18

»Nun, was glauben Sie, Grant?«, fragte Barker nach kurzem Schweigen. »Ob sie verrückt ist?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Also keine Chance, dass ihre Geschichte nicht stimmen könnte? Mir kommt sie jedenfalls unglaubwürdiger vor als Lamonts Einlassungen.«

»Oh, ja, die Geschichte stimmt«, sagte Grant »Daran gibt’s wohl keinen Zweifel. Alles passt zu gut zusammen. Sorrells beabsichtigter Selbstmord, das Geldgeschenk an Lamont, das Buchen der Passage, die Perlenbrosche. Ich war ein Narr, weil ich nicht früher begriffen habe, was die Initialen bedeuten könnten. Aber ich hatte mich einfach zu sehr in den Gedanken verrannt, dass Mrs Ratcliffe etwas mit dem Fall zu tun gehabt haben könnte.«

»Glauben Sie, dass Ray Marcable die wahren Zusammenhänge ahnt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil Ray Marcable eine der egozentrischsten Personen ist, die ich kenne. Sie hatte sich zwar nach meiner Beschreibung an den Dolch erinnert, aber da hatte sie ja noch keinen Grund, den Ermordeten mit Sorrell in Zusammenhang zu bringen, und deshalb konnte sie auch keinerlei Verbindung zu ihrer Mutter sehen. Der Yard hat ja Sorrells Identität erst am Montag feststellen können, und an diesem Tag ist die Marcable nach den Vereinigten Staaten abgereist. Es würde mich sogar sehr überraschen, wenn sie überhaupt schon wüsste, dass es sich bei dem Ermordeten um Sorrell gehandelt hat. Wenn sie überhaupt Zeitung liest, dann höchstwahrscheinlich nur die Klatschspalten. Außerdem wird die amerikanische Presse kaum an dem Mord in der Schlange interessiert sein.«

»Dann steht der Marcable ja noch ein gehöriger Schock bevor.«

»Ganz recht«, sagte Grant beinahe grimmig. »Und für Lamont ein angenehmer, und darüber bin ich sehr froh. Ich habe mich bei diesem Fall zwar dümmer als je zuvor angestellt, aber seit ich Lamont damals aus dem Wasser holte, habe ich mich noch nie so wohl gefühlt wie jetzt.«

»Nun ja, es ist schon eine höchst merkwürdige Geschichte«, stellte Barker fest. »Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn Mullins zurückkommt, ja? Wenn er die Messerscheide mitbringt, werden wir Mrs Wallis’ Geschichte glauben müssen. Lamont kommt morgen wieder vor den Untersuchungsrichter, nicht wahr? Nun, dann können wir die Frau ja auch gleich hinbringen.« Er ließ Grant allein.

Und Grant tat ganz mechanisch das, was er vorhin hatte tun wollen, als er durch Barkers Eintritt gestört worden war. Er holte den Dolch und die Brosche aus dem Schreibtisch. Nur ein kleiner Schritt zwischen Absicht und Ausführung – und was für ein Unterschied! Vorhin hatte er sie noch als Zeichen seiner Verzweiflung betrachtet, als Geheimnisse, die ihn bald um den Verstand gebracht hätten. Und jetzt, wo er alles wusste, war es so einfach. Aber wenn Mrs Wallis nicht gekommen wäre … Er schob diesen Gedanken weit von sich.

Es war ein so klarer Fall gewesen, was die Beweise anbelangte: der Streit, die Linkshändigkeit, die Narbe. Man hatte den Mann gesucht, der sich mit Sorrell gestritten hatte. War das nicht gut genug gewesen? Und nun war es Unsinn. Der Mörder war eine Frau, die mit beiden Händen gleich geschickt umgehen konnte.

Er ging in Gedanken noch einmal den Weg, der ihn so in die Irre geführt hatte. Die Jagd nach Sorrells Identität; Nottingham; der jugendliche bei Faith Brothers; Mr Yeudall; die Kellnerin im Hotel; Raoul Legarde mit seiner Schönheit und raschen Intelligenz; Danny Miller, die letzte Vorstellung von Didn’t You Know?; Struwwelpeter und der Zwischenfall in Sorrells Büro; Lacey, der Jockey; Mrs Everett; die Reise nach Schottland, Carninnish: Drysdale; der Tee im Pfarrhaus; Miss Dinmont mit ihrer Logik und Selbstzufriedenheit; der Beginn aller Zweifel und ihr Anschwellen nach Lamonts Aussage; die Brosche. Und jetzt …

Da lagen sie vor ihm auf dem Schreibtisch, die beiden glitzernden und glänzenden Dinge.

Er dachte an Mrs Wallis. War sie geistig normal im üblichen Sinne? Schwer zu sagen, was ein Spezialist von ihr halten würde. Und überhaupt, was ging ihn das noch an? Seine Arbeit war beendet. Die Presse würde natürlich wegen der voreiligen Verhaftung über ihn herziehen, aber beim Yard würde man ihn verstehen. Und er würde endlich diesen Urlaub antreten.

Seine Gedanken wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.

Mullins kam herein und legte eine Messerscheide auf den Schreibtisch.

»Lag genau dort, wo sie gesagt hat, Sir«, meldete er. »Und hier ist der Hausschlüssel.«

»Danke, Mullins«, sagte Grant. Er steckte das Messer in die Scheide und stand auf, um es Barker zu bringen. Ja, er würde Urlaub machen und nach Hampshire fahren. Dort würde jetzt schon alles grün sein, und falls es ihm dort zu ruhig werden sollte, konnte er ja immer noch nach Danebury gehen. Und eines Tages, irgendwann, würde er natürlich auch noch einmal nach Schottland fahren, nach Carninnish, um im Loch Finley zu angeln.

Die Sachverständigen erklärten Mrs Wallis für vollkommen normal und zurechnungsfähig. Grant ist allerdings davon überzeugt, dass sie freigesprochen wird. Eine britische Jury ist in Wirklichkeit genauso sentimental wie eine französische. Und wenn die Geschworenen erst einmal die Geschichte hören werden, wie Mrs Wallis’ Verteidiger sie vorbringen wird – einer der berühmtesten Strafverteidiger unserer Tage –, dann werden alle eimerweise Tränen vergießen und sich weigern, sie zu verurteilen.

»Nun«, hatte Barker zu Grant gesagt, »es ist schon ein sehr komischer Fall gewesen, aber das Komischste daran dürfte wohl sein, dass es gar keinen Schurken darin gibt.«

»Was Sie nicht sagen!«, hat er geantwortet und dabei den Mund so merkwürdig verzogen.

Na, gibt’s vielleicht einen?