich glaube, diese Frau ist ein Dummkopf!«

»Ach? Und Sie trauen ihr nicht zu, clever zu sein, tief im Innersten?«

»Ich glaube, dass sie überhaupt keine Tiefe hat.«

»Sie halten sie für seicht und oberflächlich? Aber …« Er dachte eine ganze Weile nach, bevor er fragte: »Und ihre Schwester?«

»Oh, die ist ganz anders! Sie besitzt eine Menge Verstand und Persönlichkeit, auch wenn Sie’s vielleicht nicht glauben werden.«

»Würden Sie Mrs Ratcliffe einen Mord zutrauen?«

»Nein, ganz bestimmt nicht!«

»Und warum nicht?«

»Weil sie einfach nicht den dazu nötigen Mumm besitzt!«

»Meinen Sie, dass sie das Wissen um einen begangenen Mord für sich behalten könnte?«

Miss Dinmont sah dem Inspector forschend ins Gesicht.

»Vielleicht«, sagte sie schließlich zögernd. »Aber dafür müsste sie schon einen Grund haben, der sie selbst in hohem Grade betrifft.«

Die restliche Fahrt legten sie schweigend zurück.