11. April 1815

Vor der Ostküste von Sumbawa,
Niederländisch-Ostindien

Vom Bug der HMS Tenebrae aus blickte Commander Leland Macklin in den feurigen Schlund der Hölle.

Es ging bereits auf Mittag zu, doch die Sonne war nicht zu sehen. Eine tief hängende Schicht aus Asche und Rauch verdeckte den Himmel. Der Schwefelgestank brannte in den Augen und in der Lunge. Allein die Feuerinsel Sumbawa spendete Licht. Der Inselstrand war eine halbe Meile entfernt, doch bis auf die Lavaströme, die über die Hänge des Tambora flossen, war dort nichts zu erkennen.

Grabesstille lag über dem Meer – soweit man es überhaupt sehen konnte. Rund ums Schiff war das Wasser mit einer dreißig Zentimeter dicken Bimsschicht bedeckt. Unmengen aufgedunsener Fische schwammen in der heißen Asche sowie zahlreiche Tote. Hunderte tote Seelen. Die meisten waren so stark verkohlt, dass sie vom dunklen Meer kaum zu unterscheiden waren.

»Wir sollten uns zurückziehen, Commander«, sagte Lieute­nant Hemple, dem die Angst deutlich anzumerken war.

Der Lieutenant, sieben Jahre jünger als der Commander, war seit über zehn Jahren Macklins Zweiter Offizier. Hemple war ein schroffer, harter Mann mit dunkelblondem Haar, der nicht zu Dramatisierungen neigte. Wegen der drückenden Hitze hatte er die Uniformjacke ausgezogen. Jetzt war er nur noch mit Weste, weißem Hemd und blauer Hose bekleidet. Wie alle Besatzungsmitglieder hatte er sich ein feuchtes Tuch vor Nase und Mund gebunden.

»Wir haben schon eine Menge Asche aufgenommen, Sir«, sagte Hemple. »Teilweise sehr heiß.«

»Das ist richtig.«

Macklin wischte sich mit einem feuchten Tuch die Stirn ab. Er war gekleidet wie sein Lieutenant, hatte die blaue Jacke mit schlichten goldenen Paspelierungen und Messingknöpfen aber anbehalten. Er klopfte sich Asche vom schwarzen Hut, dann bedeckte er damit wieder sein angegrautes Haar.

Macklin schaute sich um und begutachtete den Zustand der Tenebrae . Sein Schiff wirkte ebenso versteinert wie das Meer, eine dunkle Erhebung inmitten dieses verfluchten Gewässers. Asche bedeckte Decks, Takelage und ­Segel des Dreimasters. Seeleute mit verhüllten Gesichtern eilten umher, kehrten und schaufelten die heiße Asche von Bord, während unablässig Staub und federleichte Flocken herabregneten.

»Sir?«, sagte Hemple.

»Wir wenden«, befahl Macklin. »Zurück nach Java. Vize­gouverneur Raffles erwartet bestimmt schon unseren Bericht. Aber reffen Sie in diesem tückischen Gewässer die Segel.«

»Aye, Commander.«

Hemple gab den Befehl an den Steuermann weiter. Kurz darauf schwenkte das Schiff langsam von der Feuerinsel ab. Der raue Bims scharrte am Rumpf, was sich anhörte, als kratzten die Klauen des Todes an der Bordwand. In der Ferne war ein leises, unheimliches Zischen zu hören, das von der Lava herrührte, die das Wasser zum Verdampfen brachte.

Macklin reagierte erleichtert, als der Feuerschein des Tambora allmählich hinter ihnen zurückfiel. Der erste Ausbruch war vor sechs Tagen erfolgt. Auf der dreizehnhundert Kilometer entfernten Insel Java hatte es sich angehört wie fernes Kanonenfeuer. Viele glaubten, ein Handelsschiff werde von Piraten angegriffen, doch als schwarze Aschewolken herantrieben, gefolgt von einer Riesenwelle, wurde klar, dass es sich um einen Vulkanausbruch biblischen Ausmaßes handelte.

Die Tenebrae hatte zu dem Zeitpunkt in Batavia angelegt, der Hauptstadt von Niederländisch-Ostindien auf Java. Zwei Tage nach der ersten Eruption hatte der Vizegouverneur sie angewiesen, sich vor Ort ein Bild vom Ausmaß der Schäden zu machen.

Die Tenebrae war für eine solche Unternehmung gut gerüstet. Sie war ein Kohletransporter, mit viereckigem Heck, breitem Bug und flachem Rumpf, der es ihr ermöglichte, auch in flachen Gewässern zu segeln. Außerdem verfügte sie über ein breites Hauptdeck, das vom ­Vorschiff bis zum Achterdeck reichte. Die Gesamtlänge betrug dreißig Meter, die Breite neun Meter zehn. Wegen der zahlreichen Piraten hatte sie sechs Vierundzwanzigpfünder-Karronaden an Deck und zwei Sechspfünder auf dem Vorschiff.

Macklin legte die Hand auf eine der Kanonen und betastete das kühle Eisen. Er war froh, dass sie zum Hafen zurücksegelten, denn die Stille des Meeres und das ständige Scharren am Rumpf verursachten ihm Unbehagen.

Als er das Geräusch von Schritten vernahm, wandte er sich um und erblickte eine klapperdürre Gestalt. Obwohl der Mann sich ein feuchtes Tuch umgebunden hatte, erkannte er Johannes Stoepker, den Naturforscher der Batavischen Gesellschaft. Stoepker hatte Jacke und Weste abgelegt und war nur noch mit schwarzer Hose und weißem Hemd bekleidet, das inzwischen ebenso dunkel wie seine Hose war. Vizegouverneur Raffles hatte ihn dem Schiff zugeteilt, denn er war der Vorsitzende der Gesellschaft, deren Ziel die Erforschung und Bewahrung all dessen war, was in Ostindien in historischer und wissenschaftlicher Hinsicht von Belang war. Deshalb hatte die Batavische Gesellschaft einen Forscher mitgeschickt.

Stoepker dicht auf den Fersen folgte der Schiffsjunge Matthew. Der zwölfjährige Aborigine – schwarzes Haar, dunkle Haut und bewundernswert mutig – wurde auch als Pulverjunge eingesetzt, wenn die Kanonen gebraucht wurden, doch in den vergangenen Tagen hatte er dem Naturforscher geholfen. Offenbar hochzufrieden mit der neuen Aufgabe, grinste Matthew, der eine schwere Ledertasche auf der Schulter trug, gefüllt mit Bimsstein, den die Matrosen aus dem Wasser gefischt hatten.

»Was gibt’s, Mister Stoepker?«, fragte Macklin.

Der Forscher schob die Maske aufs bärtige Kinn hinun­ter. »Commander, wäre es nicht möglich, ein paar Leichen zu bergen? Auf Java gibt es einen Anatomen und Chirur­gen, der sich für den Zustand der Toten interessieren würde.«

Macklin verzog das Gesicht. »Das kommt nicht infrage, Mister Stoepker. Das würde die Männer beunruhigen.«

Stoepker zog stirnrunzelnd die Brauen zusammen. Tief in Gedanken versunken, drehte er einen Goldring am Finger. Der Ring hatte einen Granatstein, in den die Buchstaben BG eingraviert waren, die Abkürzung für Bata­viaasch Genootschap , die niederländische Bezeichnung für die Bata­vische Gesellschaft.

Stoepker beendete seine Grübelei und räusperte sich. »Commander Macklin, die Tenebrae führt ein Beiboot mit Eisenrumpf mit, das über Felsen und Riffs fahren kann. Könnten wir es nicht zu Wasser lassen, einen Toten einladen und es dann bis nach Java schleppen?«

Macklin überlegte. Clever war der Vorschlag jedenfalls. »Das klingt vernünftig. Ich erlaube es.« Er wandte sich an Matthew. »Junge, hol den Leichtmatrosen Perry und lass mit ihm das Beiboot zu Wasser.«

Matthew nickte, stellte die Tasche ab und eilte davon.

Während sie warteten, trat Stoepker ans Geländer und schaute zu der Insel hinüber, die hinter dem Schiffsheck leuchtete. »Ich hätte nie erwartet, dass der Tambora der Auslöser ist. Eher schon der Merapi oder der Klut. Wäre ich ein Spieler, hätte ich auf den Bromo gewettet, der regelmäßig Rauchwolken ausstößt.«

Macklin nickte grimmig. »Alle haben geglaubt, der Tambora schlafe.«

»Genau genommen hielt man ihn für erloschen«, präzisierte Stoepker. »Zumindest war das die vorherrschende Meinung. Aber ich habe gehört, die Eingeborenen von Sumbawa hätten hin und wieder Erdstöße registriert oder es tief in der Erde rumpeln hören. Vielleicht sollten wir solche Berichte nicht vorschnell abtun.«

»Richtig.«

»Und heute Nacht … ich glaube, die zweite Eruption des Tambora war noch heftiger als die erste. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor, weil wir näher dran waren.«

»Nein, ich glaube, Sie haben recht«, entgegnete Macklin. »Das hat sich angehört, als würde die Erde in zwei Hälften zerbrechen.«

»Stimmt. Und die nachfolgende Welle war gewaltig. Vermutlich wird es auf den umliegenden Inseln weitere Überschwemmungen geben.«

Macklin dachte an die Welle, die nach der ersten Eruption Java getroffen hatte. Die Tenebrae hatte in tiefem Wasser geankert und keinerlei Schäden davongetragen. An der Küste aber waren Docks zerstört und Schiffe und Trümmerteile landeinwärts geschwemmt worden.

»Hoffen wir, dass es noch einen Hafen gibt, zu dem wir zurückkehren können«, murmelte Macklin.

Lieutenant Hemple war aufs Vorschiff zurückgekehrt. Mit steifen Schritten eilte er heran. »Commander, der Ausguck meldet Feuer voraus.«

»Auf einer der vorgelagerten Inseln?«

»Nein, Sir. Im Wasser. Eine halbe Meile voraus.« Hemple setzte ein Fernglas aus Messing an. »Ich kann das bestätigen.«

Macklin streckte die Hand aus. »Lassen Sie mal sehen.«

Hemple reichte ihm das Fernglas. Macklin ging zur Steuer­bordseite des Schiffes. Im Dunst bemerkte er einen hellen Fleck. Er passte das Glas ans Auge an, atmete mehrmals tief durch und richtete es aufs Ziel. Eine Minute lang schwieg er. Als die Tenebrae die Stelle passierte, klärte sich die Sicht.

»Das scheint ein Schiff zu sein«, meldete Macklin. »Brennend und mit starker Schlagseite.«

»Ein Schiff Seiner Majestät, Sir?«, fragte Hemple. »Oder ein indisches?«

Macklin senkte das Glas und schüttelte den Kopf. »Noch zu weit weg, um Farben oder Flaggen erkennen zu können. Aber wir gehen näher ran.«

Hemple nickte knapp und ging weg, um dem Steuermann Bescheid zu geben.

»Es ist gefährlich hier draußen«, sagte Stoepker. »Glühende Asche kann ein Holzschiff leicht in Brand setzen.«

»Nicht die Tenebrae . Meine Männer halten die Augen auf. Bei uns wird es keine böse Überraschung geben.«

»Vielleich war die Besatzung des anderen Schiffes weni­ger wachsam.«

»Wir werden sehen.«

Selbst mit halber Besegelung dauerte es nicht lange, dann hatten sie das sinkende Schiff erreicht. Macklin und Stoepker waren Lieutenant Hemple aufs Achterdeck gefolgt. Master Welch stand am Ruder. Niemand wollte ein Risiko eingehen. Zumal inzwischen klar war, dass es sich bei dem Schiff in Seenot um ein Piratenschiff der Bugi-Piraten handelte, in dieser Gegend die Geißel der Niederländer. Die Masten hatten sich in Fackeln verwandelt und standen bereits schief. Der Qualm war so dicht, dass er die Flammen beinahe verdeckte.

Mehrere kleine Ruderboote entfernten sich im Ascheregen vom Wrack. Die meisten brannten oder qualmten. Zwei Boote schwenkten herum und hielten auf die Tene­brae zu, die Insassen ruderten wie besessen.

Macklin fand es seltsam, dass Piraten bei einem Schiff Zuflucht suchten, das unter der Flagge Seiner Majestät fuhr. Selbst wenn sie an Bord gelangten, mussten sie damit rechnen, aufgeknüpft zu werden. Trotzdem legten sie sich mächtig ins Zeug.

Eins der Boote geriet in Brand. Es geschah so plötzlich, dass Stoepker der Atem stockte. Die Piraten drängten sich in der Mitte des Boots zusammen, als fürchteten sie das Wasser mehr als die Flammen. Doch es gab kein Entrinnen. Ihre Kleidung fing Feuer, das Boot brach auseinander. Die Männer fielen ins Wasser und verschwanden unter der Ascheschicht. Ein brennender Arm schoss hoch, dann versank auch er.

»Was ist da los?«, fragte Hemple mit aufgerissenen Augen.

Stoepker wich von der Reling zurück. »Wir sollten abdrehen. Irgendwas stimmt hier nicht.«

Wie aufs Stichwort ließ ein Donnergrollen das Wasser erbeben. Hinter ihnen wurde das Leuchten heller. Offenbar war der Tambora erneut ausgebrochen.

Macklin schnitt eine Grimasse. Der Name des Schiffes erwies sich heute als allzu treffend. Sein erster Eigner hatte es als Sträflingsschiff genutzt und es nach der katholischen Klagezeremonie benannt. Als Tenebrae bezeichnete man die letzten drei Tage der Karwoche. Die fünfzehn Kerzen, die das Leiden Christi auf dem Kreuzweg symbolisierten, wurden nacheinander gelöscht – bis nur noch Dunkelheit zurückblieb. Die Zeremonie endete mit einem lauten Donnerschlag, der das Verschließen von Jesu Grab versinnbildlichen sollte.

Macklin sah zum bedeckten Himmel auf, während der Knall verhallte.

Wird das hier unser Grab werden?

Im nächsten Moment hob sich das Wasser hinter dem Schiff, als ob ein gewaltiges Meereswesen an die Oberfläche käme und sich ihnen näherte.

»Festhalten!«, brüllte Hemple.

Das Heck wurde erst angehoben, dann sackte es ab, während der Bug emporstieg, bis das Schiff hinter der Woge wieder ins Wasser einsank. Die Tenebrae schaukelte heftig, die Masten schwankten hin und her, und die Segel peitschten.

Macklin blickte zum letzten der flüchtenden Ruderboote hinüber. Es war abgeschwenkt, als hätten die Piraten nun doch die Flagge bemerkt, die an ihrer Mastspitze wehte.

Doch das war nicht der Grund für das Manöver.

Hemple eilte an seine Seite. »Rauch, Sir. Er steigt rings­umher auf.«

Macklin war bereits aufgefallen, dass die Sicht sich verschlechterte, hatte es jedoch auf das brennende Piratenschiff zurückgeführt.

Ein Bootsmann und dessen Maat stürmten aufs Achterdeck und riefen: »Feuer in der Bilge!«

Hemple gab Anweisungen. »Sandeimer und Wasser! Los!«

Macklin schaute stirnrunzelnd aufs Meer hinaus, auf das brennende Piratenschiff.

Stoepker beugte sich über die Reling und blickte in die Tiefe. »Wo sind sie abgeblieben?«

Macklin folgte seinem Blick. Verkohlte Äste hafteten am Rumpf. Mit jeder Schaukelbewegung des Schiffes tauchten mehr davon auf. Rauch waberte ringsumher, als wären die Äste glühende Schürhaken, die sich in die Schiffsplanken bohrten.

Macklin schauderte. Das sah nicht gut aus.

»Alle Segel setzen!«, befahl er. »Wir müssen von hier verschwinden!«

Nach wie vor blickte er gebannt in die Tiefe. Die brennenden Äste schienen sich auszubreiten, als handele es sich um die Klauen eines Meeresungeheuers, das sich die Tenebrae krallen wollte.

Jetzt begriff er, was die Piraten in Panik versetzt hatte.

Bevor die Tenebrae richtig Fahrt aufgenommen hatte, brachen Flammen aus dem Rumpf, fraßen sich entlang der Äste vor und hüllten das Schiff ein. Nicht einmal ein vorüber­gehendes Absinken ins Aschewasser vermochte das Feuer zu löschen.

Hinter ihm gab Hemple die Befehle des Commanders weiter. Überall wurde geschrien und geflucht.

Macklin hielt im dichten Rauch Ausschau nach dem Bugi-Schiff. Das Piratenschiff versank langsam im aschebedeckten Meer. Er wusste, dass die Tenebrae das gleiche Schicksal erwartete. Auf einmal fiel ihm auf, dass Stoepker und der Schiffsjunge verschwunden waren, doch er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Eine Rauchwolke verschluckte das Schiff. Flammen loderten über die Reling. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er dachte an die letzte Karfreitagsmesse, der er in einer Kirche in Batavia beigewohnt hatte. Der Chor hatte ein Lied gesungen, das Gregorio Allegri vor Jahrhunderten für die Tenebrae komponiert hatte, die drei Leidenstage Christi.

Er sagte den Titel auf: »Miserere mei, Deus.«

Das passte zum Schiffsnamen.

Gott sei mir gnädig.

23. April 1815
Batavia, Java

Stamford Raffles, der Vizegouverneur von Niederländisch-Ostindien, folgte dem Captain des Ostindienfahrers Apollon durch den im Wiederaufbau befindlichen Stadthafen. Captain Haas wurde von seinem Schiffschirurgen Swann begleitet.

Die beiden waren aufgeregt am Gouverneurspalast aufgetaucht und hatten den Brief eines Mannes übergeben, dem Stamford vertraute. Obwohl die Sonne bereits unter­ging, hatten sie sich deshalb mit einer Kutsche auf den Weg zu den Docks gemacht. Jetzt schritten sie einen langen steinernen Pier entlang, einen der wenigen, welche die Verwüstungen der vergangenen Wochen unbeschädigt überstanden hatten.

Überall im Hafen wurde gehämmert, gesägt und gerufen. Es hatte ein wenig aufgeklart, doch noch immer verwandelte eine dicke Staubwolke die Sonne in eine dunkelrote Scheibe, und es herrschte den ganzen Tag lang Zwielicht. Der Abendwind führte Schwefelgeruch mit sich.

Stamford hielt sich ein parfümiertes Tuch vor die Nase. Die Hitze drückte auf seine Stimmung. Er trug eine schwarze Jacke mit steifer Weste, weil er mit Würden­trägern von Britisch Malaya, die zur Begutachtung der Schäden infolge des Vulkanausbruchs angereist waren, zu Abend speisen wollte.

Captain Haas schloss zu Stamford auf. Der rotblonde Niederländer war mit grauer Jacke und grauer Hose weniger formell gekleidet, machte aber einen gepflegten Eindruck und strahlte zupackende Entschlossenheit aus.

Haas deutete auf das Schiff, das in der Bucht vor Anker lag. »Die Apollon war nach Neuguinea unterwegs und entdeckte in der Javasee ein kleines treibendes Boot. Wir glaubten, es habe sich irgendwo losgerissen.«

Swann nickte. Er war ein kleiner, älterer Mann mit strenger Miene und dunklen Augen. »Dann sahen wir, was sich in dem Boot befand. Ich empfahl Captain Haas, es hierher zu schleppen.«

»Wir haben nichts angerührt«, setzte Haas hinzu, führte ein silbernes Kreuz an die Lippen und ließ es wieder sinken. »Das hätten wir auch gar nicht gewagt.«

Die beiden Männer geleiteten Stamford zum Ende des Piers, wo ein kleines Beiboot festgemacht war. Es war mit Segeltuch abgedeckt. Davor stand der Mann, der dem Captain den Brief mitgegeben hatte. Es war Thomas Otho Travers, Stamfords Adjutant und zuverlässiger Freund. Der dunkelhaarige Ire und ehemalige Soldat war kräftig gebaut, was durch die eng anliegende Jacke und die forsche Hose noch betont wurde. Bei ihm war ein Schotte gleichen Alters, den Raffles ebenfalls kannte, der berühmte Arzt Dr. John Crawfurd, Mitglied der Batavischen Gesellschaft.

Beide Männer schauten grimmig drein.

Stamford näherte sich den beiden. »Was gibt es? Was ist von solcher Dringlichkeit?«

Travers wandte sich zu dem zerbeulten Metallboot um. »Das Beiboot stammt von der Tenebrae

»Was? Woher wissen Sie das?«

Stamford hatte das Frachtschiff Tenebrae vor sechzehn Tagen entsandt, seitdem aber nichts mehr von ihm gehört. Man hatte angenommen, das Schiff sei von Piraten überfallen worden, da die Bugi-Flotte im Gefolge der Eruptionen das Gewässer unsicher machte wie Geier, die sich über Aas hermachten.

»Wir sind uns sicher, Sir«, sagte Travers und wandte sich an den Arzt. »Vielleicht sollten Sie es ihm zeigen, Doktor Crawfurd. Ich helfe Ihnen.«

Der junge Arzt war schwarz gekleidet, mit weißem Kragen, der ihm das Aussehen eines Priesters verlieh. Er näherte sich zusammen mit Travers dem Beiboot, und mit vereinten Kräften zogen sie die Plane zurück, die etwas Grausiges enthüllte.

Stamford wollte zurückweichen, doch Haas und der Chirurg standen dicht hinter ihm und hinderten ihn daran.

Zwei Tote lagen auf dem Boden des Boots, der eine doppelt so groß wie der andere. Beide waren geschwärzt und hatten kein Gesicht mehr. Ihre Körperoberfläche aber glänzte, als wäre sie aus dunklem Marmor geschnitten, mit leichten Unebenheiten der Haut. Der kleinere der beiden, offenbar noch ein Junge, lag zusammengekrümmt unter dem Arm des anderen. Sein verdrehter Hals und der gekrümmte Rücken kündeten von einem schmerzhaften Tod. Er hatte unter dem Arm keinen Trost gefunden. Trotzdem hatte der Mann ihm zu helfen versucht, obwohl er den gleichen qualvollen Tod erlitten hatte.

Noch seltsamer war, dass die beiden Körper nicht vollständig von dem Unheil betroffen waren. Das vom Jungen am weitesten entfernte Viertel des Mannes wies Blasen auf und war am Rand verbrannt, doch ansonsten weitgehend unversehrt. Ein Ohr und eine Wange leuchteten bläulich blass. Die Reste eines verbrannten weißen Hemds hafteten am Oberkörper, und ein Bein wirkte intakt, noch von einem dunklen Hosenbein und dem wadenhohen Stiefel bedeckt.

Das ergab keinen Sinn.

Raffles stellte die naheliegende Frage. »Wer waren die beiden?«

Doktor Crawfurd stieg behände ins Beiboot. Er zeigte auf den Arm, den der Mann um den Jungen gelegt hatte, dann auf die verkohlte Hand, an der noch ein Ring steckte. »In den Stein sind die initialen BG eingraviert.«

Stamford presste sich das parfümierte Tuch an den Mund. Er wusste, wer an Bord der Tenebrae gewesen war. »Johannes Stoepker, der Naturforscher.«

»Das glauben wir auch«, sagte Travers. »Der andere war vermutlich ein Schiffsjunge.«

»Was ist passiert? Das war kein Feuer. Es sieht eher so aus, als wären sie versteinert.«

Crawfurd richtete sich auf, was das Boot so stark zum Schaukeln brachte, dass Travers ihn stützen musste. »Wir wissen es nicht, Sir«, erklärte der Arzt. »Aber ich habe sie kurz untersucht. Ihr Gewebe ist tatsächlich petrifiziert. So hart wie Stein. Die Ursache konnte ich nicht bestimmen. Ich müsste die Toten in mein Labor in der Stadtapotheke schaffen, um sie gründlicher zu untersuchen.«

»Es gibt noch etwas, das Sie sehen sollten«, sagte Travers.

Der Adjutant stieg ins Boot und kniete neben Stoepkers anderem Arm nieder, mit dem er etwas an seine Brust drückte. In seinen versteinerten Fingern hielt er ein kleines Metallkästchen.

»Er wollte noch etwas anderes beschützen als den Jungen«, meinte Travers. »Wir haben mit dem Öffnen auf Sie gewartet.«

»Lässt sich das Kästchen lösen?«, fragte Stamford. »Mitsamt dem Inhalt?«

»Ich kann’s versuchen.«

Travers wickelte sich ein Taschentuch um die Hand und packte das Kästchen. Er versuchte, es hervorzuziehen, jedoch erfolglos. Selbst im Tod wollte Stoepker sein Geheimnis nicht preisgeben.

»Kräftiger ziehen, Mister Travers«, befahl Stamford.

»Ja, Sir.«

Travers stellte die Füße auseinander, dann bewegte er das Kästchen hin und her. Schließlich löste es sich mit lautem Knacken, und Travers taumelte gegen die Bordwand. Das Boot wäre beinahe gekentert, doch Crawfurd glich die Schwerpunktverlagerung an der anderen Seite aus.

Am Heck war ein Platschen zu hören.

Er zuckte zusammen. »Haben Sie den Gegenstand verloren?«

»Nein, Sir.« Travers hielt das Kästchen hoch. »Ich hab’s noch.«

Stamford schaute aufs Wasser. Die Überreste einer geschwärzten Hand, an der zwei Finger fehlten, trieben an die Oberfläche. Obwohl sie aussah wie versteinert, schwamm sie auf dem Wasser.

Was für eine Teufelei ist das nun wieder?

Travers kletterte auf den Pier und brachte ihm den Gegen­stand.

Stamford verschränkte die Arme, denn er hatte nicht vor, das verfluchte Ding anzufassen. »Machen Sie’s auf«, sagte er.

Travers entriegelte den Verschluss und klappte den Deckel hoch. Ein gefaltetes Papier fiel heraus und flatterte auf den Pier. Vermutlich eine Nachricht von Johannes Stoepker.

Stamford beugte sich vor. In dem Kasten war noch etwas anderes: ein länglicher Stein, der aussah wie ein Stück schwarzer Koralle.

»Was halten Sie davon?«, flüsterte Travers.

Stamford schüttelte den Kopf. Darauf konnte er sich keinen Reim machen.

Wozu hat Stoepker das Ding aufbewahrt?

Die Farbe und der Glanz des abgebrochenen Steins entsprachen der Beschaffenheit der Toten im Beiboot. Außerdem waren abgebrochene, trockene Korallen häufig leichter als Wasser.

Während er Stoepkers im Wasser treibende Hand betrachtete, ging ihm ein Licht auf.

Die beiden Toten waren nicht versteinert.

Sie hatten sich in Korallen verwandelt.