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18. Januar, 10:04 NCT
Fünfhundert Kilometer vor der Norfolkinsel (Australien)

Phoebe Reed schaute ehrfurchtsvoll zum versunkenen Garten Eden hinaus. Hinter den neun Fenstern aus Acrylglas erhellten die Scheinwerfer der Station die ewige Dunkelheit. Sie gaben rotes Licht ab, welches das Meeresleben kaum störte. Phoebe hatte eine lichtverstärkende Brille aufgesetzt, die an die Wellenlänge der Scheinwerfer angepasst war und ihr Sichtfeld erweiterte.

Selbst hier in über 3000 Metern Tiefe wimmelte es von Leben. Riesige Krabben mit roten Beinen kletterten über Korallen und suchten in Vertiefungen nach Nahrung. Geisterhafte weiße Scheibenbäuche glitten über den Sand hinweg. Ein Zigarrenhai – dessen Namen von seiner zylindrischen Form herrührte – schwamm vorbei, dunkel an der Oberseite, biolumineszierend an der Unterseite. Ein größerer Grauhai patrouillierte am Rand des Lichtscheins.

Neben ihr zeigte jemand darauf. »Grauhaie wurden in dieser Tiefe noch nie gesichtet.«

»Tatsächlich, Jazz?«, fragte Phoebe und sah ihre Dokto­randin an.

Jasleen Patel bedachte sie mit einem Seitenblick, weil Phoebe an ihrer Expertise zweifelte. Jazz hatte vor zwei Jahren ihren Master in Meeresbiologie gemacht und promovierte jetzt unter Phoebes Anleitung. Jazz hatte zunächst bei Phoebe studiert und dann als Lehrassistentin am Meereslabor der Caltech gearbeitet. Seit mehr als fünf Jahren arbeiteten sie zusammen. Ihre Beziehung war so eng, dass sie von vielen Kollegen PB &J genannt wurden.

Die meisten glaubten, sie hätten sich zusammengetan, weil sie beide farbig waren. Phoebe war in Barbados geboren, aber bei ihrer Mutter in South Central aufgewachsen, nachdem sie im Alter von acht Jahren mit ihr in die Staaten gekommen war. Jasleen, acht Jahre jünger als sie, war eine waschechte Kalifornierin, doch ihre Wurzeln lagen in Ostindien. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Mumbai und betrieb in der Bay Area von San Francisco eine Kette von chemischen Reinigungen.

Doch weder die Hautfarbe noch das Geschlecht hatten die beiden Frauen zusammengebracht. Zumindest hatten sie nicht den Ausschlag gegeben. Der eigentliche Grund war ihr Interesse an den Geheimnissen der Tiefsee. Und ihr Respekt voreinander.

»Es ist schwer zu glauben, dass in der lichtlosen bathypelagischen Zone überhaupt etwas lebt«, sagte Jazz und legte die flache Hand aufs Glas. »Der Druck da draußen beträgt etwa 300 Kilogramm pro Quadratzentimeter.«

»Das ist wirklich aufregend. Das Leben hat hier nicht nur Fuß gefasst, es hat auch eine große Artenvielfalt hervorgebracht.«

Sie schauten beide in das Wunderland hinter dem Fenster hinaus.

Zwei Seeteufel schwenkten ihre langen Antennen mit den leuchtenden Ködern. Teuthidodrilus wanden sich am Boden und fraßen den Meeresschnee, der von den sonnenerhellten Bereichen herabfiel und Nahrung in die pechschwarze Tiefe brachte. Jeder Blick enthüllte weitere Wunder: Schulen von Viperfischen, zwei Vampirkalmare, einen Dumbo-Oktopus. Etwas weiter weg krochen kleine weiße Hummer in einer roten Seeanemone umher.

»Hast du schon die Korallenbänke ausgewählt, von denen du die ersten Proben nehmen möchtest?«, fragte Jazz und sah auf ihre Taucheruhr. »Die erste Nutzungsperiode für das ROV beginnt in neunzig Minuten.«

»Ich hab schon ein paar Kandidaten, aber ich würde die Stationsfenster in dieser Höhe und vielleicht auch auf der nächsthöheren Ebene gern noch einmal komplett umfahren.«

»Vertrödele nicht die Zeit«, meinte Jazz. »Wir sind nicht die Einzigen, die nach ROV -Zeit lechzen. Es gibt hier unten eine Menge Konkurrenten.«

»Und weiter oben auch.«

Tausende Forscher, Akademiker und Wissenschaftler hatten sich für diese große Unternehmung beworben, doch nur 300 waren für den Start des Titan -Projekts ausgewählt worden. Diese 300 Personen waren jetzt über drei Bereiche verteilt.

Die Hälfte der Forscher befand sich über Wasser in der Titan X , einer 300 Meter langen Gigajacht mit einem dreizehn Stockwerke hohen Kugelaufbau am Heck. In der Kugel waren 22 hochmoderne Laboratorien untergebracht. Das Schiff versorgte die Station, verfügte jedoch auch über einen Flüssigsalzreaktor, der es ihm ermöglichte, überall auf der Welt Forschung zu betreiben.

Die Überwasserstation der Titan war nach dem Prinzip der FPSO -Schiffe aufgebaut, den Schwimmenden Produktions- und Lagereinheiten, die bei Ölplattformen eingesetzt wurden. Sie diente als Anlaufstelle, Arbeitsplattform und der Versorgung. Auch die zwei Dutzend Unterwasserfahrzeuge der Station – ferngesteuerte Tauchroboter (ROV s) und bemannte U-Boote (HOV s) – waren hier untergebracht.

In den vergangenen zwei Wochen hatten die hochspezialisierten HOV s Forscher und Besatzungsmitglieder in die drei Kilometer tiefer gelegene Unterwasserstation der Titan gebracht. Einige bezeichneten die umgedrehte Pyramide der Station als »teuersten Spielzeugkreisel der Welt«.

Auch Phoebe hatte vor zwei Tagen bei der Anfahrt gestaunt. Die oberste Ebene der Station mit ihrer Beobachtungskuppel sah aus wie ein Ufo von hundert Metern Durchmesser. Die vier darunter befindlichen Ebenen waren ebenfalls kreisförmig, doch ihr Durchmesser nahm nach unten hin ab, weshalb der Eindruck eines Kreisels entstand. Die unterste Ebene, auf der sie sich befand, hatte einen Durchmesser von lediglich zwanzig Metern. Labore gab es keine, nur einen Ring aus polarisierendem schwarzem Glas, weshalb auch hier Beobachtungen durchgeführt wurden.

Wie die Plattform und das Schiff schwamm auch die ganze Station über dem Meeresgrund. Die Position wurde von Ballasttanks und Schubdüsen an jeder Ebene stabilisiert. Die einzigen Berührungspunkte mit dem fragilen Ökosystem der Tiefsee waren mehrere Anker, welche die Station fixierten.

Um den Forschern und Arbeitern den Wechsel zwischen den drei Zonen zu erleichtern, herrschte überall in der Unterwasserstation der gleiche Druck, was eine Anpassung oder Dekompression unnötig machte. Der Personenverkehr mittels U-Booten erfolgte über ein Schleusensystem, das dem der Internationalen Raumstation ähnelte – die Tiefsee war für Menschen schließlich ebenso lebensfeindlich und gefährlich wie das Vakuum des Weltraums.

Doch daran gewöhnte man sich schnell. Phoebe und Jazz erkundeten die himmelblauen Gänge ebenso ehrfurchtsvoll und neugierig wie die meisten anderen Forscher. Hinter ihnen lagen wochenlange Vorbereitungen, angefüllt mit Vorträgen und Sicherheitstraining. Ihrem Staunen tat dies keinen Abbruch.

»Pheebs, schau du dich weiter hier unten um«, sagte Jazz. »Ich gehe hoch und sehe mir mal unser ROV -Terminal an. Ich möchte sicherstellen, dass die beiden MIT -Leute uns nicht die Zeit stehlen.«

»Tu das. Mach ihnen ordentlich Dampf.«

Phoebe lächelte, während Jazz zu der Wendeltreppe ging, die nach oben führte. Jasleen war nur eins fünfzig groß und hatte einen dunklen Kurzhaarschnitt, doch wenn es um ihren Arbeitsbereich und den Zeitplan ging, verwandelte sie sich in einen Pitbull.

Da sie wusste, dass Jazz auch sie für Verzögerungen verantwortlich machen würde, setzte Phoebe ihre Umkreisung fort. Diesmal konzentrierte sie sich weniger auf das wimmelnde Meeresleben, das umherschwamm, umherkroch oder durch die Riffs flitzte, sondern mehr auf die Eigenschaften des Geländes.

Das Thema ihrer Doktorarbeit war die einzigartige Biologie der Tiefseekorallen. Die meisten Menschen kannten vom Schnorcheln her die oberflächennahen Korallen, deren Polypen von fotosynthetisierenden Algen mit Energie versorgt wurden. Ihr Interesse galt jedoch den Korallen, die unterhalb der sonnenerhellten Zone lebten. Über die Tiefseekorallen war nur wenig bekannt. Im kalten Wasser und bei hohem Druck reiften sie nur langsam und waren unglaublich langlebig – manche Schätzungen reichten bis zu 5000 Jahren.

Da sie im Dunkeln lebten, ernährten sie sich von Mikroorganismen – von Zooplankton und Phytoplankton – sowie von bestimmten organischen Zersetzungsprodukten von Pflanzen und Tieren. Sie bildeten wunderschöne, fragile verzweigte Strukturen aus, die Nahrung und Sauerstoff aus dem Wasser filterten. Tiefseekorallen ähnelten deshalb gefiederten, fächerartigen Wäldern.

Hier trifft das jedenfalls zu.

Die Masse der Korallen hinter dem Fenster war erstaunlich. Sie glichen eher einem fluoreszierenden Dschungel als einem Wald. Riesenfächerkorallen ragten teilweise mehr als zehn Meter empor. Sie leuchteten gelb, rosa, blau und purpurfarben. Darunter waren Hornkorallen und Tiefseegorgonien gemischt. Anderswo standen tiefschwarze, dick verzweigte Korallenbäume, die wie versteinerte meterhohe Kiefern wirkten. Die großen, buschartigen elfenbeinfarbenen Lophelia füllten Zwischenräume aus und säumten die Ränder.

Einen Moment lang schüchterte die gewaltige Aufgabe, diese Vielfalt zu erforschen, sie ein, doch dann holte sie tief Luft und dachte an das chinesische Sprichwort, das ihre Mutter nach ihrer Ankunft in den Staaten häufig zitiert hatte, wenn Phoebe sich überfordert fühlte.

Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzelnen Schritt.

Langsam atmete sie aus.

Ich schaffe das.

11:08

Vierzig Minuten später schloss Phoebe den zweiten Rundgang auf der Thetys-Ebene ab. Dabei war sie mehrfach Gruppen von Kollegen begegnet, die sich in den unterschiedlichsten Sprachen halblaut unterhielten. Sie hatte ein Tablet dabei, das eine Karte der umliegenden Riffs anzeigte. Fünfzehn Orte hatte sie markiert – drei Mal so viele, wie sie bei ihrem ersten ROV -Ausflug bewältigen konnten.

Ich muss mich auf fünf oder sechs Orte beschränken.

Das frustrierte sie, doch sie würden später noch genügend Zeit haben, Proben zu nehmen. Sie hatte vor, das Suchraster in den nächsten Monaten zu vergrößern. Die erste Woche diente der Akklimatisierung. Sie mussten die Technik der Probennahme einüben und lernen, die Labors an Bord bestmöglich zu nutzen. Anschließend konnte sie die Suche ausweiten. Für den nächsten Dienstag hatte sie bereits ein HOV gebucht, mit dem sie weiter entfernte Orte erkunden wollte.

Wie aufs Stichwort glitt ein knallgelbes U-Boot mit einer großen Beobachtungskuppel am Bug vorbei. Darin machte sie trotz der blendenden Scheinwerfer verschwommene Gestalten aus.

Sie legte die flache Hand aufs Fenster und beobachtete sehnsüchtig, wie das U-Boot in der Dunkelheit verschwand, ein langsam erlöschender Stern.

Ein Mann sprach sie an und ließ sie zusammenschrecken. »Was halten Sie von alldem, Dr. Reed?« Ganz auf die Aussicht konzentriert, hatte sie ihn nicht kommen hören. Sie wandte sich um und erblickte zu ihrer Überraschung William Byrd, den CEO von ESKY und Hauptfinanzier des Titan -Projekts. Der fünfzigjährige Australier hatte sein Vermögen mit dem Schiffsbau gemacht – hauptsächlich mit Containerschiffen und Frachtern, aber auch mit Schiffen für die australische Marine. Seine Firma dominierte den internationalen Handel und war mehr als siebzig Milliarden Dollar wert. Trotzdem trug er einen schlichten marineblauen Pullover und eine Kappe mit Dreizacksymbol, die offizielle Stationsuniform. Allein die Taschenuhr aus massivem Gold, die an einer Brustkette hing, kündete von seinem Reichtum.

Phoebe nahm die Brille ab und suchte nach Worten. Schließlich zeigte sie nach draußen und vergegenwärtigte sich ihren ersten Eindruck. »Mister Byrd … Sie … lagen ganz richtig, als Sie die Tiefsee als Garten Eden bezeichnet haben. Die Umgebung ist wirklich sensationell.«

»Ah, Sie haben sich meine Pressekonferenz von vergangener Woche angehört?«

Er grinste, was ihn noch jungenhafter erscheinen ließ. Seine Bräune stammte offenbar nicht von der Sonnenbank. Mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem dichten blonden, von entweder ausgebleichten oder altersbedingt weiß gewordenen Strähnen durchsetzten Haar wirkte er wie ein wilder Seemann.

»Die hat sich wohl niemand entgehen lassen«, sagte sie. »Bezos, Branson und Musk mögen mir verzeihen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Geschieht ihnen recht. Warum milliardenteure Raketen in den Weltraum jagen, wenn es auf der Erde noch so viele Geheimnisse gibt? Besonders im Meer. Bislang wurden nur zwanzig Prozent des Meeresbodens kartografiert. Und selbst diese Karten sind ungenau. Die erforderliche Auflösung, um zum Beispiel Flugzeugwracks erkennen zu können, wird nur bei null Komma fünf Prozent der Fläche erreicht. Somit kann praktisch der ganze Meeresboden als unerforscht gelten.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Phoebe.

Byrd nickte betrübt. »Das ist eine große Herausforderung. Die Zukunft der Menschheit liegt nicht auf dem Mars, sondern auf den 99 Prozent unbekannten Meeresbodens. Es ist gefährlich, dies zu vernachlässigen. Die Meere sind unser Brotkorb, unsere Spielwiese und unsere Apotheke. Vor allem aber sind sie die Lunge unseres Planeten. Sie produzieren achtzig Prozent des Sauerstoffs und binden 25 Prozent des Kohlendioxids. Wenn auch nur ein Viertel der Weltmeere stirbt, bedeutet dies das Ende des Lebens auf der Erde.«

Phoebe nickte. Seine Worte hatten ihr die Bedeutung des Titan -Projekts erneut bewusst gemacht. Finanziert wurde es von mehreren gemeinnützigen Organisationen und Firmensponsoren sowie mit Forschungsstipendien, doch der Löwenanteil stammte von dem Mann, der vor ihr stand. Vielleicht wollte er etwas zurückgeben, nachdem er Milliarden mit den Tausenden Frachtschiffen erwirtschaftet hatte, welche die Weltmeere durchpflügten. Jedenfalls engagierte er sich. Seine Firma hatte zehn Milliarden Dollar zur Titan -Station beigesteuert und sichergestellt, dass der Bau in erstaunlich kurzer Zeit abgeschlossen werden konnte.

Und ich bin mit dabei.

Doch der Milliardär fesselte nicht Phoebes ganze Aufmerksamkeit. Sie blickte über seine Schultern hinweg zu den Fenstern, wo ein Cuvier-Schnabelwal an den Korallen vorbeizog, als beobachte er sie ebenso neugierig wie sie die Umgebung. Diese Wale waren Tiefseetaucher und konnten stundenlang die Luft anhalten.

Byrd bemerkte, dass sie abgelenkt war, was sein freundliches Grinsen vertiefte. Er wandte sich um und schaute ebenfalls nach draußen.

»Das ist wahrhaft ein Garten Eden«, sagte er. »Hoffen wir, dass wir nicht so schnell daraus vertrieben werden, weil wir nach Erkenntnis suchen wie Eva. Wir müssen noch viel lernen. Und es liegt eine Menge Arbeit vor uns.«

»Das ist keine Arbeit, glauben Sie mir. Es ist eine Ehre, hier am Rand des Korallenmeeres zu sein. Aufregende Entdeckungen kommen auf uns zu, und ich kann es gar nicht erwarten loszulegen.«

Inzwischen hatten sich die anderen Anwesenden ihnen zugewandt. William Byrd sprach nur selten mit den Forschern. Während ihrer wochenlangen Ausbildung an Bord der Titan X hatte Phoebe den Milliardär nur einige Male gesehen, entweder an Deck der Jacht oder wenn er mit seiner Entourage auf einer wissenschaftlichen Veranstaltung auftrat. Im Moment wurde er lediglich von einem ernst blickenden Bodyguard begleitet. Einem hoch gewachsenen Aborigine, der die Hand auf den Griff des Schlagstocks an seiner Hüfte gelegt hatte.

»Ihr Enthusiasmus ist eine Inspiration für mich, Dr. Reed«, sagte Byrd, den Blick noch immer nach draußen gerichtet.

»Danke«, stammelte Phoebe, überrascht davon, dass der Mann ihren Namen kannte.

Andererseits war sie eines der wenigen schwarzen Gesichter an Bord der Titan -Station und, soweit sie wusste, die einzige schwarze Frau . Sie hoffte, dass nicht dies der Grund war, weshalb er sie kannte – oder ihre Körpergröße, mit der sie die meisten überragte.

Die Titan -Station war ein internationales Projekt, doch die meisten Mitarbeiter waren weiß und männlich. Einige stammten aus Asien, einige wenige aus der Türkei, Pakistan und dem Mittleren Osten. Das Verhältnis von Männern zu Frauen betrug zwanzig zu eins. Das aber rührte nicht unbedingt von Vorurteilen her, sondern war eher Folge der geringen Anzahl von Wissenschaftlerinnen.

Zumindest hoffe ich das.

Byrd wandte sich vom Fenster ab und sah sie an. »Ich freue mich darauf, Ihre Gedanken zum Zustand unserer Riffs zu erfahren, Dr. Reed. Ich hoffe, wir finden eine Möglichkeit, die Zerstörung der Korallen aufzuhalten, denen dieses Meer seinen Namen verdankt.«

Sie vermutete, dass sie aus ebendiesem Grund für das Projekt ausgewählt worden war. Tiefseekorallen waren besonders resistent gegen die wärmeinduzierte Korallenbleiche an der Meeresoberfläche, ein Phänomen, welches das Great Barrier Reef bedrohte. Die Tiefseekorallen wider­standen dem Umweltwandel weit besser. Den genauen Grund kannte man nicht. Fände man die Ursache, könnte dies für die vielen Korallenriffs der Welt die Rettung bedeuten.

»Ich habe Ihre Forschungsarbeiten vom Monterey Bay Aquarium Research Institute gelesen«, fuhr Byrd fort. »Die mit Bezug zur Resilienzökologie des Sur Ridge an der kalifornischen Küste. Deshalb setze ich große Hoffnungen auf Ihre Arbeit hier vor Ort.«

Sie versuchte, ihre Überraschung zu verbergen. Er hat meine Artikel gelesen. Dann hatte das Interesse dieses Mannes vielleicht wirklich nichts mit ihrer Hautfarbe oder ihrer Körpergröße zu tun.

Sie straffte sich. »Ich werde mein Bestes tun.«

»Daran habe ich keinen Zweifel.« Byrd seufzte vernehmlich. »Ich lasse Sie jetzt allein, denn Sie müssen sich noch akklimatisieren, Dr. Reed. Aber ich freue mich auf weitere Gespräche.«

Bevor er sich der Treppe in der Mitte des Raums zuwenden konnte, war ein leises Grollen zu hören. Draußen schwankten die Ankerseile, doch die fünf Ebenen der Unter­wasserstation bewegten sich kaum, da die computergesteuerten Schubdüsen das Beben kompensierten.

Die anderen Wissenschaftler wichen von den Fenstern zurück.

Byrds Bodyguard streckte die Hand nach seinem Schützling aus.

Der Aussie aber hob den Arm und wandte sich an die Allgemeinheit. »Nur ein kleines Seebeben! Kein Grund zur Besorgnis. Wir befinden uns in einer tektonisch aktiven Region. Das ist das sechzehnte … nein, das siebzehnte Seebeben seit Beginn des Projekts. Das war zu erwarten und wurde bei der Konstruktion der Titan auch ­berücksichtigt.«

Als das Beben nachließ, näherte Phoebe sich als Einzige wieder dem Fenster und schaute hinaus. Die Meeresbewohner wirkten ebenso unbeeindruckt vom Beben wie Byrd. Der aufgewirbelte Sand begann sich bereits abzusetzen.

Sie legte die flache Hand aufs Glas und spürte die Vib­ration der Stabilisierungsdüsen, nichts sonst. Sie blickte in die Dunkelheit jenseits des roten Lichtscheins hinaus, in Richtung des Epizentrums des Bebens. Dort fiel der Meeresboden steil zu einem Labyrinth tiefer Einschnitte ab, dem Solomongraben, dem Neuhebridengraben und weiter weg dem Kermadec-Tonga-Graben. Sie säumten die Bruchstelle, an der sich die Pazifische an der Indisch-Australischen Platte rieb.

Der Marianengraben war zwar bekannter, weil er der tiefste war, doch der Unterschied zu dieser Kette betrug nur tausend Meter. Trotzdem waren diese Gräben von der Forschungsgemeinde bislang vernachlässigt worden.

Das wird sich jetzt hoffentlich ändern.

Die Nähe zu den Gräben und der Bezug zu ihrer Forschungsarbeit waren mit ein Grund dafür gewesen, dass sie am Titan -Projekt mitarbeiten wollte. Tiefseekorallen waren bis zu einer Tiefe von drei Kilometern gut dokumentiert. Niemand aber wusste, ob es sie auch in größerer Tiefe gab und wenn ja, wie sie aussahen und überlebten. Die Antwort darauf war in den labyrinthischen Gräben zu finden.

Sie blickte sich zu William Byrd um, der von drei Forschern aufgehalten wurde. Offenbar versuchte er, sie zu beruhigen, denn er sprach gerade über die umfangreichen Tests, denen man die Station unterzogen hatte.

Sie hingegen dachte an seine Bemerkung, dass 99 Prozent des Meeresbodens unerforscht seien. Irgendwo hier draußen musste es auch tiefer lebende Korallen geben.

Sie schaute wieder aus dem Fenster.

Und ich werde sie finden.

Mit der flachen Hand am Glas nahm sie eine Vibration wahr, die sich in ihren Arm fortpflanzte. Draußen erzitterte der Meeresboden. Sand wurde hochgewirbelt, der Meereswald schwankte. Mit zuckenden Flossen flitzten die Fische davon. Die Krabben unterbrachen ihren Beutezug und ließen tintiges Wasser hinter sich zurück.

Ihre Augen weiteten sich, der Warnruf blieb ihr im Halse stecken. Bevor sie ausatmen konnte, buckelte der Meeresboden unter der Station. Die Ankerseile schwangen umher. Zwei davon rissen. Sie hörte, wie weiter oben Brandschutztüren zufielen, welche die Ebenen voneinander isolierten. Während die Station schwankte und bebte, lösten sich auch die restlichen Ankerseile aus ihrer Befestigung an der schwimmenden Station.

Die Titan -Station drehte sich langsam – bis die Schubdüsen ihre Lage stabilisierten.

Phoebe schaute sich um. Mehrere Forscher waren gestürzt. William Byrd war noch auf den Beinen, vermutlich wegen des festen Griffs seines Bodyguards.

Das Lachen des Aussies klang gezwungen. »Das war ganz schön heftig, aber wie Sie sehen, haben wir selbst dieses starke Beben unbeschadet überstanden.«

Seufzend öffneten sich die Brandschutztüren, welche die Etagen voneinander isolierten. Ein Entwarnungssignal ertönte.

»Wie gesagt«, versicherte Byrd mit breitem Lächeln, »kein Grund zur Besorgnis.«

Sein Grinsen aber wirkte weit weniger selbstsicher als zuvor.

Phoebe schaute aus dem Fenster. Der Meeresboden beruhigte sich. Der Sand setzte sich ab, und das weitgehend unbeschädigte Riff kam zum Vorschein. Zwei größere Korallenbäume waren entzweigebrochen. Das war anscheinend schon alles.

Trotzdem wartete sie und beobachtete weiterhin aufmerksam die Umgebung.

Nach fünf Minuten wurde sie von kalter Furcht erfasst. Die schwimmenden Meeresbewohner waren nicht zurückgekehrt. Offenbar mieden sie das Gebiet.

Auf einmal machte sie sich Sorgen.

Sollten wir das Gleiche tun?